> > > LIBREAS. Library Ideas # 20

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Bibliotheken und Soziale Gerechtigkeit — Fünf Thesen für eine mögliche Positionierung und Umsetzung in der bibliothekarischen Praxis


Zitiervorschlag
Susanne Brandt, "Bibliotheken und Soziale Gerechtigkeit — Fünf Thesen für eine mögliche Positionierung und Umsetzung in der bibliothekarischen Praxis. ". LIBREAS. Library Ideas, 20 ().


In LIBREAS. Library Ideas Ausgabe 19, Herbst 2011, [Fn 1] führen Wolfgang Kaiser und Karsten Schuldt einen spannenden Dialog zu der Frage „Hat die Öffentliche Bibliothek einen sozialen Auftrag und wenn ja, welchen?" und widmen sich dabei mit bemerkenswerter Umsicht und Tiefe einer Thematik, die im gegenwärtigen bibliothekarischen Diskurs mehr und mehr zu verflachen droht und höchstens in trendorientierten Einzelaspekten größere öffentliche Beachtung findet.

Wer die teils kontrovers gegenübergestellten Positionen der beiden Autoren vor dem Hintergrund langjähriger Praxiserfahrungen im öffentlichen Bibliothekswesen liest, kann daraus weitreichende Impulse für ein immer wieder neues Nachdenken und Erproben von möglichen Handlungsstrategien zur „sozialen Frage" in der praktischen Bibliotheksarbeit gewinnen, ohne dass der Beitrag hierfür konkrete Anleitungen oder gar die sonst so gern herangezogenen „Best Practice"-Beispiele liefert. Denn genau diese würden wenig dabei helfen, sich der sozialen Verantwortung und Handlungsfähigkeit als Bibliothek in ihrer Vielschichtigkeit, ihrer prozesshaften und kaum messbaren Dynamik bewusst zu werden.

Die Sache ist zu komplex für einfache Lösungsvorschläge und schnelle Erfolgsrezepte – und es ist gut, dass eine elektronische Zeitschrift wie LIBREAS dem Thema 25 Textseiten Raum einräumt, um Einblicke in diese Komplexität zu geben.

 

Dass „Soziale Bibliotheksarbeit", wie ich sie mit vielen anderen Berufskolleginnen und -kollegen während meines Studiums Mitte der 1980er Jahre kennen gelernt habe, so kaum mehr in der öffentlichen Diskussion vorkommt, bedeutet keineswegs, dass eine kritische Auseinandersetzung mit dem Thema in der täglichen Praxis wie im fachlichen Diskurs heute weniger relevant geworden ist.

Im Gegenteil: Wer heute mit der Frage konfrontiert wird, ob wir uns neben den enormen Herausforderungen der digitalen Zukunft eine Beschäftigung mit Themen wie zum Beispiel „Kulturelle Teilhabe für Menschen mit Demenz" oder „Erzählkultur und Lebensbewältigung" noch leisten können, braucht fundierte Argumente, die nicht in der aufgewühlten Oberfläche stecken bleiben, sondern zum vielleicht verbindenden Kern und Selbstverständnis unserer Arbeit vordringen.

Und wer sich kritisch befasst mit Instrumenten wie dem in Niedersachsen eingeführten Zertifizierungsverfahren „Bibliothek mit Qualität und Siegel", [Fn 2] wird kaum übersehen, dass dort die „soziale Frage" explizit nicht vorkommt und aus dieser Beobachtung wiederum seine Schlüsse und begründeten Konsequenzen ziehen müssen.

Auch und gerade ein Fehlen, Reduzieren oder Zurückstellen des Themas fordert also umso mehr eine bewusste Auseinandersetzung damit und ein gründliches Wissen um seine Komplexität und Wirksamkeit.

Fast alle Argumentationen für oder gegen einen sozialen Auftrag von Bibliotheken in Zeiten wachsender Anforderungen und institutioneller Existenzkämpfe landen irgendwann bei der Frage nach den dafür nötigen Ressourcen. Der Mangel an Zeit, an personellen Kapazitäten und Haushaltsmitteln zwingt – so scheint es – zu klaren Profilierungen mit Schwerpunktsetzungen, die möglichst kurzfristig messbare Erfolge versprechen. Da hat es der Fragenkomplex Bibliotheken und Soziale Gerechtigkeit, der eine intensive Beschäftigung mit vielschichtigen Zusammenhängen fordert und dafür keine schnellen und sicheren Erfolgsbilanzen verspricht, offenbar schwer in der Konkurrenz zu anderen Themen.

Und doch: Neben der Sorge um Ressourcen und Wettbewerbsfähigkeit gibt es täglich und überall eine ganze Reihe von freien Entscheidungs- und Handlungsmöglichkeiten in der „sozialen Frage", die eine deutliche Sprache gegen die lähmende Erfahrung von begrenzten Spielräumen und herrschenden Sach- und Erfolgszwängen sprechen.

Solche Möglichkeiten im Sinne einer Ermunterung und Ermutigung zu benennen – angeregt vom eingangs erwähnten Libreas-Dialog und praktisch erprobt in 25 Jahren bibliothekarischer „Basisarbeit" – ist das Anliegen der folgenden fünf Thesen aus der Praxis für die Praxis:

 

Wir können…

… einen Perspektivwechsel üben: Dabei rückt vorrangig die Unterstützung der Individuen in ihrer jeweiligen sozialen und biographischen Situation und nicht die Erfüllung vorgefasster institutioneller Ziele in den Fokus der bibliothekarischen Arbeit; das heißt wir können uns stärker als bisher leiten lassen von der Frage, wie Menschen in ihrer jeweiligen Lebenslage auf ganz unterschiedliche Medienarten reagieren, mit ihnen agieren, durch sie eigene Potentiale entdecken und stärken – und daran entsprechend differenziert und flexibel unsere institutionellen Ziele ausrichten und immer wieder korrigieren.

… die (Über-)bewertung von Kennzahlen für Qualität kritisch hinterfragen: Diese taugen als betriebswirtschaftliche Instrumente zwar dazu, den Betrieb Bibliothek zu bemessen, zu vergleichen und zu steuern, werden dabei jedoch Fragen der gesellschaftlichen Verortung, sozialen Verantwortung und den daran orientierten Handlungsstrategien in ihrer Komplexität oft nicht gerecht.

… berufsbegleitend und interdisziplinär lernen: Neben der wichtigen Forderung nach veränderten Studieninhalten, die in stärkerem Maße auf soziale, politische und ethische Aspekte der Bibliotheksarbeit vorbereiten, lassen sich berufsbegleitend viele interdisziplinäre Lernchancen nutzen. Dafür ist es wichtig, in den Akteuren der Sozial- und Bildungsarbeit vor Ort sozusagen „Kommilitonen statt Kunden" zu sehen, um voneinander zu lernen, sich miteinander in Fragen der sozialen, politischen und gesellschaftlichen Verantwortung weiterzubilden und gegenseitig zu unterstützen.

… eine selbstkritische Kultur der Kommunikation über die eigene Arbeit intensivieren: Frei von PR-Bestrebungen und einem erfolgsorientierten Rechtfertigungsdruck ist es wichtig, ungelöste Probleme und Bruchstellen offen anzusprechen, Scheitern als Lernchance zu begreifen, Zeiten und Räume zu nutzen oder einzufordern für das Experimentelle und Unvollendete in Wort und Tat als Motor für kreative Veränderungen.

… ein buchstäblich hintergründiges Wahrnehmungsvermögen entwickeln und verfeinern: Vordergründige „Trend-Themen", mit denen sich in Bibliotheken schnell Quote machen lässt, verdienen keine größere Aufmerksamkeit als jene Medien- und Kommunikationsbedürfnisse von Menschen, die gerade nicht aktuell im Fokus der Meinungsmacher und Wachstumsversprechen stehen. Auf diese Weise lassen sich in stärkerem Maße Zusammenhänge statt Konkurrenzen erkennen und Konzepte erarbeiten, die über den Tag hinaus tragfähig bleiben, weil sie Gestaltungsspielräume für immer wieder neu wahrnehmbare Anforderungen und Veränderungen beinhalten.


Fußnoten

[1] http://libreas.eu/ausgabe19/texte/06kaiser_schuldt.htm. [zurück]

[2] http://www.bz-lueneburg.de/cms/final_index.php?type=cont&site=50254. [zurück]


Susanne Brandt geb.1964 in Hamburg, Studium in Bibliothekswesen und Kulturwissenschaften, Qualifikation Rhythmisch-musikalische Erziehung und bibliotherapeutische Weiterbildung, seit 1995 zahlreiche Buchveröffentlichungen und Beiträge in Zeitschriften und Anthologien; ab 1987 Leiterin der Musikbibliothek in Cuxhaven, ab 2000 Bibliotheksleiterin in Westoverledingen/Ostfriesland, seit Juni 2011 Lektorin bei der Büchereizentrale Schleswig-Holstein in Flensburg.