Web 2.0 aus Nutzer- und Bibliothekssicht: Vorrang für Kernaufgaben der Bibliothek
„Im Moment besteht ein Grossteil des Web 2.0 […]aus spielerischen Services, die vor allem für den persönlichen und privaten Gebrauch von Interesse sind.“[Fn1]
Dienen Web 2.0-Anwendungen der Optimierung von Bibliotheksaufgaben? Man muss diese Frage relativieren. Der Begriff „Web 2.0“ wird mittlerweile so inflationär gebraucht (Bank 2.0, Management 2.0, Wissenschaft 2.0 oder Politik 2.0), dass generell nicht mehr klar ist, was sich dahinter verbirgt. Bei „Bibliothek 2.0“ ist das nicht anders. Wieso sollten die Web 2.0-Anwendungen das Bibliothekswesen also revolutionieren?
Der „Brückenschlag vom Forscher zum Bürger“, „weg vom Elfenbeinturm“[Fn2] – diese Anliegen werden gegenüber Experten, Praktikern, Berufsverbänden, Parteien und Konzernspitzen seit jeher angebracht. Web 2.0 scheint das zu ermöglichen. Die Formen jeglicher Partizipation (politisch, kulturell, wissenschaftlich, persönlich etc.) haben sich mit Web 2.0 gewandelt. Alle Anliegen, ob persönliche, intime oder öffentliche, sind heute in Weblogs und Foren omnipräsent. Praktisch jeder kann zu einem bestimmten Thema oder Anliegen auf Stimmen- und Meinungsfang gehen oder sich einfach „selbst produzieren“. Welchen praktischen Einfluss diese veränderten Möglichkeiten der Partizipation auf Regierungs-, Entscheidungs- oder Organisationsstrukturen haben, ist in vielen Bereichen fragwürdig und diskussionswürdig. Das gilt auch für die Bibliothekswelt. Denn obwohl Bibliothek auf den Bedarf der sie umgebenden gesellschaftlichen Subsysteme und dem der gesamten Gesellschaft reagieren muss (Plassmann, S. 32), bleibt doch zu fragen, inwieweit die Bibliothek sich der Web 2.0-Ideologie überhaupt öffnen sollte.
Systemtheoretisch erweitern Web 2.0-Anwendungen Partizipation und Komplexität in verschiedenen Subsystemen des Gesellschaftssystems. Dem Bildungs-, Kultur- und Politiksystem wird nun eine weitere Dimension hinzugefügt, die zu weiterer Ausdifferenzierung führt. Im Zuge historischer Ausdifferenzierung des Bibliothekssystems stellt sich die Frage, ob nun im nächsten Schritt (zur Bibliothek 2.0) der Nutzer maßgebender Bibliotheksmitarbeiter wird.
Die Frage ist normativ. Die Bibliothek ist eine Institution, Nutzer/innen aber sind Individuen. Was auf den ersten Blick als banale Distinktion erscheint, stellt den einen wichtigen Punkt der Web 2.0-Debatte dar: Sollten außenstehende Individuen Institutionen gestalten, die sich im Falle der Bibliothek durch Experten wie Bibliothekare, Doktoren und Information Professionals auszeichnen? Soll nun unter den neuen technischen Vorzeichen jedermann verstärkt Einfluss auf die Bibliothekswelt ausüben, wo doch selbst in One Person Libraries durch langwierige Gespräche und Diskussionen Leitbilder und Visionen entwickelt und erkämpft wurden? Für Tim O'Reilly, der Web 2.0 definierte[Fn3] und Anhänger des Web 2.0, ist hier eindeutig eine positive Antwort geboten. Tatsache ist aber, dass Bibliotheksmitarbeiter die Probleme, Prozesse und Anforderungen ihrer Einrichtung wesentlich besser einzuschätzen wissen als der (subjektive) Nutzer.
Bibliothekare bewältigen bei ihrer Arbeit täglich einen Spagat zwischen den Anforderungen des Trägers, begrenzten Ressourcen und den Bedürfnissen der Nutzer. Sollen die in langwierigen Prozessen gewonnenen Prinzipien nun in aller Öffentlichkeit erneut zur Disposition gestellt werden? Gerade das Fachwissen hat doch bisher die Arbeit von Bibliotheken bestimmt. Im Bibliothek 2.0-Ideal ist nun Schluss damit, weil die Bibliotheken früher oder später von den Nutzern an die Leine genommen werden. Auf andere Bereiche übertragen, könnte das auch Parteien, Stadtverwaltungen und Regierungen passieren. Einige Befürworter des Web 2.0 sehen sogar die Möglichkeit einer Fundamentaldemokratisierung[Fn4] (vorausgesetzt Computer und Internet sind verfügbar) durch die neuen Kommunikationstechniken des Web 2.0.
Bezüglich der Bibliothek wäre folgendes Szenario denkbar: Nutzer dürfen Dienstprotokolle von Bibliothekssitzungen bewerten und darüber entscheiden, wie die Millionen Euro Etat verteilt werden. Die Mitarbeiter müssen aufpassen: Eine patzige Antwort und man steht in der Schusslinie genervter, übermütiger Nutzer, die im „Nutzer-Zufriedenheitsforum“ ihre Meinung dazu kundtun, welcher Mitarbeiter welchen Fehler gemacht hat. Viele Vorwürfe sind ernsthaft vorgebrachte Anliegen. Wer aber kann das beurteilen?
Ganz zu schweigen von den Büchern, die bestellt werden. Im OPAC, im „Nutzer-Zufriedenheitsforum“ – überall steht es geschrieben: „So ein Buch braucht kein Mensch!“ oder „Ich verstehe kein Wort!“
Es geht schließlich um Andrew Keen’s Anti Web 2.0 Manifesto[Fn5] : Alles ist „Meinung in Bewegung“, oft in Form „sinnlose(r) Beiträge.“ (Figge/Kropf, S. 148). Wie wird eine Doktorarbeit beurteilt, wenn über sie von jedermann gerichtet werden darf? Bestimmt ist die Meinung von „xyz“ für die Fachwelt, aus der diese Arbeit stammt, unwichtig. Für die Anderen aber, die sich noch nicht mit dem Thema beschäftigt haben, jedoch Literatur dazu suchen, könnte das Urteil von „xyz“ allerdings maßgeblich für ihre Ausleihentscheidung sein. Ob das Urteil richtig ist, ist egal, denn jeder kann es wieder beurteilen – ad infinitum. Nur das Buch wurde dann vielleicht umsonst ausgeliehen. Das wäre ärgerlich.
Der Austausch im Web 2.0 ist weniger vertrauenswürdig als das persönliche Gespräch. Dass anonyme Meinungen auch durch Netzwerke missbraucht werden können, darauf wurde bereits von Winfried Felser hingewiesen.[Fn6] Diskussionen um Mitsprache, Partizipation und Professionalität werden auch durch Andrew Keen, der eine Beeinträchtigung kultureller Werte durch die Web 2.0 Bewegung befürchtet, in seinem Buch Cult of the Amateur neu entflammt. Keen behauptet, die Herrschaft des Pöbels und eines falschen digitalen Utopismus in der Web 2.0 Bewegung heraufziehen zu sehen: „In the digital future, everyone will think they are Orwell“[Fn7]. Auch die Informations- und Bibliothekswissenschaft sollten die potentiellen negativen Auswirkungen bei der Entwicklung neuer virtueller Dienste verstärkt berücksichtigen und reflektieren und das nicht nur in Richtung interaktiver Öffnung gegenüber den Nutzern.[Fn8] Das normative Fazit aus diesem Diskurs kann nur lauten: Es muss „No-Go-Areas“ für Nutzer geben. Die Kernaufgaben (Sammeln, Auswählen, Beschreiben, Verfügbar machen etc.) müssen auch im Fall von Bibliothek 2.0 im exklusiven Herrschaftsbereich der Bibliothek und ihres Trägers verbleiben.
Web 2.0 definiert vor allem rein technische Möglichkeiten. Ob der Mensch durch Web 2.0 mehr Mündigkeit oder Aufgeklärtheit erlangen kann, bleibt äußerst fragwürdig. Je mehr Leute für eine Sache verantwortlich zeichnen, desto mehr können sie sich mit Verweis auf die Verantwortung der anderen aus der Verantwortung ziehen. Gerade im Internet, wo es durch Anonymität schwer wird, Einschätzungen über die Ernsthaftigkeit und den Wahrheitsgehalt von Kommentaren und Informationen zu machen, bedarf es Informationsautoritäten. Deshalb bleibt der Bibliothek, sowie auch anderen kulturell und politisch relevanten Institutionen, die Gatekeeper-Funktion als wesentliche Aufgabe demokratischer Verantwortung.
Bibliotheken zwischen Tradition und Innovation
Das inhaltliche Kerngeschäft der Bibliotheken wird durch Web 2.0-Anwendungen weder verändert, noch gewinnt die soziale Bewegung der 2.0er die Oberhand über die Arbeitsweise einer Bibliothek. Es kann für die Bibliothekswelt weder von einem Paradigmenwechsel die Rede sein (Danowski/Heller, 2006, S. 1261), noch davon, dass Bibliotheken, wenn sie sich nicht anpassen, den Bezug zu „jüngeren und/oder innovativen Nutzern“ verlieren (Figge/Kropf, S. 149). Denn die Klientel einer wissenschaftlichen Bibliothek ist gegenüber der Blackbox Internet wohl definiert (gekauft wird, wonach Lehrstuhl und Referenten verlangen) und die Klientel einer öffentlichen Bibliothek rekrutiert sich vor allem über die angebotenen Medien, deren Erwerb sich durch Verbundzusammenarbeit so gut wie möglich an den gegebenen Bedürfnissen der Nutzer orientiert.
Vielmehr hat der Web 2.0-Diskurs einen der Bibliotheksorganisation entgegenlaufenden Aufhänger: Es herrscht ein unüberschaubares Kontinuum zwischen loser Form (z. B. facebook[Fn9]) und klar definierten Plattformen (z. B. xing[Fn10]), zwischen Offenheit (z. B. studiVZ[Fn11]) und Spezialisierung, zwischen Unverbindlichkeit (oft auch Unbedarftheit), Kreativität und Dynamik. Die Überschneidung der beiden Systeme kann also nur relativ kleine Bereiche umfassen.
Trotz aller Serviceorientierung nach amerikanischem Vorbild und dem Innovationsschub der letzten zehn Jahre, den die Bibliotheken durch das Internet erhalten haben, bleibt die Bibliothek im Gegensatz zum Web 2.0 ein traditionelles Geschäft mit Etat, Geschäftsgang und Nutzerinteressen, die klar definiert sind. Alert Dienste, Chat und Pull Dienste waren schon vor 2.0 bekannt und was die Nutzer interessiert, kann teils statistisch im Bibliothekssystem erhoben werden, teils über ein Gästebuch (in gebundener Form) abgefragt und teils durch Umfragen evaluiert werden.
Längst besteht in vielen OPACs und Datenbanken (z. B. die des FIZ Technik) die Möglichkeit, sich über E-Mail regelmäßig aktualisierte Recherchen zu bestimmten Themen zukommen zu lassen. Auch Beratung und Schulung zur aktiven und kompetenten Bibliotheksnutzung stehen längst auf der Agenda. Lediglich die technische Dimension der Bibliotheksarbeit an der Schnittstelle Serviceleistungen - Nutzerinteressen wird durch Web 2.0-Anwendungen berührt. Welche Inhalte diesbezüglich einer Neuausrichtung bibliothekarischer Arbeit bedürfen, wird sich zeigen. Danowski und Heller demonstrieren in ihrem Aufsatz „Bibliothek 2.0 - Die Bibliothek der Zukunft?“ (2006) zur Genüge die vielfältigen technischen Anwendungsmöglichkeiten von Web 2.0-Applikationen für Bibliotheken. Über einige soll im nächsten Teil kurz reflektiert werden. Danowskis Vortrag über die Zusammenarbeit von Wikipedianern und Bibliotheken zeigt deutlich, dass Perspektiven einer win-win-Situation gegeben sind. Bibliotheken sollten ihren Service im Zeichen pragmatischer Mehrwertschaffung für den Nutzer durch Web 2.0-Anwendungen erweitern.[Fn11]
Möglichkeiten und Szenarios
Bevor man sich als Leiter oder Leiterin der Benutzungsabteilung über die Einführung von Web 2.0-Services entscheidet, sollte man sich ernsthaft damit auseinandersetzen, welche Ziele mit den neuen Anwendungen angestrebt werden sollen. Auch ist es wenig sinnvoll, neue Dienste anzupreisen, während man die praktische Implementierung für die reale Bibliothekswelt permanent vernachlässigt (z. B. Ausleihbedingungen, Öffnungszeiten oder die inhaltliche Erschließung von Altbeständen).
Mash-ups
Zukunftsweisend sind Masken, die sich der Nutzer selbst zusammenstellen kann. Er kann aus einem Set von Tools diejenigen wählen, die er oft benötigt. Die Vielzahl möglicher ein- und ausschaltbarer Dienste dieser Art ist groß und wird wachsen. Variable Mash-ups sind besonders für Informationspraktiker von besonderer Bedeutung. Wer kennt nicht das Problem, mit zehn Tabs gleichzeitig im Internet zu hantieren. Hier würde eine Synthese nach dem Vorbild von Netvibes[Fn13] extreme Nervenberuhigung beim Arbeiten erzeugen. „DBIS, EZB, KVK, sowie ZDB“[Fn14] auf einen Blick und dazu noch das Suchfenster für den hauseigenen OPAC, sowie ein Tool für den Schnellzugriff auf die Fernleihe wären Auswahloptionen für den Mash-up eines Auskunftsarbeitsplatzes oder für Schulungen im Bereich Informationskompetenz. Arbeitsplätze in der Bibliothek werden je nach Aufgaben (Auskunft, Rückgabe, Medienstelle, Servicepunkt) mit spezifischen Mash-up Masken ausgestattet sein.
Zukünftig sind viele Szenarios denkbar. Bibliotheken können ein Kalendertool entwickeln, das automatisch die Rückgabetermine in den Kalender der Nutzer integriert. Die Suchmaske des OPACs wird neben der Google-Suche oder dem Wetter erscheinen. Auch lässt sich der OPAC als Suchmaschine neben Google und Yahoo im Browser auswählen (add OPAC to your firefox searchbox). Die Entwicklung von Bibliotheksmodulen, die jeder in sein individualisiertes Mash-up einbinden kann, ist hier ein innovativer Schritt in die richtige Richtung. Bald wird keine Browserstartseite mehr der anderen gleichen. Die Ausdifferenzierung verschiedener Mash-up Dienste ist eine logische Konsequenz komplexer individueller Wünsche nach Informationen im Netz. Bibliotheken müssen jetzt diesen Trend aufgreifen und ihre virtuellen Dienstleistungen danach ausrichten.
RSS-Feeds
„RSS und Atom sind XML-Formate für Nachrichten und andere Informationen, die häufig aktualisiert werden.“ (Wittenbrink, S. 22) Diese sog. Feeds (aktuelle Informationspakete) sind heute auf vielen Webseiten Standard. Der Nutzer kann die Inhalte bestimmter Seiten abonnieren und wird über Änderungen und neue Inhalte sofort informiert. Die Zusammenstellung und Austeilung von Informationen aus verschiedenen RSS-Feeds sind für die Fachwelt der Bibliothekare von besonderer Bedeutung. Ähnliches gilt für die Nutzer. Dem Fachbereich oder der Ausrichtung der ÖB/UB gemäß können hier spezielle Feeds zusammengestellt und den Nutzern verfügbar gemacht werden. In der kompetenten Bewertung und Auswahl von relevanten Informationen für Nutzer und Fachwelt sollten Bibliotheken bei der Zusammenstellung und -auswahl von News-Feeds eine führende Rolle einnehmen. Denn auch RSS-Feeds müssen evaluiert werden und landen eben nicht „(…) wie von selbst auf dem (virtuellen) Schreibtisch des Benutzers (…)“ (Danowski/Heller, 2006, S. 1295). Einmal mehr wird ersichtlich, dass die Bewertung netzbasierter Informationen eine wesentliche Herausforderung für Bibliothekare darstellt[Fn15].
OPAC mit Interaktivität und andere Möglichkeiten
Bei Bedarf kann der Nutzer des OPACs sowohl Kontakt mit anderen Nutzern aufnehmen, als auch in den Chat mit Bibliotheksmitarbeitern treten, falls sich Fragen ergeben. Auch besteht die Möglichkeit, dass sich via OPAC oder Gästebuchblog lose Arbeitsgemeinschaften entwickeln, die gemeinsam dann Literaturempfehlungen zu bestimmten Themen ins Forum stellen, oder thematische Fragen von Interessierten beantworten. Die Kommentierung von Büchern im OPAC sollte so differenziert sein, dass jemand, der sich für das Medium interessiert, eine Bewertung beurteilen kann. An einer wissenschaftlichen Bibliothek könnten als Pflichtangaben des Postenden der „Status“ (Unimitarbeiter, Professor, Student 1. Semester, Gast etc.) angegeben werden, oder auch die Angabe mit welchem „Interesse“ das Medium entliehen und gelesen (konsumiert) wurde.
Für die vernetzte Projekt- und Lehrtätigkeit unabhängig von der Arbeitswelt Bibliothek bieten sich Anwendungen wie Moodle[Fn16] oder Google Docs & Spreadsheets[Fn17] (dezentrales Arbeiten an gleichen Dokumenten) an. Beispiele hiefür sind die rein via Moodle von Studenten der Bibliothekswissenschaft organisierte Konferenz BOBCATSSS 2008[Fn18] in Zadar, sowie interaktive Lernplattformen, die mit Moodle arbeiten, so das E-Learning-System des Fachbereichs 5 der Fachhochschule Potsdam[Fn19] oder des Instituts für Bibliotheks- und Informationswissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin[Fn20].
Um schließlich dem Nutzer mehr Nutzen zu verschaffen, kann die Deutsche Bibliothek mehr Gateways für den Datenexport anbieten, so dass auch andere Interessierte beim Aufbau von Sammlungen aller Art mit den gängigen Normdateien und Ansetzungen arbeiten können. Hier bedarf es vor allem einer Vereinfachung. Ein Beispiel für einen Z39.50-Gateway ist „ZACK Gateway“[Fn21] (Katalogsuche in den deutschen Verbünden). Aber in einer großen Universitätsbibliothek, in der Angestellte immer nur einer bestimmten (isolierten) Tätigkeit nachgehen, wird weder das Web 2.0 freundlich empfangen, noch in irgendeiner Form benötigt. Eine zunächst ablehnende Haltung gegenüber Neuem ist ja in der Praxis großer Behörden bzw. Institutionen durchaus üblich. Hier bedarf es noch etlicher Werbung bis Web 2.0-Anwendungen in die gesamte Bibliothekswelt vordringen.
Benutzerforum, Linklisten und Podcasts als neue Anreize
Ein Benutzerforum löst das Gästebuch ab. Es beinhaltet ein Votingsystem (auch interessant für das Entstehen eines neuen Nutzer-Bibliotheksindex auf Basis einer sozialen Software), ein dynamisches kommentierbares FAQ-System zur Bibliothek und ist leicht zu administrieren. Das Votingsystem lässt Bibliothekare erkennen, an welchen Stellen sie nachbessern müssen. Erste Weblogs laufen bereits erfolgreich, z. B. bei der UB Hamburg[Fn22] und auch der Berufsverband Bibliothek und Information Deutschland (BIB) hat bereits einen Arbeitsleitfaden entwickelt. Hier wird der Weblog besonders aufgrund der Marketing- und der Wissensmanagementmöglichkeiten empfohlen (Stabenau/Plieninger, S. 13f.).
Die Synthese relevanter Links in Verzeichnissen
wertet das aktuelle Informationsangebot von Bibliotheken auf. Del.icio.us[Fn23],
Mister Wong[Fn24],
oder Connotea[Fn25]
sind leicht zu administrieren und werden, wenn aktuell und umfassend
gepflegt, oft durch die Community der Bibliothek besucht. Hier übernimmt
die Bibliothek wieder die Bürgschaft zuverlässiger Informationen.
Podcasts können als Alternativen oder parallel zu schriftlichen
Tutorials angeboten werden. Auch um Bibliotheken mehr Öffentlichkeit
zukommen zu lassen, sind Podcasts z. B. nach dem Vorbild von „LibVibe:
the library news podcast“[Fn26]
auch für das deutsche Bibliothekswesen sehr interessant. Für
Öffentliche Bibliotheken sind Linkverzeichnisse spannend, die
auf kostenlose Hörspiele oder bestimmte Themen (Kunst, Kultur,
Regionales) abzielen. Auch das Podcasting im Bereich der wissenschaftlichen
Disziplinen wird sich verdichten und somit einen Anreiz für
wissenschaftliche und Spezialbibliotheken bieten.
Resümee
Nutzerfreundlichkeit von Webauftritten ist das A und
O. Das Image ist zweitrangig. Wer nicht nach drei Versuchen an die
Information, die benötigt wird, gelangt, ist frustriert und
gibt auf (oder schaut bei Google). Auch der informationstechnische
Hype, der seit 1995 oder 1996 anhält, ist mit Vorsicht zu genießen.
Wer von Informationen erschlagen wird, ist nach kurzer Zeit nicht
mehr aufnahmefähig. Informationen müssen da erscheinen,
wo nach ihnen gesucht wird. Wem als Nutzer Moderatorenfähigkeiten
in Chat und Postings abverlangt werden, ist schnell entnervt. Deshalb
ist bei allem Hype des Themas Bibliothek 2.0 nicht zu vergessen:
Die Katalogdaten müssen mit Inhaltsverzeichnissen angereichert
werden, eine Bibliothek muss vor allem physisch gut nutzbar sein,
die Verbundarbeit muss voranschreiten.
Unter diesem Fokus muss der Sinn neuer Anwendungen kritisch hinterfragt
werden. Schlagwörter müssen und Abstracts sollten bei
jeder Katalogangabe zu finden sein, Volltexte und Leseproben ebenfalls.
Das hat zunächst nichts mit Web 2.0 zu tun, sondern mit der
realen Einschätzung von Bibliotheken durch Nutzer und Mitarbeiter.
Das Web 2.0 beweist ja vor allem, dass Nutzeroberflächen einfach
und funktional sein müssen, um akzeptierte Werkzeuge zu werden.
Das können Bibliotheken auf jeden Fall aus der Web 2.0-Bewegung
lernen.
Zudem können Bibliotheken fruchtbare Anreize gewinnen, wie Nutzer Informationen präsentiert bekommen möchten, welche Art von Informationen für sie relevant sind und in welchen Belangen die Nutzer mitreden sollen und müssen. Schließlich kann das virtuelle Image einer Bibliothek, immer unter der Bedingung, dass die Dienste der Bibliothek ordentlich funktionieren, das Bild der Bibliotheken als Ganzes in der Öffentlichkeit verbessern. Bibliotheken haben durch Engagement in der Entwicklung eigener Web 2.0-Tools die große Chance, sich weiter vom Bild des staubigen Bücherbunkers zu distanzieren. Bibliotheken können eine wichtige Rolle bei der Pionierarbeit an der „virtuellen“ Schnittstelle Serviceleistungen - Nutzerinteressen einnehmen und dadurch an öffentlicher und akademischer Reputation gewinnen.
Die Antwort auf die Frage, ob Web 2.0 Anwendungen die Bibliothekswelt revolutionieren werden, lautet: Jein. Bibliothek 2.0 darf nicht die schöne neue Welt der Bibliotheken einläuten, während die alte Welt aufgrund von Personal- und Mittelschrumpfung dazu beiträgt, Bibliotheken schlecht zu reden. Trotz aller Euphorie dürfen die Kernaufgaben der Bibliothek nicht vernachlässigt werden. Zudem müssen bei all den technischen Möglichkeiten auch Inhalte erstellt werden. Web 2.0 funktioniert nicht von allein: Administration, Implementierung und Evaluation erfordern Arbeitskraft, die zusätzlich zur Verfügung gestellt werden muss. Wie eingangs erörtert, haben Bibliotheken eine Verantwortung, die nicht auf eine Community aktiver Nutzer abgewälzt werden darf.
Aktive Mitarbeit ist notwendig, damit Bibliotheken nicht den technischen Innovationen hinterherlaufen, sondern sie permanent in die Optimierung der Arbeit einfließen lassen. Dafür müssen vor allem neue Ressourcen und Stellen für neue virtuelle Bibliotheksdienste vom Träger zur Verfügung gestellt werden. Schaffen diese Dienste Mehrwert für die Nutzer, so werden sie definitiv angenommen.
Trotz aller Hoffnung und Euphorie sollte man bodenständig bleiben: Was nutzt die beste Auszeichnung zur „Web 2.0-Bibliothek 2008“, wenn substantielle Bücher für Forschung bzw. Freizeit nicht im Bestand sind? Die Bibliothek macht sich nicht nur vor den eigenen Nutzern, sondern vor der ganzen Welt zum Gespött. Schließlich gilt es zu bedenken, dass die Web 2.0er sich permanent neu zusammen tun, eigenständig Bibliotheken entstehen lassen[Fn27] , bei Interesse selbstständig Foren und Arbeitsgemeinschaften errichten (z. B. ning[Fn28]) und dabei vielleicht nicht im Mindesten an eine herkömmliche Bibliothek denken. Die Formen der Nutzerorientierung ändern sich, Aufgaben und Inhalte der Bibliothek bleiben dieselben.
Literatur
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und Grenzen des Web 2.0. Universität Basel 30. Mai 2007. URL:
http://www.wwz.unibas.ch/wi/lehre/swi/resume07/baur.pdf
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Sun Summit Bibliotheken 2006, Bonn. PPT-Präsentation.
URL: www.slideshare.net/PatrickD/wikipedia-trift-bibliothek-visionen-der-zusammenarbeit
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URL: www.zlb.de/aktivitaeten/bd_neu/heftinhalte2006/DigitaleBib011106.pdf
(geprüft: 19.09.2007)
Danowski, Patrick (2007) Bibliothek 2.0
und benutzergenerierte Inhalte. Was können die Benutzer für
uns tun? Presentation auf dem World Library and Information Congress:
73rd IFLA General Conference and Council, 19-23 August 2007, Durban,
South Africa.
URL: www.ifla.org/IV/ifla73/papers/113-Danowski-trans-de.pdf
(geprüft: 19.09.2007)
Felser, Winfried (2006) Das Ende der Naivität: Web 2.0 an Scheidewegen von Machtmissbrauch oder Partnerschaftlichkeit - Version 0.8 - Köln: Stand 12.12.2006
Figge, Friedrich; Kropf, atrin (2007) Chancen und Risiken der Bibliothek 2.0: Vom Bestandsnutzer zum Bestandsmitgestalter. In: Bibliotheksdienst 41. Jg. (2007), H. 2, S. 149 URL: http://eprints.rclis.org/archive/00008778/01/Figge_Kropf.pdf (geprüft: 19.09.2007)
O’Reilly, Tim: What is Web 2.0?
URL: www.oreillynet.com/pub/a/oreilly/tim/news/2005/09/30/what-is-web-20.html
(geprüft: 15.04.2007)
Heller, Lambert (2007) Social Software
– Bausteine einer "Bibliothek 2.0". In: Umlauf,
Konrad; Hobohm, Hans-Christoph (Hrsg.) Erfolgreiches Management
von Bibliotheken und Informationseinrichtungen, Kapitel 2/1.2, S.
1-18. Verlag Dashöfer.
URL: http://eprints.rclis.org/archive/00010129/01/(10)-2.1.2.pdf
(geprüft: 19.09.2007)
Keen, Andrew (2007) The Cult of the Amateur: How Today's Internet Is Killing Our Culture. New York [u. a.]
Mannheim, Karl (1967) Mensch und Gesellschaft im Zeitalter des Umbaus (Leiden 1935). 2. Aufl., Berlin [u. a.]
Stabenau, Edlef; Plieninger, Jürgen (2007)
Weblogs nutzen und erstellen. Hrsg. Berufsverband Information Bibliothek
/ Kommission für One-Person Librarians. (Checklisten ; 18)
URL: http://www.bib-info.de/komm/opl/pub/check18.pdf
(geprüft: 19.09.2007)
Fußnoten
[Fn 1] Bauer, 2007, S. 2 (zurück)
[Fn 2] www.spektrum.de/artikel/904095&_z=798888 (zurück)
[Fn 3] www.oreillynet.com/pub/a/oreilly/tim/news/2005/09/30/what-is-web-20.html (zurück)
[Fn
4] Begriff von Karl Mannheim. Der Begriff hat u.a. die Bedeutung,
dass immer mehr Gruppen und Klassen an der politisch-gesellschaftlichen
Willensbildung partizipieren können. Vgl. Mannheim, 1967, S.
53ff.
(zurück)
[Fn 5] www.virtueelplatform.nl/article-4224-en.html (zurück)
[Fn 6] „Der Grund ist einfach: Netzwerke bedeuten Macht und Ermächtigung, und nicht immer wird mit dieser Macht und Ermächtigung partnerschaftlich umgegangen.“ Felser, Winfried, S.2. (zurück)
[Fn 7] Keen, 2007, siehe Fußnote 5 (zurück)
[Fn 8] Relevante Themen sind auch Informationssicherheitsfragen, Online-Überwachung und Ausspionieren der Nutzer durch Dritte als Kontrapunkt der Öffnung der Persönlichkeit oder Preisgabe von Daten und Meinungen im Web. (zurück)
[Fn 9] www.facebook.com (zurück)
[Fn 10] www.xing.com (zurück)
[Fn 11] www.studivz.net (zurück)
[Fn12] Danowski, 2006, Folie 19 (zurück)
[Fn 13] www.netvibes.com (zurück)
[Fn 14] Abkürzungen für: Datenbank-Infosystem (DBIS), Elektronische Zeitschriftenbibliothek (EZB), Karlsruher Virtueller Verbund (KVK) und Zeitschriftendatenbank (ZDB) (zurück)
[Fn
15] Mögliche Infosuchmaschinen für RSS- Feeds sind z.
B. Technorati http://technorati.com
Google Blogsuche (mit RSS-Alerting-Option) http://blogsearch.google.com
(zurück)
[Fn 16] http://moodle.de (zurück)
[Fn 17] http://docs.google.com (zurück)
[Fn 18] www.bobcatsss2008.org (zurück)
[Fn 19] http://ecampus.fh-potsdam.de/moodle/ (zurück)
[Fn 20] www.ib.hu-berlin.de/aktuell/moodleibi.htm (zurück)
[Fn 21] http://opus.tu-bs.de/zack/ (zurück)
[Fn 22] www.sub.uni-hamburg.de/blog/ (zurück)
[Fn 23] http://del.icio.us (zurück)
[Fn 24] www.mister-wong.de (zurück)
[Fn 25] http://connotea.org (zurück)
[Fn 26] http://libvibe.blogspot.com (zurück)
[Fn 27] www.librarything.de (zurück)
[Fn 28] www.ning.com (zurück)
Ingo Caesar studiert seit Oktober 2006 Informationswissenschaften an der Fachhochschule Potsdam. Vorher studierte er Politikwissenschaft, Philosophie und Germanistik und war von 2003-2006 als wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Spezialbibliothek des Berliner Instituts für Vergleichende Sozialforschung (BIVS) tätig. Zusätzlich arbeitet er an den Vorbereitungen der BOBCATSSS 2008 Konferenz in Zadar (Kroatien) mit.