Ach ja, 20.
Wenn die Zeitschrift LIBREAS dieses Jahr ihre zwanzigste Jahreskerbe in die Borke der Zeit schnitzt, wie wir es im verspielten Sound unserer frühen Jahre formuliert hätten, dann ist es für diejenigen, die von Beginn an dabei sind, nichts weniger als unglaublich. Zwanzig Jahre Zeitschrift heißt auch zwanzig Jahre Leben. Da mag man noch so professionell und abgeklärt auf die Sache blicken wollen: Es ist etwas Persönliches. Mit LIBREAS haben wir uns in unsere kleine Domäne, nämlich in den Bibliotheksdiskurs und seine angrenzenden Felder, eingeschrieben beziehungsweise hineinpubliziert und all die Texte, Bilder und Kommunikationen wirkten in gleicher Weise zurück auf uns selbst. Erwartbar sind wir heute im Vergleich zur Gründungsphase jeweils andere Menschen und es wäre gelogen, würde man nicht anerkennen, dass unterschiedliche berufliche und private Lebenswege auch bedeuten, dass die Schnittmengen in Einstellungen, Möglichkeiten und Perspektiven auf LIBREAS und das Bibliothekswesen mit der Zeit schrumpfen. Wir sind nicht mehr, wie 2005, bereits durch einen gemeinsamen Ort – das Institut für Bibliotheks- und Informationswissenschaft der HU Berlin – verbunden, an dem wir große Teile unserer Tage so oder so miteinander verbrachten. Wir sind verstreut über Institutionen, Regionen und Lebensstilmodelle, was dem erstaunlicherweise nach wie vor existenten Idealismus praktische Grenzen setzt und ein pragmatischeres, effizienteres, zugleich spontaneres und improvisiertes Vorgehen einfordert.
Schreiben, wie es früher war
Das Format, mit dem wir nun unser Jubiläum begingen, entsprach dieser Wirklichkeit. In gewisser Weise simulierten wir mit dem Editathon vom 6. Juni 2025 die Stimmung der Anfangsjahre: Gemeinsam in einem Raum ein paar Stunden verbringen und schauen, was dabei herauskommt. Mit diesem denkbar simplen Ansatz entstand LIBREAS vor über 20 Jahren als die Idee zu dieser Zeitschrift heranreifte. Im März 2005 präsentierten wir unsere erste Ausgabe, eher nebenbei, auf dem Bibliothekartag (der heute anders heißt) in Düsseldorf, dessen Heinrich Heine entlehntes Motto ‘Geld ist rund und rollt weg, aber Bildung bleibt’ aus heutiger Sicht so korrekt wie naiv wirkt. Bildung war das Schlagwort dieser Zeit.
Um die Bibliothekswissenschaft als Fach in Deutschland stand es
damals dagegen ärger als heute. In Düsseldorf präsentierte das damals
noch Institut für Bibliothekswissenschaft – darunter auch das
LIBREAS-Gründungsgrüppchen – in einem Vortrag das Imageproblem der
deutschen Bibliothekswissenschaft
. Die Präsentation kumulierte in
einer denkbar umfassenden These: Aufgabe der Bibliothekswissenschaft
ist die wissenschaftliche Fundierung der Wissensversorgung in allen
Bereichen der Gesellschaft.
1 Dazu warfen wir einige
Forschungsfelder für das Fach an die Wand des Hörsaals:
Benutzungsforschung, Statistik und Evaluation, Bestandserhaltung und
Katastrophenschutz, Formale und inhaltliche Erschließungssysteme,
Entwicklungen der Informationstechnologie (beispielsweise Semantic Web,
Ontologien), Konvergenz konventioneller und elektronischer
Informationsquellen, Informationskompetenz, Informationsethik,
Bibliotheksbetriebswirtschaft, Internationaler Vergleich, Bibliotheksbau
…

Transformation!
Transformation, Leitbegriff eigentlich jeder Gegenwart, aber
umso mehr natürlich jeder Gegenwart, die man selbst erlebt, galt als
Prozess der Stunde und das skizzierte Forschungsprogramm unterstreicht
noch einmal, wie Bibliotheken und Bibliothekswissenschaft um 2005 mit
einem Bein im Analogen und mit dem anderen im Digitalen standen. Zwanzig
Jahre später hat sich das Fach klugerweise nicht in einen schwer
auszuhaltenden Spagat zwingen lassen, sondern ist mit beiden Beinen
weitgehend digital, zumindest als Ausgangspunkt. Wo ein halbes Fußbreit
unter Ideen wie der Bibliothek als Ort oder (Digital!)
Makerspaces der Schritt in den Raum angedeutet wird, bleibt es
beim digital zuerst
. Es ist schwer zu glauben, dass das vor einem
in dieser Hinsicht kurz erscheinenden Doppeljahrzehnt noch anders
war.
Aber es war. Ein Teil von uns las die Zeitschriften n+1 und
Cabinet, von denen wir uns gern hätten inspirieren lassen,
gedruckt, was gar nicht leicht und vermutlich nur in Städten wie Berlin
möglich war, denn auch die damals sehr üppig bestückten Regale der noch
umsatzstarken Bahnhofsbuchhandlungen hatten diese Publikationen nicht im
Bestand. Nischenbuchläden in Berlin hatten sie. In Sachen Inspiration
ist eine lebendige Metropole dann doch unschlagbar. Das Scheunenviertel
ab der 2000er Jahre war ein Treibhaus der Kulturavantgarde mit Galerien,
Tacheles, C/O und einer Buchhandlung namens pro qm
, die, obwohl
auf Architektur und Städtebau spezialisiert, als Beifang auch eine ganze
neue Kultur von Debatte, Diskurs und Print in die Stadt brachte. Das
Institut für Bibliothekswissenschaft lag räumlich nur eine Behelfsbrücke
entfernt von dieser Welt und wenn man wollte, konnte man zur
Mittagspause durch den Skulpturenhof des Tacheles spazieren, an dessen
Stelle nun eine Rolltreppe zu einer austauschbaren Filiale einer
Supermarktkette führt.
Ein in der Ellipse der Liste der Forschungsthemen 2005 verstecktes
Desiderat war das junge Phänomen des Open Access. Ein wenig wundert man
sich doch beim Blick auf die Zeitlinie, denn die Berliner Erklärung
hatte ihr Ausrufezeichen bereits gesetzt und angeregt, die
Wissensversorgung in allen Bereichen der Gesellschaft
gründlich
umzupflügen. Open Access war auch ein Thema am Berliner Institut, was
sich bereits darin zeigt, dass wir LIBREAS ausdrücklich und
ausschließlich als Open-Access-Zeitschrift angedacht hatten. Die Idee
stand im Raum, das konkrete Vorgehen jedoch weniger. Es waren in
mehrfacher Hinsicht digitale Findungsjahre und zu diesem Sich-Finden
gehörte auch ein globales Projekt der Wissensakkumulation und
Zugänglichmachung, das verstreut Ansätze frühdigitaler
Kommunikationskulturen in einem bewusst niedrigschwelligen Ansatz
bündelte und sich Wikipedia nannte.

Wiki jetzt!
Zur gleichen Zeit, zu der Jimmy Wales und andere realisierten, dass
sich aus der Nupedia
ein Projekt größeren Anspruchs machen ließe,
fuhr ich einmal im Monat zum Alexanderplatz, unterquerte die
Karl-Liebknecht-Straße, um in der Filiale des Bertelsmann-Buchclubs mit
der Mitgliedskarte meines Vaters jeweils einen Band eines Lexikons zu
kaufen, das in meiner Berliner Wohnung bis heute über fünfzehn Bände
gestreckt einen enzyklopädischen Überblick über alles von vermeintlicher
Relevanz von A bis Z ins Regal reiht. Die einzelnen Einträge der
ungekürzten Buchgemeinschafts-Lizenzausgabe
des BROCKHAUS’
umfassten je nach Bedeutung des Themas zwischen einem und vielleicht
dreißig Sätzen Text. Wo es passte und besonders wichtig war, gab es
briefmarkengroße Illustrationen. Was sich zunächst als Auftakt der
Wiederholung des Buchbestands im elterlichen Arbeitszimmer mit seinen
fünf x-bändigen Nachschlagewerken aus zwei Jahrhunderten andeutete,
erwies sich im Ergebnis als Endling einer Traditionslinie der
Wissenssammlung und -repräsentation. Weitere Lexika stehen bei mir nicht
im Regal.
Denn zeitgleich wuchs und wucherte irgendwo auf einem Server die Wikipedia Edit für Edit. Sie schnitt nicht nur den Docht des einst bildungsbürgerlichen Aushängeschilds namens Universallexikon ab. Sie formte auch ein datafiziertes Abbild der Welt, auf dem zwei Jahrzehnte später LLMs trainieren und den Rahmen für die frühen Publikumsanwendungen Künstlicher Intelligenz vorgeben sollten. Im September 2002 hatte die englische Fassung der Wikipedia die Microsoft Encarta hinsichtlich der Zahl der Einträge überholt. Im Sommer 2004 hatte sie mehr Einträge als die dreißigbändige 21. und letzte Auflage des Brockhaus Universallexikons, mit dem sie sich in Deutschland ein Scheinwettrennen lieferte. Die gedruckte Encyclopedia Britannica gab sich 2010 geschlagen. Verschwunden sind die Inhalte der Bände nicht unbedingt. In vielen Fällen wurden sie zur, häufig leider nicht so zitierten, Grundlage der Beiträge, die die Freiwilligen in der Wikipedia anlegten.
Entsprechend ist es in den Zeitlinien durchaus stimmig, dass sich LIBREAS zur Feier seines 20. Jahres in die Wikipedia begab und in einem Edit-a-thon mit dem, was die Plattform im Guten wie im Schlechten auszeichnet, aktiv befasste.
Zu den Nachteilen der Wikipedia gehört, dass in ihr wie in allen von
Enthusiasmus getragenen Projekten das Beginnen und Anskizzieren deutlich
einfacher und attraktiver ist als das Abrunden oder in diesem Fall
fortlaufende Pflegen. Aus Sicht der Bibliothekswissenschaft zeigt sich
das besonders griffig am Wikipedia-Portal:Bibliothek, Information,
Dokumentation.2 Die Versionsgeschichte dokumentiert
den Start auf den ersten April 2004 und für die Eingangsseite rege 147
Edits im Jahr 2004. Im Jahr 2005 waren es 285, 2006 noch 113. Im Jahr
2007 wurde es zweistellig, 2009 einstellig. Es folgten Jahre ohne
Aktivität. Im Juli 2022 wurde die Verknüpfung zu einem Portal namens
Digitale Welt
ergänzt.3 Das Versprechen auf der
Startseite des Portals, nämlich Dieses Portal und seine Artikel
wachsen seit der Entstehung im Jahr 2004 kontinuierlich weiter.
legt
zumindest eine sehr großzügige Interpretation des Konzepts der
Kontinuität nahe. Wir als LIBREAS-Team sind natürlich ebenso ursächlich
betroffen und ermahnt. Denn wer, wenn nicht – auch – wir, könnte für die
fortlaufende Aktualisierung sorgen? Nur hatten wir das Portal
erstaunlicherweise über fast zwei Jahrzehnte so und so nicht auf dem
Schirm.
Der Editathon wollte das in dem Umfang ändern, den ein Nachmittag
zulässt. Wir trafen uns im Einstein Center Digital Future (ECDF) an der
Berliner Wilhelmstraße, um in einer Art Editiersprint das BID-Portal
kollaborativ zu erweitern, zu ergänzen und zu aktualisieren
.4 Gelang es uns? Zum Teil. Einige neue
Artikel entstanden, andere wurden aktualisiert. Wichtiger waren aber
zwei Dinge. Einerseits das Soziale: Wir saßen seit langem wieder einmal
im größeren Kreis und gemeinsam mit Peers, die nicht bei LIBREAS aktiv
sind, fast im Zeitgeist der 2000er Jahre an einem physischen Ort
zusammen und editierten. Andererseits: Das Gelernte. Unter Anleitung des
wikipedianischen Urgesteins Nina Gerlach5
tauchten wir reflexiv in die Praxis der folks-enzyklopädischen Arbeit
ein und mit einigen Einsichten und Ideen wieder auf.
Belege und Bescheidenheit: Lektionen aus dem Editathon
Zu diesen Erkenntnissen gehört die unterschätzte Herausforderung der Belegpflicht. Die Wikipedia ist keine wissenschaftliche Kommunikationsplattform, besitzt also kein dahingehend grundiertes Zitiergebot. Sie besteht aber mehr oder weniger darauf, dass die eingepflegten Angaben, Fakten und Aussagen über Quellen belegt werden. Aus wissenschaftlicher Sicht ist das Vorgehen jedoch etwas unscharf, denn die eigentliche Qualität der Quellen bleibt jeweils offen. Zugleich treibt der Belegzwang mitunter sonderbare Blüten. So wollte die Schriftstellerin Emily St. John Mandel im Jahr 2022 den Eintrag zu ihrer Person aktualisieren und ihren Status als geschieden eintragen. Dies wurde ihr aber vor dem Hintergrund der Belegrichtlinien verwehrt. Sie sah sich daher gezwungen, den Umweg über ein speziell für den Zweck der Vorbereitung eines Wikipedia-Edits lanciertes Interview zu nehmen.6
Es ist demzufolge mitunter äußerst schwierig, die Wikipedia zu Themen auszubauen, über die man am besten Bescheid weiß: sich selbst. So diskutierten wir ohne befriedigendes Ergebnis, ob die LIBREAS-Redaktion die Wikipedia-Seite zu LIBREAS7 selbst aktualisieren dürfte.
Dieses Gebot der Selbstzurückhaltung führte auch zur sofortigen Einhegung einer spontanen Idee, die für die fortlaufende Aktualisierung des BID-Portals im Raum aufkam. Wir fragten uns, ob wir nicht die Aktualisierung von Wikipedia-Beiträgen, zu denen LIBREAS Inhalte publiziert, direkt in unseren Redaktionsworkflow aufnehmen sollten. Gäbe es einen Aufsatz zu KI-Systemen und Zettelkatalogen in Bibliotheken, würden wir diese neuen Informationen mitsamt Beleg direkt in den entsprechenden Wikipedia-Artikel ergänzen. Das Problem liegt hier in der Frage: Wer schreibt? Schreiben wir selbst, bestände die Gefahr, dass die qualitätssichernden Akteure der Wikipedia-Community hinter der Ergänzung nicht inhaltliche Erweiterung, sondern Eigenwerbung oder Link-Spamming vermuteten und einen eventuellen Account der Redaktion einer Sperrung zuführten. Die Alternative, die nur halb eine ist, wäre, inhaltliche Ergänzungen auf der jeweiligen Diskussionsseite als Vorschlag zu vermerken und darauf zu hoffen, dass eine neutrale Person den Edit vornimmt. Eine solche Person müsste jedoch erst einmal auf den Vorschlag stoßen und ihn umsetzen wollen.
Nach dieser Abkühlung der Ausgangsbegeisterung eröffneten sich aber doch aktive Teilhabemöglichkeiten. So könnte die LIBREAS-Redaktion problemlos die Wikipedia-Seiten anderer Bibliothekszeitschriften aktualisieren, was während des Editathons auch begonnen wurde. Die Logik hinter dem Tabu der Selbstaktualisierung stieß dennoch auf eine fortwährende Skepsis, die sich wohl nicht auflösen lassen wird. Möglicherweise motiviert sie aber den Ausbau einer Kooperation zwischen Redaktionen, deren Gegenstand ein Wechselseitigkeitsprinzip bei der Aktualisierung der jeweiligen Einträge ist.
Eine zweite Problemstelle der Belegpraxis ist die Absicherung der Zugänglichkeit, also der digitalen Langzeitverfügbarhaltung der Quellen. Viele sind, wie sich zeigte, nicht dauerhaft verfügbar und überprüfbar. Einige sind, wenn man Glück hat, in der Wayback Machine des Internet Archive hinterlegt8, das jedoch, wenn man Pech hat, aus technischen Gründen gerade nicht verfügbar ist – so zumindest temporär auch am Editathons-Nachmittag. Aus Sicht der digitalen Archivierung ist das eine äußerst fragile und unbefriedigende Situation. Schöner wäre es sicher, wenn sich die Wikipedia vielleicht in Zusammenarbeit mit nationalen zentralen Gedächtnisorganisationen automatisch eine Version jeder Seite spiegelte, die als Beleg verknüpft wird. Wie öffentlich zugänglich diese Quellen dann sind, wäre vermutlich eine urheberrechtliche Diskussion. Aber selbst wenn man nur eine Zugriffschance im Lesesaal einer Nationalbibliothek hätte, wäre das besser als eine generelle Nicht-Verfügbarkeit einer Quelle.
Auch unabhängig von diesem Problem bleibt das Recherchieren, Einordnen, Aktualisieren und bloße Erfassen von Referenzen mühsam und zeitaufwändiger, als man gemeinhin annimmt. Bei der Zeitplanung von Editathons ist das ein wichtiger Faktor, denn gerade dann, wenn man Quellen nicht arbiträr in die Einträge würfelt, sondern systematisch einarbeiten möchte, kann es sein, dass man nur zwei oder drei von diesen in einer Stunde bewältigt.
Das wiederum führte zur Frage, ob so viel Hingabe ins Detail überhaupt gewünscht ist. Auf der einen Seite rast man schnell und sicher in eine Löschdiskussion, wenn man auf Quellen verzichtet. Auf der anderen Seite wird bisweilen in Revert-Schleifen hinterfragt, ob das eine oder andere Supplement, für dessen Verifizierung man gerade vier Fachaufsätze durchgearbeitet hat, nicht die Relevanzgrenzen einer Online-Enzyklopädie übertritt. Die Diskussion, ob die Wikipedia inklusiv oder exklusiv sein möchte, ist so alt wie die Seite selbst. Für Gelegenheitsbeitragende, die nicht permanent in den entsprechenden Diskussionen unterwegs sind, kann es mitunter schwierig und im Resultat frustrierend sein, den entsprechenden Sweet-Spot zu treffen.
Teilhabesteuerung im Zeitalter der LLM
Entsprechend ergab sich die Idee oder sogar der Bedarf einer stärkeren soziologischen und vielleicht auch sozialpsychologischen Erforschung der Communitys der Wikipedia-Beitragenden. Die Editier-Empirie läuft auf Hypothesen zu, die andeuten, dass sich Steuerungs- und Machtstrukturen entwickeln, welche bestimmte Kohorten enorm begünstigen und andere eher von Beginn an marginalisieren. Wer lange dabei ist, viel Zeit und Kommunikation investiert, hat vermutlich einen besseren Stand, seine Themen abzubilden, als Personen, die nur hin und wieder eine Zeile ergänzen oder eine Angabe korrigieren wollen.
Einer Diversifizierung und Verjüngung des Pools an Editierenden käme eine solche Situation natürlich ebenso wenig entgegen wie eine sich immer weiter verästelnde Ausarbeitung eines Beitragsregelwerks. Für viele derer, die nur gelegentlich editieren, ist nicht unbedingt der Wille, sondern die Ressource Zeit eine Beschränkung. Diesen Interessierten einige Dutzend Seiten Regelwerk in nicht immer intuitiver Struktur und ein umfassendes Sandboxing aufzuerlegen, bevor sie beispielsweise das Datum des Ablebens oder der Geburt einer prominenten Persönlichkeit nachtragen dürfen, lässt sich vor allem als explizite Einladung zur Passivität verstehen. Dies jedoch stände der Grundidee einer partizipativen Wissensressource grundsätzlich entgegen.
Die Vorsicht und Regularien sind gleichzeitig nachvollziehbar, denn
in dem Maß, in dem die Wikipedia zur zentralen Wissensdatenbank
avancierte, wuchs auch das Aufkommen von Manipulationsversuchen. Es gibt
spezialisierte PR-Unternehmen und zunehmend auch KI-generierte Inhalte,
die das händische Sichten und Beurteilen von Edits de facto überfordern.
Welche Strategien eines solchen Flutens der Wikipedia wirklich wirksam
entgegenstehen könnten, ohne die Idee der offenen Teilhabe massiv zu
beschneiden, scheint derzeit unklar. Die Entwicklung neuer Formen der
Qualitätssicherung ist aber unverzichtbar, so die abschließende
Perspektive. Denn wenn Large Language Models (LLMs) auf den Inhalten der
Wikipedia aufsetzen und zugleich KI-generierte Inhalte und damit oft
auch halluzinierte
Belege und Aussagen in die Wikipedia
einfließen, drohen zirkuläre Effekte, die die Verlässlichkeit und damit
auch den Nutzen des gesamten Angebots grundsätzlich unterlaufen. In
einer ironischen Wendung könnte sich also die Moral Panic, die
die frühen Jahre der Wikipedia begleitete und ein paar Generationen von
Schüler*innen und Studierenden mit dem Mantra überschüttete, dass die
Wikipedia auf keinen Fall eine verlässliche Quelle sei, 25 Jahre später
in wachsendem Maße als berechtigt erweisen.

Das Ballhaus in der Auguststraße
Mit diesem offenen Ende und der Motivation, das Phänomen Wikipedia noch fokussierter zu durchdenken, gingen wir aus dem Editathon ins frühsommerliche Berlin mit seiner Vielfalt von Menschen, die eine Vielzahl von Gedanken jonglieren und auch mal fallen lassen, von denen die wenigsten in diesem Augenblick mit der Wikipedia oder LIBREAS zu tun haben dürften. Wir klebten uns dennoch per Sticker auf eine Laterne und wanderten dann ins Scheunenviertel. Dort wartete ein Tisch in einer zentralen und aufpolierten Traditionsinstitution der Berliner Mitte: Clärchens Ballhaus9, dessen Restaurant derzeit Luna D’Oro heißt. Entsprechend golden in der Stimmung vermischten sich die Editathor*innen und LIBREAS-Redakteur*innen mit Freund*innen und Bekannten und flaxten und diskutierten und plauderten zu frittierten Gürkchen und Waldmeister-Wackelpudding darüber, wie zwanzig Jahre Zeit vergehen und wie schön sich dieser Moment in eine zukünftige LIBREAS-Rückschau einfügen wird. Für unsere eigene Erinnerung wurde die Relevanzhürde auf jeden Fall genommen. Und zur Not haben wir ein paar Schnappschüsse als Belegquellen.

Petra Hauke, Jana Grünewald, Ben Kaden, Andrea Kaufmann, Maxi Kindling, Jakob Voß: Das Imageproblem der deutschen Bibliothekswissenschaft. Düsseldorf: 94. Deutscher Bibliothekartag. https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0290-opus-937↩︎
https://de.wikipedia.org/wiki/Portal:Bibliothek,_Information,_Dokumentation↩︎
https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Portal%3ABibliothek%2C_Information%2C_Dokumentation&diff=224947524&oldid=145447641↩︎
https://de.wikipedia.org/wiki/Portal:BID/LIBREAS_Edit-a-thon↩︎
Dan Kois: A Totally Normal Interview With Author Emily St. John Mandel. In: Slate.com, 17.12.2022. https://slate.com/culture/2022/12/emily-st-john-mandel-divorced-wikipedia.html↩︎
Ben Kaden ist Herausgeber der LIBREAS.Library Ideas.