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Vom Sound-of-Silence – Anmerkungen zur Soundscape Bibliothek

Der Beitrag stellt in aller Kürze das Konzept der Soundscape vor, wie es vor allem von R. Murray Schafer (1977) entwickelt worden ist. Ausgehend von Schafer wird in der Folge argumentiert, dass es sich bei der Bibliothek um eine spezifische Ausprägung einer Soundscape handelt, die im Kontrast zur gesellschaftlichen Umwelt als klangliche Heterotopie (Hi-Fi-Soundscape) beschrieben werden kann. Diese Hi-Fi-Umgebung trägt maßgeblich zur Entstehung einer lernförderlichen Atmosphäre in Bibliotheken bei, die unter anderem mit Begriffen wie Bibliothekskonzentration oder Out-of-the-Box-Konzentration (Fansa, 2008) beschrieben worden ist und als Alleinstellungsmerkmal der Einrichtung gilt. Das Soundscape-Konzept ermöglicht hier eine neue analytische Perspektive auf diese Zusammenhänge, wodurch ein Mehrwert unter anderem für die bibliothekarischen Diskussionen um den physischen Lernort Bibliothek generiert werden kann. Zum Abschluss werden einige potentielle Anschlussthemen skizziert.


This article briefly introduces the concept of the soundscape as primarily conceptualized by R. Murray Schafer (1977). Based on Schafer, it is argued that the library is a specific form of soundscape that can be described as a sonic heterotopia (Hi-Fi-Soundscape) in contrast to the social environment. This hi-fi environment contributes significantly to an atmosphere conducive to learning, which has been described with terms such as library concentration (Bibliothekskonzentration) or out-of-the-box concentration (Fansa, 2008) and is considered a unique selling point of libraries. The soundscape concept enables a new analytical perspective on these contexts, which can add value to discussions about the physical learning location of the library as a whole. Finally, some potential follow-up topics are outlined.


Zitiervorschlag
Boris Queckbörner, "Vom Sound-of-Silence – Anmerkungen zur Soundscape Bibliothek". LIBREAS. Library Ideas, 45 ().


Einleitung

[E]s gibt so einen […] Geräuschkanon, der eine Bibliothek auch ausmacht und attraktiv macht.1 So äußert sich die Bibliotheksnutzerin einer wissenschaftlichen Institutsbibliothek in einem der von Jonas Fansa durchgeführten und in seiner Studie Bibliotheksflirt dokumentierten Interviews. Ein zweiter befragter Nutzer beschreibt die 2531.99diffuse Geräuschkulisse” in der Bibliothek als lernförderlich, wenn er anmerkt: Ich habe in […] Bibliotheken durchaus schon die Erfahrung gemacht, dass gerade – […] wenn man so will – das störende Rauschen, als optisches und akustisches Rauschen, einen auch in einer Weise isoliert, dass man in der Lage ist, sich zu konzentrieren.2

Diesem positiv besetzten, diffusen Hintergrundrauschen stehen oftmals störende Geräusche in der Bibliothek gegenüber. Ob nun das Telefonieren oder die Smartphonenutzung, das Hacken auf der Tastatur, Musikhören (mit und ohne Kopfhörer), Gespräche, Gruppenarbeit oder die Teilnahme an Online-Veranstaltungen: Lärm – so soll es Kurt Tucholsky gesagt haben – ist immer das Geräusch der Anderen und kann dadurch auch schnell zu einem konfliktbehafteten Thema werden.3

Ein dritter Aspekt im Hinblick auf die Geräuschkulisse einer Bibliothek ergibt sich aus dem bewussten Ausblenden nahezu sämtlicher Geräusche in bestimmten Funktionsbereichen wie den Lesesälen. Die hier häufig eingeforderte, absolute Stille kann für einen Teil der Nutzer*innen konzentrationsfördernd wirken, von anderen aber gerade als unangenehm empfunden werden. So erklärte Holger Schulze, Professor für Sound Studies, in einem Gespräch mit Dirk Wissen dazu:

Die eher sanften, unendlich kleinen und unvorhersehbar verknäulten Klänge des Zeitungsraschelns erlebe ich als wohltuend. Leere Räume ohne Geräusche, in dem jedes Kugelschreiberklicken oder Umblättern wie ein Donnerhall verstärkt wird, solche Räume sind viel beklemmender und belastender.4

In ganz ähnlicher Weise beschrieb die Historikerin Arlette Farge einmal den Lesesaal eines Archivs:

Die Stille eines Lesesaals ist gewaltsamer als jedes Durcheinandergeschrei einer Schulklasse; wie in einer Kirchenandacht schneidet sie gnadenlos das Blubbern und Gurgeln der Körper heraus, isoliert es, macht sie ebenso aggressiv und bedrohlich wie beängstigend.5

Die positiv wie negativ erfahrenen Geräusche in der Bibliothek können letztlich als Bestandteil eines eigentümlichen Sounds betrachtet werden, der in der einen wie der anderen Weise eng mit der Wahrnehmung der Institution verbunden ist. Gleichzeitig scheint die vorherrschende Geräuschkulisse in Abhängigkeit von spezifischen Faktoren wie der konkreten, individuellen, sinnlichen Wahrnehmung einer Person und ihrer Erwartungshaltung gegenüber der Bibliothek und deren Funktionsbereiche entweder lernförderliche oder lerneinschränkende Auswirkungen zu haben. Obwohl daraus eine gewisse Bedeutung des Themas speziell für die Diskussionen im Zusammenhang mit dem Bibliotheksbau, der Lernraumentwicklung und speziell der Bibliothek als Lernort innerhalb einer Hochschule abgeleitet werden kann, spielt es in den einschlägigen Beiträgen bislang allenfalls eine marginale Rolle. Ausgenommen ist hier freilich die Debatte um die zumeist praktischen Probleme im Umgang mit Lärm und der entsprechenden Herrichtung der Akustik.6 In dieser verkürzten, pragmatischen Sichtweise wird jedoch oft eine Behandlung des Phänomens in theoretischer und konzeptioneller Hinsicht ausgeblendet.7 Dieses Theoriedefizit kann dazu führen, dass man sich in den Debatten mit Unterhaltsträgern, in Projektanträgen und in der Konkurrenz zu anderen Anbietern von Lernräumen auf dem Campus wichtiger Alleinstellungsmerkmale des Lernortes Bibliothek beraubt.

Das grundlegende Problem an dieser Stelle scheint darin zu bestehen, dass aktuell kein Konzept zur Verfügung steht, das jenseits der akustischen Herausforderung des Lärmproblems in der Lage ist, die angedeutete Mehrdimensionalität in einer ganzheitlichen Perspektive zu erfassen und für den bibliothekarischen Diskurs in der Praxis anwendbar zu machen. Es fehlt mit anderen Worten an einem handhabbaren Werkzeug. Die folgenden Ausführungen sollen vor diesem Hintergrund dazu dienen, das Konzept der Soundscape, wie es in den sogenannten Sound Studies und in erster Linie von R. Murray Schafer formuliert worden ist, vorzustellen und dessen potentielle Mehrwerte vor allem für den Bereich des Lernortes Bibliothek zu skizzieren.8 Der Beitrag versteht sich also in erster Linie als Anregung für weitergehende Diskussionen zu diesem Themenbereich.

Das Konzept der Soundscape

In seiner heutzutage zumeist genutzten Form geht der Begriff der Soundscape zurück auf den kanadischen Komponisten und Klangforscher R. Murray Schafer, der ihn in seiner zuerst 1977 erschienenen Studie The Tuning of the World in den wesentlichen Grundlagen ausarbeitete.9 Die Studie basiert dabei in großen Teilen auf dem von ihm initiierten und von der UNESCO unterstützten World Soundscape Project, das er mit seinem Forschungsteam Anfang der 1970er Jahre an der Simon-Fraser-Universität bei Vancouver ins Leben gerufen hat. Aufgabe des Projektes sollte es sein, das akustische Erscheinungsbild von Orten, Räumen, Landschaften und Situationen auf Tonträgern festzuhalten, zu dokumentieren und in ihren Veränderungen über Jahre hinweg zu verfolgen.10

Der Begriff Soundscape ist ein Neologismus, der sich aus Sound und Landscape zusammensetzt.11 In einem Radiointerview Ende der 1990er Jahre beschrieb Schafer Soundscape mit den Worten: Die Landschaft mit den Ohren sehen. Eine etwas ausführlichere Erläuterung lieferte Sabine Breitsameter in einem einführenden Essay zur deutschen Neuübersetzung von Schafers Werk:

Das Konzept Soundscape ist eine Hörgestalt, die in einer bestimmten Wahrnehmungshaltung gründet: in der auditiven Aneignung der Gesamtheit aller Schallereignisse eines Orts, Raums oder einer Landschaft, rundum und vollständig, bis auf den leisesten Laut. Eine Soundscape ist also die akustische Hülle, die den Menschen umgibt.12

Ergänzend merkt Breitsameter an, dass es sich bei der Soundscape gleichzeitig um eine Denkfigur handle, die das auditive Wahrnehmen reformuliere, indem das Rundum-Hören gegenüber einer frontalen Rezeption gefordert würde. Die frontale Rezeption, wie sie in vielen alltäglichen Situationen (stereofones Hören bei Radio, Fernseher, Musikanlage; Bühnensituation oder Frontalunterricht) vorkomme, wird dabei als Regelfall betrachtet.13

Ein wichtiger theoretischer Aspekt, der hier in den Begriffen Wahrnehmung und Aneignung lediglich implizit thematisiert ist, bezieht sich auf die Rolle der Hörenden. Diese sind in der vorliegenden Vorstellung nicht mehr lediglich passive Empfänger*innen, sondern im Sinne einer neueren kulturwissenschaftlichen Sichtweise der Wahrnehmung und Aneignung vielmehr Akteur*innen und aktiv Einfluss nehmendes Elemente ihrer Umwelt.14 Wahrnehmen ist teilnehmen, wie Sabine Breitsameter schreibt.15 Diese Sichtweise verortet das Konzept Soundscape schließlich, wie viele andere kulturwissenschaftlich und konstruktivistisch beeinflusste Konzepte der jüngeren Vergangenheit, in einem Spannungsfeld zwischen gemacht und machend. In diesem Sinne hat Emily Thompson die Soundscape wie folgt definiert:

Like a landscape, a soundscape is simultaneously a physical environment and a way of perceiving that environment; it is both a world and a culture constructed to make sense of that world. The physical aspects of a soundscape consist not only of the sounds themselves, the waves of acoustical energy permeating the atmosphere in which people live, but also the material objects that create, and sometimes destroy, those sounds. […] A soundscape, like a landscape, ultimately has more to do with civilization than with nature, and as such, it is constantly under construction and always undergoing change.16

Die Parallelen dieser Konzeptualisierung zu gegenwärtigen raumtheoretischen Überlegungen sind offensichtlich und bieten Anknüpfungspunkte für die Integration des Konzepts in die aktuellen Lernraumdebatten. Für den Moment kann festgehalten werden, dass es sich bei der Soundscape auf der einen Seite um die Gesamtheit aller Schallereignisse eines Orts, Raums oder einer Landschaft handelt einschließlich der materiellen Grundlagen, die zur Erzeugung, Leitung oder Brechung vorhanden sind. Auf der anderen Seite steht freilich die wahrgenommene Wirkung der konkreten Konfiguration einer Soundscape auf das Individuum. Hier finden Prozesse der Aneignung und Interpretation statt, die unter anderem durch Vorerfahrungen, Erwartungshaltungen, Sozialisierung, kontextbezogene Verhaltensweisen und Normen beeinflusst werden. Erst durch diese Leistung der Aneignung und Interpretation wird die an sich bestehende Soundscape zur Realität einer Person. In genau diesem Sinne werden dann aus den passiven Hörenden konkrete Akteur*innen, welche die je eigene Soundscape im Moment des Hörens gleichsam herstellen:

Die Soundscape ist ein prägnantes Modell dafür, wie Raum durch den Akt der Wahrnehmung geschaffen und durch den Hörer-Akteur performativ erfahrbar gemacht wird. Dessen wahrnehmendes Handeln konstituiert den Raum, der sich, ausgehend von seinen jeweiligen Akteuren, immer wieder aufs Neue definieren kann. Dieser Raum ist, ebenso wie seine Grenzen, fließend.17

Elemente der Soundscape

Zur konkreten Beschreibung einer Soundscape führt Schafer drei zentrale Begriffe ein: 1.) Grundlaut, 2.) Signal, 3.) Lautmarke. Die Bedeutung des Grundlauts entlehnt Schafer der Musiktheorie, in dem er den Grundlaut als jenen Grundton definiert, den die anderen umspielen, der aber nicht immer zwangsläufig auch bewusst gehört wird. Obwohl er überhört werden könne, sei ein Ignorieren indes nicht möglich, weil das Wahrnehmen von Grundlauten auch unwillkürlich zu Hörgewohnheiten führe. Grundlaute seien allgegenwärtig und prägten daher die Stimmung und das Verhalten von Menschen nachhaltig. Als Beispiel nennt Schafer den Grundlaut einer Landschaft, der von ihrer Geografie, ihrem Klima, dem Wind, den Wäldern, Wiesen, Vögeln, Insekten und Tieren hervorgebracht werde.18

Signale dagegen seien Vordergrundgeräusche, die bewusst gehört werden. Da man im Grunde jedem Geräusch oder Klang bewusst zuhören kann, kann letztlich alles zum Signal werden. Schafer merkt aber gleichzeitig an, dass es spezifische Formen von Sound gibt, die explizit als Signal wirken sollen. Dazu zählen zum Beispiel Warngeräusche wie Sirenen, Hörner, Pfeifen oder Glocken.19

Abzuheben vom Signal ist noch einmal die Lautmarke. Darunter versteht Schafer Klänge und Geräusche einer Gemeinschaft, die einzigartig sind oder Qualitäten aufweisen, aufgrund derer ihnen innerhalb der Gemeinschaft eine besondere Bedeutung zukommt[.]20 Lautmarken seien geeignet, einer Gemeinschaft Identität zu verleihen und sollten daher bestmöglich geschützt werden. Als ein Beispiel für eine derartige Lautmarke wird die Glocke als sinn- und identitätsstiftendes Element der christlichen Gemeinschaften genannt:

Das markanteste akustische Signal der christlichen Gemeinschaft ist, wie bereits erwähnt, die Kirchenglocke. Sie definiert die Gemeinde als akustischen Raum, der durch die klangliche Reichweite der Glocke abgegrenzt wird. […] Der Ruf der Glocke bringt die Gemeinde zusammen, vereint sie im sozialen Sinne und führt den Menschen mit Gott zusammen.21

Ein weiteres essentielles Element im Konzept der Soundscape ist für Schafer die Unterscheidung zwischen einer High Fidelity- (Hi-Fi) und einer Low Fidelity-Soundscape (Lo-Fi). Beide Begrifflichkeiten beschreiben dabei das Verhältnis zwischen Signal und Rauschen, wobei dieses in einer Hi-Fi-Umgebung günstiger sei, da sich die einzelnen Laute nur selten überlappten und sich dadurch deutlich von den Umgebungsgeräuschen abheben würden (hohe Klangtreue).22 Demgegenüber würden in einer Lo-Fi-Soundscape die einzelnen akustischen Signale von einer übermäßig verdichteten Anhäufung von Lauten23 überdeckt (geringe Klangtreue). Die Folge sei, dass sich alle Laute durch- und miteinander mischten. Damit man in diesem Kontext überhaupt noch einzelne Laute wahrnehmen könne, müssten diese immer mehr verstärkt werden.24

Mit der Unterscheidung von Hi-Fi- und Lo-Fi-Soundscape verknüpft Schafer in der Folge weitere Gegensatzpaare: So führt er eine räumliche Dimension der Soundscape ein, indem er der Hi-Fi-Soundscape die Möglichkeit zuschreibt, tief in die Ferne zu hören. Dadurch ergebe sich eine deutlich wahrnehmbare akustische Perspektive von Vordergrund und Hintergrund, die er in erster Linie auf dem Land verortet sieht.25 Im Gegensatz dazu gehe diese Hörperspektive in der Lo-Fi-Umgebung der Stadt verloren:

An der Straßenecke eines modernen Stadtzentrums gibt es keine Ferne; dort gibt es nur unmittelbare Anwesenheit.26

Während dieser Gegensatz nachvollziehbar wirkt, wird sein zweites Gegensatzpaar zuweilen deutlich kritischer betrachtet: So historisiert Schafer den Gegensatz Hi-Fi / Lo-Fi, indem er die Entstehung einer Lo-Fi-Klangumwelt an die Industrialisierung und die damit einhergehende Urbanisierung knüpft. In dieser Dichotomie reproduziert sich bei Schafer gleichsam der Gegensatz Natur / Kultur beziehungsweise Technik. Beispiele für eine Zunahme der Geräusche und der Geräuschpegel seien der Verbrennungsmotor, Industrie- und Haushaltsmaschinen, die Eisenbahn oder der moderne Luftverkehr.27 Einen vorläufigen Höhepunkt erreichte diese Entwicklung nach Meinung Schafers mit der Elektrischen Revolution, die unter anderem dazu geführt habe, dass ein Laut von seinem ursprünglichen Entstehungskontext abgespalten und elektroakustisch übertragen oder reproduziert werden konnte. Der Impetus von Schafers Aktivitäten wird hier besonders deutlich, wenn er in diesem Zusammenhang von einer imperialistischen Klangüberschwemmung spricht und resümiert, dass die Soundscape der Welt spätestens mit der Elektrischen Revolution in einen anhaltenden Lo-Fi-Zustand abgeglitten sei.28

Aufgrund der gesellschaftspolitischen Stoßrichtung wurde der ökologisch geprägten Klangforschung mitunter eine normative bias unterstellt, die es im Rahmen einer Rezeption der Ansätze zu berücksichtigen gilt.29 Freilich muss den Arbeiten von Schafer und anderen in diesem Zusammenhang zugutegehalten werden, dass sie auf die gesellschaftlichen und gesundheitlichen Auswirkungen einer Lärmbelastung und akustischen Umweltverschmutzung aufmerksam gemacht haben. Gleichwohl erscheint gerade seine Unterscheidung von Hi-Fi und Lo-Fi einen Ansatzpunkt zu liefern, der für die bibliothekarischen Diskussionen rund um den Lernort weiterführend ist.

Die Soundscape Bibliothek als klangliche Heterotopie

Geht man von der Prämisse Schafers aus, wonach sich die moderne Gesellschaft in einem anhaltenden Lo-Fi-Zustand befindet, dann kommt all jenen Orten eine besondere Bedeutung zu, in denen dieser Zustand ausgesetzt oder reduziert wird.30 Im Folgenden soll argumentiert werden, dass Bibliotheken solch einen Ort darstellen, in dem sie der Lo-Fi-Umwelt der modernen Welt eine Art Hi-Fi-Umgebung entgegensetzen. Sie bilden dadurch eine klangliche Heterotopie, die ein charakteristisches Merkmal der Institution bildet und daher in den Debatten um den Lernort Bibliothek entsprechend berücksichtigt werden sollte. R. Murray Schafer selbst deutete bereits diese Stellung der Bibliothek an, als er schrieb:

Der Mensch erhielt sich Reservate der Stille in seinem Leben, um seinen geistigen Stoffwechsel auszugleichen. Selbst in den Herzen der großen Städte gab es die dunklen, stillen Gewölbe der Kirchen und Bibliotheken […].31

Michel Foucault hat für diese besonderen Orte innerhalb der Gesellschaft das Konzept der Heterotopie formuliert.32 Foucault versteht darunter einen anderen Ort, der aufgrund seiner Beschaffenheit aus einem gegebenen gesellschaftlichen Zusammenhang herausragt, weil er zum Beispiel bestehende Normen, gesellschaftliche Praktiken oder selbst die ansonsten unhinterfragbaren Wahrheiten einer Gemeinschaft transzendiert, bricht, aussetzt oder anderweitig verformt. Es sind also Gegenorte, in denen die alltäglichen Funktionen des menschlichen Lebensraums außer Kraft gesetzt werden.33 Im Gegensatz zur Utopie handelt es sich bei Heterotopien nach Foucault um wirkliche und konkret lokalisierbare Orte. Dass Bibliotheken als Heterotopie firmieren, ist dabei keine neue Erkenntnis. Foucault selbst hat sie bereits als Beispiel genannt.34 Und auch in der Fachdiskussion kommt es hin und wieder zu entsprechenden Herleitungen oder Assoziationen.35 Die Fokussierung auf den klanglichen Aspekt ihrer heterotopischen Eigenschaft ist indes etwas Neues, das es zu plausibilisieren gilt.

Im Grunde kann die Eigenschaft als klangliche Heterotopie mindestens bis zur Institutionalisierung der modernen Bibliotheken zurückverfolgt werden. So hatte bereits Thomas Bodley (1544–1612), Namensgeber der Bodleian Library, in den Statuten für die Nutzung der Bibliothek festgehalten, dass die Nutzenden einen Eid zu schwören hatten. Darin hieß es gleich zu Anfang:

You shall Promise and Swear in the Presence of Almighty God, That whensoever you shall repair to the Publick Library of this University, you will conform your self to study with Modesty and Silence.36

Und auch heutzutage sind Regelungen zum angemessenen Verhalten in Bibliotheken in der Regel in den Benutzungsordnungen enthalten, darunter häufig auch in der Form, dass die ruhige Arbeitsatmosphäre (primär im Lesesaal) nicht gestört werden dürfe.37 Deutlicher tritt die Bibliothek in ihrer Eigenschaft als klangliche Heterotopie allerdings dann auf, wenn dieser Zustand gestört wird. So schrieb beispielsweise Sallie Tisdale in einem kritischen Beitrag zur Lärmzunahme in US-amerikanischen, öffentlichen Bibliotheken im Harper’s Magazine vom März 1997 über die Bibliotheken ihrer Jugend:

This was a place set outside the ordinary day. Its silence – outrageous, magic, unlike any other sound in my life – was a counterpoint to the interior noise in my crowded mind. It was the only sacred space I knew, timate and formal at once, hushed, potent.38

Steven Bell nahm später die Klage von Tisdale unter der Überschrift The Death of the Refuge in seine eigene Stellungnahme zum Lärmproblem in Bibliotheken auf.39

Auch bei Jonas Fansa, in dessen Studie Bibliotheksflirt, wird der heterotope Charakter der Bibliothek deutlich, wenn diese als etwas beschrieben wird, in das man eintrete wie in eine andere Welt. Folgerichtig beschreibt ein Nutzer den Eingangsbereich als Übergangszone zwischen der Außenwelt und der Konzentrationswelt der Bibliothek.40 Zur Erläuterung dieser Konzentrationswelt kann folgende Aussage dienen:

Es ist eine Atmosphäre, in der ich nicht ganz bewusst Konzentration herstellen muss. Oder: Es ist ein Raum, in dem eben die Atmosphäre von Konzentration schon gegeben ist.41

Fansa beschreibt dieses Phänomen abwechselnd mit einer spezifischen Bibliothekskonzentration oder mit einer out-of-the-Box-Konzentration, die durch das atmosphärische Ensemble der Bibliothek begünstigt werde und ein Alleinstellungsmerkmal der Institution bilde.42

In ganz ähnlicher Weise attestierte zuletzt André Schüller-Zwierlein in seiner Studie Fragilität des Zugangs den Bibliotheken eine Muße- und Konzentrationskompetenz.43 Die Voraussetzung dafür sei, dass Bibliotheken Räume eigener Art darstellten, die das normale Leben mit seinen verschiedenen Ablenkungen ausschließen und gerade deshalb für das konzentrierte Arbeiten, Denken, Sinnieren prädestiniert seien. Charakteristisch für diese Funktion von Bibliothek ist auch nach Schüller-Zwierlein die vorherrschende Konfiguration der Soundscape:

Die ausschließliche Anwesenheit Gleichgesinnter, die statische Stille ihrer Bücherwände – Bibliotheken sind der einzige Ort, wo wir gemeinschaftlich still sind – haben auch im elektronischen Zeitalter die Funktion, Ablenkungen fernzuhalten.44

Wichtig erscheint in diesem Zusammenhang, dass es sich bei dieser gemeinschaftlichen Stille nicht um die völlige Abwesenheit von Geräuschen handelt. Diese Form von Stille wird laut Schafer vom Gros der westlichen Bevölkerung als eher negativ empfunden, weil der Mensch sich nicht zuletzt über Klänge vergewissere, dass er nicht alleine sei.45 Die völlige Stille könne demnach in letzter Instanz als Negation des Menschseins aufgefasst werden.46 Dagegen deuten Beschreibungen der Atmosphäre in Bibliotheken wie knisternde Ruhe47 oder geräuschvolle Stille48 eher darauf hin, dass es um die Qualität der vorherrschenden Soundscape geht. Einen entsprechenden Hinweis liefert etwa Sallie Tisdale, wenn sie ihre Vorstellung von Silence in der Bibliothek schildert:

The silence I remember from my childhood library […] is the thick, busy silence one sometimes finds in an operating room. It is profoundly pleasing profoundly full. There used to be such silences in many places, in open desert and in forests, in meadows and on riverbanks, and something of this kind of silence was common, a century or so ago, even in small towns, broken only by the unhurried sounds of unhurried people. There is no such silence in the world now; in every corner we live smothered by the shrill, growling, strident, piercing racket of crowded, hurried lives. The street is noisy, stores and banks and malls are noisy, classrooms are noisy, virtually every workplace is noisy.49

Auch Christine Niehoff sieht in der anzustrebenden Stille der Bibliothek eher eine Fülle niedriger und als beruhigend empfundener Schallwellen, die sie im Konzept der Bibliothekskonzentration verwirklicht sieht.50 Sehr schön wird der Unterschied zwischen einer lernförderlichen und störenden Geräuschkulisse auch bei Lucia Hacker deutlich. In ihrer Arbeit zum Lärmort am Beispiel der Universitätbibliothek Erfurt hat sie unter anderem die Geräuschpegel einzelner Bereiche erfasst und verglichen. Eine interessante Beobachtung ergibt sich dabei aus dem Vergleich zweier Bereiche mit annähernd gleichen Geräuschpegeln. So wurden für den Garderobenbereich (55dB) und den sogenannten offenen Bereich (48dB), der sich hinter dem Haupteingang befindet, nahezu gleiche Dezibelwerte gemessen. In der Auswertung merkt die Autorin jedoch an:

Für das eigene Empfinden waren diese Geräusche jedoch durchaus unterschiedlich in ihrer Qualität. Während man die Geräuschkulisse im Offenen Bereich eher als ein, teils durchaus anregendes Hintergrundrumoren beschreiben könnte, ist es – vor allem in den Stoßzeiten – im Garderobenbereich einfach nur … Lärm.51

Während es bislang an konkreten Möglichkeiten zur Beschreibung dieser Phänomene fehlte, bietet das Konzept der Soundscape als klanglicher Heterotopie ein mögliches sprachliches Instrumentarium an. Mit der Unterscheidung einer Hi-Fi- zu einer Lo-Fi-Umgebung lassen sich die Unterschiede zwischen störendem Lärm und anregendem Hintergrundrauschen genauer fassen. Wichtig dabei ist, dass es nicht einfach darum geht, die Lautstärke zu senken, sondern im Sinne des Hi-Fi-Konzeptes von Schafer eine wohlgeordnete akustische Umgebung zu gestalten, in der die übermäßig verdichtete Anhäufung von Lauten reduziert wird.52 So würde eine positive Immersionserfahrung wie die Bibliothekskonzentration möglich, die stimulierend und lernförderlich ist – ein akustisches Rauschen, [das] einen auch in einer Weise isoliert, dass man in der Lage ist, sich zu konzentrieren.53

Potentielle Anschlussthemen für das Soundscape-Konzept

Bislang ist die Soundscape in ihrer Form als klangliche Heterotopie lediglich in ihrer Beziehung zur Außenwelt dargestellt worden. Das ist zwar entscheidend, wenn es um die Frage des Alleinstellungsmerkmals von Bibliotheken geht. Allerdings darf dies nicht den Eindruck erwecken, dass es nach innen eine einheitliche, monolithische Soundscape gebe. Im Gegenteil nimmt ihr postulierter Doppelcharakter aus einer gegebenen Situation und der letztlich wahrgenommenen akustischen Umwelt jüngere Entwicklungen im Bereich des Lernortes auf. Das prägnanteste Beispiel dafür sind die diversen Zonierungsprojekte und -initiativen, die in der jüngeren Vergangenheit umgesetzt worden sind, um auf die sich ausdifferenzierenden Lern- und Arbeitsszenarien zu reagieren.54 Dass die Betrachtung der jeweiligen Geräuschkulissen in diesem Zusammenhang hilfreich sein kann, legt unter anderem die Studie von Lucia Hacker nahe. Die von ihr erstellten Soundkarten sind ein erster Schritt auf dem Weg zu einem empirisch gestützten Verständnis der Soundscape Bibliothek. Gleichzeitig zeigen diese Karten, wie der Bibliotheksraum in unterschiedliche akustische Räume zerfällt, die jeweils eigenen Regeln folgen und dadurch auch spezifische Geräuschkulissen erzeugen. Diese Räume bestehen im Sinne des Soundscape-Ansatzes allerdings nicht einfach, sondern werden durch die Praktiken der Anwesenden, also deren konkretes Lern- und Arbeitsverhalten vor Ort, die Interaktion mit anderen Personen sowie dem Mobiliar und technischen Equipment und auch der Bewegung der Körper im Raum, immer wieder neu hergestellt und reproduziert. Aufgrund der Vielzahl derartiger Räume und der damit verbundenen Komplexitätssteigerung der jeweils geltenden Regeln und gewünschten Verhaltensweisen (Aufhebung einer einheitlichen Norm), kann es sinnvoll sein, über zusätzliche stabilisierende Maßnahmen dieser einzelnen Räume nachzudenken.55 Das könnten etwa Policies sein, die unter anderem die konkreten Regeln und Normen für einen bestimmten Bereich wiedergeben, idealerweise nicht nur als Pflicht für die Nutzer*innen, sondern auch als Verpflichtung für die Bibliothek und deren Mitarbeiter*innen.56

Die Erweiterung des Verständnisses der Soundscape durch empirische Untersuchungen ist ein eigenes zukünftiges Betätigungsfeld. Die genauere Bestimmung der vorherrschenden Grundlaute, der als positiv und negativ empfundenen Signale und eventuell identitätsstiftender Lautmarken in Verbindung mit systematischen Messungen können als Grundlage eines fundierteren Lärmmanagements der Bibliotheken dienen. So gibt es zwar bereits jetzt eine Reihe von bekannten Lärmquellen, die aber noch zu selten kategorisiert und hierarchisiert werden. Auf der Grundlage von Schafers Hi-Fi-/Lo-Fi-Unterscheidung kann es aber durchaus sinnvoll sein, in der Problemanalyse und Problembearbeitung die störenden Geräusche durch technische Gerätschaften wie Kopierer, Drucker, Computer/Laptops oder Klimaanlagen von jenen durch Menschen verursachte (Gespräche, Lachen, Bewegung im Raum et cetera) deutlicher zu unterscheiden.57 Nach Schafer weisen nämlich gerade Maschinen und Geräte eine künstlich-statische Geräuschlinie auf und erzeugen damit in der Regel Laute von geringem Informationsgrad und hoher Redundanz58, wodurch sie sich von den Menschen gemachten unterscheiden.

Abschließend sei auf einen weiteren Aspekt der Thematik verwiesen. Konflikte um Lärm in Bibliotheken sind ein bekanntes und häufig anzutreffendes Thema. Steven Bell wählt in seinem Beitrag zum Noise Management nicht ganz zu Unrecht eine drastische Sprache, um das Problem zu beschreiben. So spricht er unter anderem von the library’s battle royal over noise oder vom battlefield und vergleicht die Situation mit einem Wild West frontier town saloon.59 Auch wenn andere Studien und Beiträge eine weniger nachdrückliche Sprache benutzen, bestätigen sie doch alle den grundsätzlichen Befund: Es wird lauter in Bibliotheken und das führt zu Konflikten. Interessanterweise wird jedoch selten jenseits der praktischen Probleme und Lösungsversuche nach einer symbolischen Bedeutungsebene dieser Konflikte gefragt.60

Monika Dommann zeigte in diesem Rahmen sehr schön, dass sich im Kampf um Lärm oftmals grundsätzliche asymmetrische Gegensatzpaare61 reproduzieren, weil Lärm am Ende nicht gemessen werden kann, sondern dann entsteht, wenn Menschen Geräusche als Störung wahrnehmen.62 Lärm ist somit zuallererst ein soziales Konstrukt, das zwischen unterschiedlichen Akteuren ausgehandelt wird.

So protestierten und agitierten etwa im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert Vertreter des Bürgertums gegen den zunehmenden Lärm auf den Straßen der Städte. Lärm wird hier primär der Stadt, der Masse, den Ungebildeten, den Unmündigen und Unnützen zugeschrieben, also den kreischenden Strassenverkäufern, den peitschenknallenden Knechten, den trommelnden Kindern oder den musizierenden Almosensammlern.63 Bei Schopenhauer nimmt das Ganze die Form eines Klassen- und Kulturkampfes an, wenn er schreibt: Lärm ist eine Waffe der Handarbeiter im Krieg mit den Kopfarbeitern.64 Und Peter Bailey erinnert in einem Beitrag daran, dass die Entscheidung, wann etwas als Lärm gilt, und wo und wann Ruhe zu herrschen habe, letztlich eine Machtfrage sei. Das bewusste Unterlaufen solcher Ruhegebote bedeutet somit auch stets einen Akt der Devianz oder Subversion und damit eine Störung der bestehenden Ordnung.65

Angesichts dessen bekommen womöglich die Beschwerden älterer Studierender über das zu laute und störende Verhalten jüngerer Studierender, vor allem der Erstsemester, wie es etwa in der Studie von Lucia Hacker dokumentiert ist, eine zusätzliche Bedeutung.66 Eklatant wird das Ganze, wenn ein Interviewpartner von Hacker dazu erläutert, dass diese Studierenden offenbar noch glaubten, der Wunsch nach Ruhe komme von oben. Ihnen fehle also noch das Verständnis dafür, dass sich die (älteren) Studierenden selbst durch das nichtangepasste Verhalten gestört fühlen könnten. Entscheidend ist, dass er das Problem am Ende durch eine fehlende Erfahrung beziehungsweise Sozialisierung erklärt, die diese Neuen erst selbst (durch-)machen müssten. Die störenden Erstsemester erscheinen somit als unwissende, ungebildete Masse, die erst noch mit den Spielregeln vertraut gemacht werden müsse. Noch deutlicher wird das am Beispiel störender Teenagergruppen, die offenbar eine Art Schnitzeljagd durch die Bibliothek machten:

Dabei rasten sie zum Teil wie bei einer Schnitzeljagd durch die Etagen, diskutierten in Vierergrüppchen lautstark über ihre Fortschritte, lachten und alberten. Ein schönes Beispiel dafür, dass Bibliothekskultur etwas ist, das man erst erlernen muss. Eine große und kontinuierliche Aufgabe für die Teaching Library.67

Die Frage nach der symbolischen Bedeutungsebene der Lärmprobleme kann somit spezifische Identitätskonstruktionen offenbaren, die, Nutzer*innen zum Bestandteil einer Bibliothekskultur machen und diese Identität von anderen abgrenzt. Gleichzeitig werden Erwartungshaltungen kommuniziert, die sich in diesem Beispiel konkret an die Bibliothek als sozialdisziplinierende oder sozialisierende Institution richten. Weitere Konfliktlagen sind in diesem Zusammenhang durchaus denkbar. Besonders interessant könnten bewusst deviante Verhaltensweisen sein, die in dieser Form eventuell auf Defizite oder Mängel in der Lernraumgestaltung hindeuten. So können die Konflikte um den Lärm auch positiv gewendet und zu einem Innovationsmotor werden.

Eine interessante Frageperspektive im Zusammenhang mit der identifikatorischen Wirkung der Soundscape ergibt sich aus dem Vorbild des Spotify-Kanals der UB Leipzig. Eingerichtet zu Pandemiezeiten, wirbt die Bibliothek damit, den authentischen Lesesaal-Soundtrack zu den Nutzer*innen nach Hause zu bringen. Das Angebot ist seit seiner Einführung 2021 nach Angaben der Bibliothek gewachsen.68 An dieser Stelle muss man sich fragen, ob die spezifische Geräuschkulisse der Bibliothek bereits zu einem eigenständigen Gut geworden ist, das sogar außerhalb des physischen Ortes einen eindeutigen Wiedererkennungswert hat. Oder funktioniert dies nur dann, wenn man als Nutzer*in bereits die spezifische Immersionserfahrung des Arbeitens und Lernens im physischen Ort gemacht hat?

Fazit

Das Konzept der Soundscape scheint geeignet, die bisherigen Erkenntnisse zum Thema der Wohlfühlatmosphäre beziehungsweise der Bibliothekskonzentration in Bibliotheken zu bereichern und zu präzisieren, indem es den Fokus auf einen bislang vernachlässigten Aspekt der Lernort-Debatte wirft. Es stellt die theoretische Grundierung für ein in der Praxis zu beobachtendes Phänomen dar und hilft so, eine Kontextualisierung vorzunehmen. Das Konzept der Soundscape avanciert damit zu einem analytischen Werkzeug, das vielfältig eingesetzt werden kann: als Frageperspektive für weitere Studien, als These zur Plausibilisierung oder Falsifizierung, als Sammelbegriff für positive und negative Effekte der genuinen Geräuschkulisse in Bibliotheken oder als Anknüpfungspunkt für die Integration in andere Diskussionszusammenhänge wie etwa Lernraumentwicklungsdebatten.

Der Blick auf die Soundscape und deren Funktion als klangliche Heterotopie unterstreicht am Ende die große Bedeutung von Bibliotheken als physische Orte. Bibliotheken bieten mit ihrem spezifischen Sound of Silence einen außergewöhnlichen und offensichtlich gesellschaftlich wichtigen Service an und sollten dieses Alleinstellungsmerkmal schützen, fördern und ausbauen.

Literatur

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Boris Queckbörner hat Geschichte und Politikwissenschaft studiert. Nach mehreren Jahren in der Forschung und Lehre im Bereich Geschichte an den Universitäten Marburg und Kassel hat er in Berlin den Master in Bibliotheks- und Informationswissenschaft erworben. Er hat in verschiedenen Positionen an der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek in Göttingen gearbeitet und war dort zuletzt stellvertretender Abteilungsleiter der Benutzungsabteilung. Aktuell ist er Leiter der Hochschulbibliothek der Hochschule für Technik und Wirtschaft in Dresden. Sein besonderes Interesse gilt Fragen der Lernraumgestaltung sowie der Organisationsentwicklung.

ORCID: https://orcid.org/0000-0003-4025-5692

ROR: https://ror.org/05q5pk319

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