Maxi (LIBREAS): Wir führen heute ein Interview mit Jin Tan durch. Er hat seine Diplomarbeit an der Fachhochschule Potsdam zum Thema Second Life und Bibliotheken geschrieben (Bibliotheken in Second Life. Diplomarbeit am Fachbereich Informationswissenschaften an der Fachhochschule Potsdam bei E-LIS).
Jin, zunächst eine ganz grundlegende Frage: Was ist Second Life (SL) (Second Life)?
Jin: Ich definiere Second Life als einen virtuellen Raum oder eine virtuelle Welt, in der man mittels eines so genannten Avatars mit den Avataren anderer Leute kommunizieren kann. Ein Avatar ist eine virtuelle Figur, die man im virtuellen Raum relativ frei kreieren und steuern kann. So ist es möglich, die eigene Körpergröße oder das Gesicht zu gestalten und darüber hinaus selbst auf eigenen Grundstücken eigene Objekte - also virtuelle Häuser u. ä. - aufzubauen. Momentan entwickelt die Betreiberfirma von SL, Linden Lab, eine neue Funktion, die es möglich macht, auch über ein Mikrofon direkt miteinander zu sprechen.
Eine weitere Besonderheit an SL ist, dass man dort handeln kann. Ich kreiere z.B. ein virtuelles Objekt, das ich an einen anderen Avatar - bzw. den diesen steuernden Menschen - weiterverkaufen kann. Dazu wird die virtuelle Währung Linden Dollar benutzt. Der Kurs zwischen Linden Dollar und realem Dollar ist ungefähr 1:200.
Maxi: Kann man sagen, dass SL ein Computerspiel
ist?
Jin: Das ist eine gute Frage. In letzter Zeit wird sehr viel in dieser Richtung berichtet. Man meint, dass SL ein Spiel sei oder auch, dass sich bei SL alles um Pornographie dreht.
Ich denke, dass SL kein Spiel ist. Es ist eine virtuelle Welt. Ein "Spiel" können wir genau definieren: Beim Spiel gibt es ein bestimmtes Ziel, dass es zu erreichen gilt. Wenn wir zum Beispiel Karten spielen, dann wollen wir gegen jemanden gewinnen. Ein anderes Beispiel: Bei dem sehr populären Onlinespiel World of Warcraft [World
of Warcraft Community Site], das man als ein typisches Onlinespiel bezeichnen kann, kämpft man zusammen mit anderen Spielern, um eine höhere Stufe zu erreichen.
Ich definiere Spiel über das Ziel, etwas zu gewinnen. Die Ziele in Second Life gehen darüber hinaus: Ich kann z. B. mit jemandem chatten oder ich kann ein Objekt bauen, ich kann handeln - es gibt dort diverse Handlungsmöglichkeiten, die ich nicht als "Spiel" definiere. Ein anderes Thema ist die Pornographie. Sicher gibt es in SL viel Pornographie, aber es ist nur eine Facette. Man findet auch viel Pornographie im Internet, aber niemand würde das Internet über Pornographie definieren.
Boris (LIBREAS):Ich habe den Eindruck, dass SL auch viel unter dem wirtschaftlichen Aspekt betrachtet wird. So wird z. B. gesagt, dass sich dort eine neue Marktwirtschaft herausbildet usw. Du hast angedeutet, dass dort vor allem Objekte verkauft werden, die in SL direkt kreiert werden. Was wäre denn noch ein Aspekt dieser Marktwirtschaft? Wenn es nur diese virtuellen Objekte sind, dann finde ich das ein bisschen wenig.
Jin: Unabhängig davon, ob dies nun tatsächlich eine neue Marktwirtschaft bedeutet, sehe ich den Aspekt des Marktes als ganz zentralen. Hier bieten sich zahlreiche Entwicklungsmöglichkeiten, übrigens auch für Bibliotheken, die hier als Dienstleister neue Kunden gewinnen können.
Boris: Du meinst also, dass es sinnvoll wäre, die wirtschaftliche Komponente stärker auszubauen und virtuelle Einkaufs- und Erlebniskomplexe zu entwickeln, die SL für mehr Menschen attraktiv machen und somit zu höheren Nutzerzahlen und entsprechenden Netzwerkeffekten führen, also dass Nutzen und Bedeutung der Plattform mit der Teilnehmerzahl wachsen.
Jin: Richtig. Und je mehr Leute direkt als Marktakteure handeln, desto größer ist der Informationsbedarf. Dies ist etwas, womit sich die Bibliotheken in SL einbringen können.
Boris: An diesem Punkt möchte ich noch einmal nachhaken: Welche Art von Dienstleistungen kann eine Bibliothek in SL anbieten?
Jin: Ich habe mir verschiedene Bibliotheken in SL angeschaut und die unterschiedlichen Dienste in meiner Arbeit aufgelistet.
Es gibt das ganz typische Beispiel: Die Bibliothek hat ein eigenes Gebäude, in dem sie verschiedene Computer oder Bildschirme als Schaltflächen aufstellt, hinter denen sich ein Link, der auf das Bibliotheksangebot im Internet hinweist, verbirgt.
Eine andere Möglichkeit ist, dass sehr viele Bibliotheken Teile von Bestsellern scannen und die Titelblätter und ein paar Seiten aus dem Buch zum Hineinlesen anbieten. Der Avatar kann sich die Bände aus dem virtuellen Regal nehmen und in ihnen herumblättern.
Eine dritte Möglichkeit greift auf die RSS-Feeds in SL zurück, mit denen man Nachrichten der Bibliotheken oder neue Nachrichten aus der ganzen Welt an die Bibliothekbenutzer liefert. Diese kann man dann z. B. über eine Nachrichtentafel in der Bibliothek anzeigen lassen.
Ähnlich können Bibliotheken über eine virtuelle Leinwand in dem virtuellen Bibliotheksgebäude Videos oder Fotos als so genannte Streaming Media laufen lassen. Anwendung findet dies z. B. bereits jetzt in virtuellen Ausstellungen. Es gibt z. B. eine schöne Präsentation in einem virtuellen Van Gogh Museum [vgl. auch hier],in welchem nicht nur die Bilder von van Gogh zweidimensional "an die Wand hängend" betrachtet werden, sondern in dem es möglich ist, die Gemälde dreidimensional zu erfahren, indem man seinen Avatar in das Bild hineingehen lassen kann. Das ist schon sehr faszinierend.
Ein ganz wichtiges Angebot der virtuellen Bibliothek ist der Auskunftsdienst. Dessen Entsprechung in Second Life zeigt sich darin, dass Avatare als virtuelle Bibliothekare mit anderen Avataren über diese Plattform kommunizieren. Die Bibliothek kann so Schulungen oder andere Veranstaltungen anbieten. So versammeln sich beispielsweise Bibliothekare aus aller Welt zu einer Art virtuellen Konferenz, auf der sie sich mittels ihrer Avatare über die Möglichkeiten für Bibliotheken in Second Life austauschen.
Was in der Zukunft kommen wird und für mich einen sehr wichtigen Baustein darstellt, ist der so genannte User Generated Content. Dabei könnten z. B. die Bibliotheksnutzer im virtuellen Bibliotheksraum bestimmte Objekte gestalten. So könnte man z. B. in einer Kinderbibliothek, nachdem vielleicht ein Märchen vorgelesen wurde, die Märchenwelt mit den Kindern nachbauen. Hier liegt das Potential virtueller Welten: Man kann beinahe beliebig Fantasieräume gestalten. Hierin sehe ich das Potential von Second Life.
Maxi: Jin, du hast uns gerade sehr schön die Möglichkeiten für die Zusammenarbeit zwischen Bibliothek und Nutzern erläutert. Wäre es nicht viel mehr die Aufgabe von Bibliotheksmitarbeitern auch in der realen Bibliothek, diese Idee aufzugreifen?
Jin: Viele Dank für die Frage! Sie bezieht sich auf das Mediennutzungsverhalten und wie es sich verändert.
Wenn wir die Mediennutzung unserer Kunden, den Bibliotheksnutzern, betrachten und ansehen wie viele Bücher sie täglich lesen und wie viel Zeit sie im Internet verbringen, können wir leicht feststellen, dass die Bibliotheksnutzer momentan sehr intensiv digitale Medien nutzen und dies selbstverständlich nicht nur in der Bibliothek, sondern auch zu Hause. In die Bibliothek gehen dagegen immer weniger Nutzer. Dies wird z.B. in der Studie JIM „Jugend, Information und Medien“ aus dem Jahre 2006 deutlich. In dieser Studie wird dargestellt, dass die heutige Generation der Jugendlichen im großen Umfang Internetmedien benutzt, dafür jedoch weniger Printmedien in die Hand nimmt.
Es ist natürlich nicht falsch, wenn Bibliothekare diese in der realen Welt für ihre Bibliotheksnutzer zugänglich macht. Andererseits entsteht in der digitalen Welt langsam ein Informationsbedarf, den man beispielsweise über Second Life erfüllen kann. Bibliothekare sollen deswegen zwar nicht auf die reale Arbeit verzichten, sie müssen aber parallel sowohl im realen wie auch dem virtuellen Raum den Informationsbedarf der Bibliotheksnutzer befriedigen.
Maxi: Ich finde den Ansatz, nicht vom Bibliotheksmitarbeiter auszugehen, der seine Zeit in Second Life verbringt oder nicht, sondern vom Informationsbedarf des Nutzers, der sich in steigendem Maße im virtuellen Raum bewegt sehr interessant. Aber wie realisiert man dies praktisch, d.h. sollte dann jede Bibliothek einen Mitarbeiter haben, der sich vielleicht nur in Second Life bewegt?
Jin: Die Integration in den Arbeitsalltag einer Bibliothek erweist sich momentan noch als sehr schwierig. In einer Mailingliste für Bibliothekare, die sich für Second Life interessieren, habe ich bemerkt, dass die meisten Bibliothekare, die beruflich mit Second Life arbeiten, sich auch in ihrer Freizeit gern dort aufhalten. Ich sehe durchaus Schwierigkeiten, dass die Leitungsebene der Bibliotheken zu akzeptieren bereit ist, dass die Arbeit im virtuellen Raum einen Teil der "richtigen" Bibliotheksarbeit darstellt.
Boris: Wir hatten ja zusammen im Frühjahr für LIBREAS einen Artikel [Das Beste aus beiden Welten..] geschrieben, in dem wir feststellten, dass Bibliotheken eigentlich zu sehr in einer Portalsmentalität denken, und also erwarten, dass die Nutzer und Kunden zu ihnen - in das Portal - kommen. Ich habe jetzt so ein bisschen die Befürchtung, dass die Bibliotheken jetzt auch anfangen, jede für sich, in Second Life eigene Bibliotheksräume zu bauen und dann frage ich mich, ob dies wirklich sinnvoll ist oder ob nicht kooperative Ansätze fruchtbarer wären. Gibt es so etwas bereits?
Jin: Sehr gute Frage. Es gibt durchaus bereits einige derartige SL-Projekte in den USA und vereinzelt auch in Europa, z.B. in Holland: Die Bibliotheken arbeiten sehr viel zusammen, was sie übrigens auch in der realen Welt tun. In Bezug auf Second Life ist es sicher wichtig, dass sich die Bibliotheken zusammenfinden, nicht zuletzt, weil darin eine Kostenersparung liegt. So hat z. B. die ALA für ein Projekt eine Insel gebaut und Gebäude erworben, also Orte, auf der und in denen sich die einzelnen konkreten Bibliotheken in Second Life niederlassen und eigene kleine Bibliotheken aufbauen können.
In der Regel agieren die Avatare der Bibliothekare in Second Life als Auskunftsbibliothekare. Wenn man sich dabei überlegt, dass alle Bibliotheken ihre eigenen Räume aufbauen, unterhalten und immer auch jemanden für Auskunftsdienste einstellen, so erweist sich dies als kostenintensiv.
Auf der anderen Seite treffen sich die Bibliotheken in Second Life idealerweise an einem Ort und können sich über ihre Erfahrungen mit Second Life unterhalten.
Boris: Jetzt muss man sich so eine Bibliothek in SL aber auch anders vorstellen als eine reale Bibliothek. So wie ich dich verstanden habe, wird also aus der Bibliothek in SL wieder ins World Wide Web verlinkt. Also sind da gar keine großen Bestände im Spiel in Second Life?
Jin: Doch, durchaus. Bisher definieren wir Bestand aus der Perspektive der realen Bibliothek, d. h. überwiegend als Medien wie Bücher, Zeitschriften oder andere Medien. In Second Life ist dies etwas anders. Dort verstehe ich unter Bestand "Kommunikation". So kann man Auskunftsdienstleistungen anbieten, verschiedene Veranstaltungen durchführen, die Bibliotheksnutzer können sich über ihre Erfahrungen austauschen oder sich über ein bestimmtes Thema unterhalten. Das ist durchaus als ein Angebot der Bibliothek zu sehen.
Maxi: Dies bedeutet also, dass die Bibliotheken in Second Life nicht um ihren Erwerbungsetat kämpfen müssen?
Jin: Genau. Dem gegenüber stehen jedoch hohe Personalkosten. Die Bibliothekare müssen sehr viel Zeit in Second Life verbringen und z.B. bestimmte Objekte ständig aktualisieren sowie ein intensives Marketing betreiben – in Second Life oder auch in der realen Welt.
Maxi: Wie viele deutsche Bibliotheken gibt es in Second Life?
Jin: Momentan gibt es, soweit ich weiß, noch keine Bibliothek aus Deutschland oder generell aus dem deutschsprachigen Raum, die in Second Life aktiv geworden ist. In Europa ist die Bibliothek die Medizinische Bibliothek aus Groningen (vgl. auch hier) die erste. Mittlerweile, d. h. seit ein paar Monaten, gibt es mit der Stadtbibliothek von Amsterdam eine erste öffentliche Bibliothek in Second Life (vgl. auch hier).
Maxi: Worin kann man die Ursachen für die zurückhaltende Nutzung von Second Life durch die deutschen Bibliotheken sehen? Kann es sein, dass die generelle Nutzung und der allgemeine Bekanntheitsgrad von SL im deutschsprachigen Raum noch nicht allzu groß sind?
Jin: Im Gegenteil. Second Life ist in Deutschland schon sehr populär im Vergleich mit anderen Ländern. Laut Statistik beträgt der Anteil der Nutzer aus Deutschland an der Gesamtzahl der SL-Mitglieder 13 Prozent. Das lässt den Rückschluss auf einen hohen Informationsbedarf in Deutschland in Bezug auf Second Life zu. Persönlich erscheint es mir schon sehr dringend, dass sich auch deutsche Bibliotheken in Second Life befinden.
Boris: Hast du jetzt noch ein paar Tipps für Bibliotheken, wie sie am Besten in Second Life tätig werden können?
Jin: Ja, das ist schon eine ganz interessante Frage und noch bis vor einem Jahr gab es so einen großen Hype in Second Life, dass viele Unternehmen schnell in Second Life gehen und dort ihr Marketing betreiben möchten oder verschiedene Ziele erreichen wollen.
Für die meisten hat es sich nicht gelohnt, weil die Unternehmen keine guten Konzepte für Second Life-Projekte hatten, sich z.B. in Second Life nur ein Gebäude aufbauten und sich nachher nicht darum kümmerten. Wenn man eine Bibliothek in Second Life aufbauen will, bedeutet das nicht nur ein Gebäude in den virtuellen Raum zu stellen, sondern auch, dass man dort entsprechende Informationsangebote anbietet. Dafür ist die Kreativität der Bibliothekare gefragt.
Die Bibliothek in Second Life aufzubauen ist ganz einfach. Man muss sich nur einen Account einrichten und ein virtuelles Grundstück erwerben, um dort die Bibliothek aufzubauen.
Maxi: Jin, wirst du deine Karriere im realen Leben starten oder in einer Bibliothek in Second Life?
Jin: Das ist schwer zu sagen. Ich möchte später die Chancen nutzen, die es für die Bibliothek gibt. Wenn es genug Informationsbedarf in der virtuellen Welt gäbe, dann würde ich natürlich gerne als Avatar arbeiten.
Maxi: Jin, wir danken dir sehr herzlich für dieses Interview.
Jin: Sehr gern. Vielleicht noch eine kleine Ergänzung: Boris fragte mich, ob Second Life ein Hype ist oder für die Bibliothek relevant ist.
Meine Meinung ist, dass der ganz Hype von Second Life im Bibliotheksbereich noch nicht da ist. Dafür sehe ich zwei verschiedene Gründe: Zum einen ist es die Presse. Über Second Life wird in letzter Zeit sehr viel eher negativ berichtet in der öffentlichen Presse.
Auf der anderen Seite bestehen in Second Life noch ein paar technische Barrieren, wie z.B. die, dass man eine schnelle Internetgeschwindigkeit und einen sehr hoch leistungsfähigen Computer haben muss.
Da besteht für manche Bibliothek, die ein Second Life-Projekt starten will, eine große Barriere. Und ich hoffe, dass innerhalb der nächsten zwei oder drei Jahren die Bibliothekswelt die virtuelle Welt mehr beachtet und sich auf den nachfolgenden Informationsbedarf vorbereiten kann.