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The Sound of Gesprochene Wikisource

Digitale Sammlungen klingen erstmal nicht. Aber dann.
‘Spoken Wikisource – German’ enthält Töne von Joachim Ringelnatz, gesprochene, Texte aus ‘Die Gartenlaube’, auch ‘spoken’, Stimmen und Ideen. Der Klang der ‘Gesprochenen Wikisource’ ist vielschichtig beziehungsweise kann und könnte er sehr vielseitig sein – metaphorisch als der Klang des Projekts ‘Gesprochene Wikisource’, durch die Stimmen der beteiligten Gemeinschaften oder der Räume, in denen diese Aufnahmen entstehen; zum Beispiel Tonstudios, in denen Sprecher:innen sprechen.
Gesprochen werden Textquellen aus Wikisource akustisch erfahrbar. Wahrnehmbar wird dadurch nicht nur der Inhalt, sondern auch eine Textinterpretation. Im Bibliothekskatalog gibt es diese Möglichkeit noch nicht, die Quellen sind entweder als Text oder Audio verfügbar, hybrid selten.
Beim Einsprechen und Hören ist ein Teil der Rezeption zu spüren: Wie verstehe und interpretiere ich den Text einer Vorleser- oder Sprecherin, die sich mit gesprochenem Volltext des Portals Wikisource auseinandersetzt?! Dabei findet Interpretation statt, mehr als eine.
Wikisource gewinnt so als gesprochene digitale Sammlung weitere Deutungs- und Metaebenen – Nuancen, Zugänge und Freiheitsgrade, Bedeutungen, Links. Dieser ‘Sound of Gesprochene Wikisource’ ist ein Nachhall medialer Auseinandersetzungen mit … Text in einer Bibliothek. Die Autorinnen berichten, betonen und spielen dabei mit Aspekten der ‘Gesprochenen Wikisource’ in historischen, bibliophilen und modernen Linkzusammenhängen mit dem Podcaststudio der SLUB, mit den offenen Kulturdaten des Dresdner Geschichtsvereins, mit 'DatenlaubeJam' am Dienstag und Lesungen im Advent – ‘The Sound of Wikisource’ sozusagen, ‘read, spoken and linked open’.


Zitiervorschlag
Jens Bemme, Caroline Förster, Juliane Flade, "The Sound of Gesprochene Wikisource". LIBREAS. Library Ideas, 45 ().


Anmerkung zum Abstract: Vertiefte Informationen zu den angesprochenen Projekten sind unter diesen Links zu finden: Spoken Wikisource – German1; Joachim Ringelnatz spoken2; Die Gartenlaube spoken3; mehr zum Tonstudio4 und zum DatenlaubeJam5.

Einleitung

Was meint ihr wohl, was eure Eltern treiben,

Wenn ihr schlafen gehen müßt?

Und sie angeblich noch Briefe schreiben.

Ich kann’s euch sagen: (…)

Ja, was kann man abends alles machen? Lesen, Transkribieren, Editieren und Edieren. Die Verszeilen An Berliner Kinder von Joachim Ringelnatz stehen im Kinder-Verwirr-Buch von 1931. Das Gedicht und das Buch wurden transkribiert und sind Teil der deutschsprachigen Wikisource.6 Man findet den Text vertont längst auf YouTube,7 seit Weihnachten 2023 auch eingesprochen8 in Wikimedia Commons – verknüpft in den Wikisourceseiten, in Wikidata und eingebettet in Blogbeiträgen.9 So klingt ’Gesprochene Wikisource’ für uns.

[[Sound of…]] Hackathon, Editathon, dienstags

Anfang 2022 begannen wir beim wöchentlichen DatenlaubeJam Schriften des Dresdner Geschichtsvereins aus den Jahrzehnten um 1900 für Transkriptionen mit Wikisource ins Auge zu fassen.10 Ein paar Aktive, andere Freunde des Vereins und die Geschäftsführerin öffneten von da an dienstags morgens Browser und Webcams, um zu lernen mit den Methoden der Datenlaube erst ein Mitgliederverzeichnis und dann reihenweise Vereinsmitteilungen und Sonderveröffentlichungen in Wikisource11 neu zu publizieren.12

Hinzu kam das Podcaststudio in der Zentralbibliothek der Staats-, Landes- und Universitätsbibliothek (SLUB), das 2022 eingerichtet wurde, als neue Infrastruktur für digitale Töne. Erste Aufnahmen selbstgewählter Texte entstanden dort an einem vorweihnachtlichen Dienstagmorgen im Advent gemeinsam: Technikschulung, Gedichte von Ringelnatz, kurze Artikel aus der Gartenlaube – eine kleine Weihnachtsfeier.13 Seitdem wächst die Liste fertiger Transkriptionen und damit der Fundus umfangreicher Vereinsmitteilungen um 1900, kurzer und unterhaltender Dresdner Geschichtsblätter14, die bisher zwar gescannt und mit Optical Character Recognition (OCR) in digitalen Sammlungen der SLUB aber gänzlich unbearbeitet zugänglich waren. 2024 werden möglicherweise einige dieser – unserer – Geschichtsblätter eingesprochen und neu veröffentlicht, möglicherweise wieder im Advent.

Wichtig dabei: Austausch, Spaß, Reflexion und Gruppendynamik. Von Hackathon ist immer (dienstags)15, einem inoffiziellen Leitspruch des DatenlaubeJams, gibt es längst Varianten: Editathon (auch) ist immer und Hackathon ist immer (öfter). Fast alle historischen Mittheilungen des Geschichtsvereins sind komplett in Wikisource bearbeitet. Die Autor:innen verwiesen darin auf ihre weiteren Veröffentlichungen und auf andere Referenzen, zum Beispiel in den Dresdner Geschichtsblättern. Diese Verweise können wir in Wikisource direkt verlinken und in Wikidata nachweisen (WikiCite16). Band 1 der Geschichtsblätter ist fast komplett, der zweite wird in Kürze gemeinsam korrigiert, Band 3 folgt.17

Vereins- und Beteiligungsprojekt

Mit dem Seitenprojekt Gesprochene Wikisource geht es einerseits um die Inhalte und die Nutzung der historischen Texte. Basis sind auf der anderen Seite die Textproduktion und -edition: die Erstellung und das eigenhändige Bearbeiten – also das Transkribieren – von Vereinsmitteilungen, Aufsätzen und Artikeln als Aktivität des Geschichtsvereins mit dem Team der Datenlaube und der Bibliothek.

Was motiviert uns, als Aktive, Mitglieder des Geschichtsvereins, Gründer des Datenlaube-Projekts und Mitarbeiter:innen der SLUB? Die Motivation, mit Wikisource ehrenamtlich tätig zu werden, speist sich aus eigenem Interesse an Geschichte in Dresden, Anerkennung und dem Gefühl von Selbstwirksamkeit in einer Gemeinschaft ähnlich tickender Menschen. Welche Themen wecken überhaupt Interesse? Der Dresdner Geschichtsverein – vielmehr der historische Vorgängerverein – war als Herausgeber geschichts(bürger)wissenschaftlicher Schriften äußerst produktiv. Wir haben hier einen reichen Fundus von Textquellen, die für Dresden Stadtgeschichte beschreiben. Die SLUB erprobt nebenbei Citizen Science sowie Crowdsourcing und gewinnt weitere digitale Versionen plus Katalogisate historischer Drucke.

Teilnehmer:innen am DatenlaubeJam suchen sich Texte selbst aus, die sie bearbeiten, und sind dann meist begeistert. Diese Bearbeitung ist zeitlich nicht an den DatenlaubeJam gebunden und geschieht unabhängig. Jede:r arbeitet weitgehend autonom in Wikisource und bei Bedarf mit Wikimedia Commons und Wikidata.

Anerkennung bietet der DatenlaubeJam, die digitale morgendliche Austauschrunde jeden Dienstag. Aber auch der Geschichtsverein, der Ergebnisse dieser Arbeiten in Dresdner Heften, in Vorträgen und Artikeln aufgreift und publik macht.18

Selbstwirksamkeit entsteht hier aus erlernter digitaler Methodenkompetenz und gegenseitiger Hilfe. Die Bedienoberfläche von Wikisource für sich zu erschließen, dort immer sicherer und schneller zu werden, ist Erfolg und Ansporn. Dabei erhalten alle Unterstützung von erfahrenen Wikisourclern innerhalb und außerhalb der sich regelmäßig treffenden Gruppe. Diese Selbstwirksamkeit ist ein gewichtiges Motiv für diese Form bürgerwissenschaftlichen Arbeitens: Transkriptionen und Citizen Science mit historischen Quellen der Geschichtswissenschaft, deren bibliografischer Erschließung, Edition und schließlich Vertonung für Gesprochene Wikisource.

Solche selbst vertonten, gesprochenen historischen Quellen fügen dem Bearbeiten und Erleben eine Stufe hinzu: Sprache und Wahrnehmung der eigenen Stimme, verschiedene Ausdrucksweisen, Aufnahmetechnik und gemeinsames Ausprobieren. Oder: Die Scheu, die eigene Stimme zu hören und sich nicht als Profi zu fühlen, schreckt manche:n letztlich ab, einen Wikisourcetext einzusprechen oder die Aufnahme dann auch zu veröffentlichen. So oder so: Das gemeinsame digitale Treffen und Ausprobieren sowie die technische Einführung im Podcaststudio prägen indirekt auch die eigene Arbeit an den Quellen, Texten und Linkzusammenhängen in Wikisource, Wikidata, Commons und in benachbarten Webprojekten, Blogs und Open-Access-Publikationen wie LIBREAS. Der Dresdner Geschichtsverein hat mit Wikisource ein Vereinsprojekt entdeckt und entwickelt. Die Datenlaube vermittelt digitale Methoden. Die Bibliothek bietet Räume, Technik und Begleitung und gewinnt Erfahrungen für die Nutzung des Podcaststudios. Sound entsteht dabei durch Kooperation.

Wikisource inklusive Klang mit Sprachen

Die Arbeit an Texten in Wikisource und die Aufnahmen für Gesprochene Wikisource offenbaren längst weitere Facetten und daran anknüpfend Ideen für Neues. Ein paar Beispiele zum Weiterdenken:

Die Texte werden gelesen, transkribiert und gesprochen nach dem Zwei-Sinne-Prinzip barrierefreier Gestaltung zugänglicher.19

(…) Ich kann’s euch sagen: Da wird geküßt,

Geraucht, getanzt, gesoffen, gefressen,

Da schleichen verdächtige Gäste herbei. (…)

Durch die offene Wikimedia-Infrastruktur und das Podcaststudio der Bibliothek lässt sich Inklusion schnell und unkompliziert verwirklichen. Barrierefreiheit kann so von jeder und jedem selbst umgesetzt werden. Könnten wir den Ansatz ähnlich einfach auf Videospuren mit eingebetteter Gebärdensprache übertragen? Wikimedia Commons speichert auch Videos.

(…) Da wird jede Stufe der Unzucht durchmessen

Bis zur Papagei-Sodomiterei.

Da wird hasardiert um unsagbare Summen.

Da dampft es von Opium und Kokain.

Da wird gepaart, daß die Schädel brummen. (…)

Multilingualität – Vielsprachigkeit: Wikisource gibt es in vielen Sprachversionen.20 Wikidata bietet multilinguale Metadaten für all diese Transkriptionen und deren Tonaufnahmen. Wir können diese Spoken Wikisources und Podcaststudios in Bibliotheken zusammen als offene Informationsinfrastruktur denken, in denen Tonspuren entstehen. Im Idealfall sind das neue offene Bildungsressourcen mit soliden offenen Metadaten, verknüpfbar, leicht einzubetten, einfach benutzbar und damit nützlich auch an potentiell vielen anderen Stellen im offenen Web.

Verlinkendes Datendenken21: Wir können mit Tonaufnahmen transkribierter Wikisourcetexte und mit deren offenen Metadaten in Wikidata Linked Open Data-Methoden neu beziehungsweise anders vermitteln. Wie verändert sich dann unsere Idee der Digitalen Bibliothek, wenn wir alles (immer öfter und systematischer) abtippen, transkribieren und/oder ein- und aussprechen, vertonen, annotieren und offen erschließen?

The Sound of Gesprochene Wikisource ist ein Resonanzraum: für Menschen in Bibliotheken und deren offene Daten; für Ideen, was man mit solchen Daten alles machen kann; für und mit Gemeinschaften, die neue Medien erzeugen.

(…) Ach schweigen wir lieber. — Pfui Spinne, Berlin!


  1. https://commons.wikimedia.org/wiki/Category:Spoken_Wikisource\_-\_German↩︎

  2. https://commons.wikimedia.org/wiki/Category:Joachim_Ringelnatz_spoken↩︎

  3. https://commons.wikimedia.org/wiki/Category:Die_Gartenlaube_spoken↩︎

  4. Jens Bemme und Juliane Flade: Hat man da schon Töne? So funktioniert Gesprochene Wikisource, SLUB Open Science Lab, 20. Dezember 2023, https://osl.hypotheses.org/9881↩︎

  5. https://de.wikiversity.org/wiki/DieDatenlaube/Notizen↩︎

  6. https://de.wikisource.org/wiki/An_Berliner_Kinder↩︎

  7. https://youtu.be/nbWMbkPey-k↩︎

  8. https://www.slub-dresden.de/besuchen/arbeitsplaetze-und-arbeitsraeume/podcaststudio↩︎

  9. https://osl.hypotheses.org/9881↩︎

  10. https://de.wikiversity.org/wiki/DieDatenlaube/Notizen/2022↩︎

  11. https://de.wikisource.org/wiki/Dresdner_Geschichtsverein↩︎

  12. https://saxorum.hypotheses.org/10099↩︎

  13. https://de.wikiversity.org/wiki/DieDatenlaube/Gesprochene_Wikisource#Dezember_2022↩︎

  14. https://de.wikisource.org/wiki/Dresdner_Geschichtsbl%C3%A4tter↩︎

  15. https://de.wikiversity.org/wiki/DieDatenlaube/Notizen/GeNeMe_Abstrakt↩︎

  16. https://meta.wikimedia.org/wiki/WikiCite↩︎

  17. https://de.wikisource.org/wiki/Dresdner_Geschichtsverein#Dresdner_Geschichtsbl%C3%A4tter↩︎

  18. https://www.dresdner-geschichtsverein.de/dresdner_hefte.html↩︎

  19. https://www.dguv.de/barrierefrei/grundlagen/anwendung/ergonomie/zwei-sinne/index.jsp↩︎

  20. https://wikisource.org/↩︎

  21. https://blog.slub-dresden.de/beitrag/2021/07/21/heimatforschung-mit-wikidata↩︎


Autor*innen

Jens Bemme

Jens Bemme studierte Verkehrswirtschaft und Lateinamerikastudien. Heute interessiert er sich für Dorfbacköfen und historisches Radfahrerwissen um 1900 in der Oberlausitz und der Ostseeprovinzen. Mit der ‘Datenlaube’ und Christian Erlinger erschließt er Wikisource-Volltexte der Illustrierten ‘Die Gartenlaube’ offen in Wikidata. Als Mitarbeiter der SLUB Dresden begleitet Jens landeskundliche Citizen Science-Initiativen insbesondere mit den digitalen Werkzeugen und Gemeinschaften der Wikimedia-Bewegung. Mastodon: JensB@openbiblio.social

(https://orcid.org/0000-0001-6860-0924)

Juliane Flade

Juliane Flade studierte an der TU Dresden Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaften. Ihr Schwerpunkt lag hierbei auf der Literatur der Gegenwart im ländlichen Raum. Vor ihrem Studium arbeitete sie als Logopädin. Aktuell ist sie in der SLUB Dresden als Projektmanagerin für Inklusion und Citizen Science tätig. Dabei ist ihr Ziel Quellen, Wissen und die Bibliothek zugänglicher zu machen. Ein Beispiel hierfür ist das Projekt Gesprochene Wikisource.

(https://orcid.org/0000-0002-3249-7299)

Caroline Förster

Dr. Caroline Förster ist seit 2021 Geschäftsführerin des Dresdner Geschichtsvereins und gibt in dieser Funktion die Dresdner Hefte heraus. Sie studierte Geschichte und Kommunikationswissenschaft an der TU Dresden und arbeitete festangestellt und freiberuflich im Bereich der Wissenschaftskommunikation. Die promovierte Historikerin engagiert sich in verschiedenen Ehrenämtern, darunter zum Beispiel bei Memorare Pacem e. V. – einem Verein, der sich seit 1990er Jahren mit den Fragen der Erinnerungskulturen in Dresden beschäftigt.