> > > LIBREAS. Library Ideas # 43

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doi:10.18452/27066 (edoc HU Berlin)

Editorial #43: Soziologie der Bibliothek


Zitiervorschlag
Redaktion LIBREAS, "Editorial #43: Soziologie der Bibliothek". LIBREAS. Library Ideas, 43 ().


Bibliotheken sind Teil der Gesellschaften, in denen sie betrieben werden. Sie sind damit auch Teil der jeweils diese Gesellschaften prägenden Strukturen, Entwicklungen und sozialen Veränderungen. Soziologie als Wissenschaft zielt darauf ab, solche gesellschaftlichen Strukturen zu verstehen und kann somit dazu beitragen, auch die Entwicklungen in, zu und von Bibliotheken besser zu verstehen. Dies war die These hinter dem Call for Papers dieser Ausgabe. Hinter dieser stand stand wiederum die Wahrnehmung, dass es wieder einmal an der Zeit wäre, darüber nachzudenken, wie soziologische Forschungen, Erkenntnisse und Methoden in Bezug auf Bibliotheken genutzt werden können.

Erwartungsgemäß ist es nicht das erste Mal, dass das Bibliothekswesen auf die Soziologie zurückgreift: Im Laufe der letzten 150 Jahre geschah dies immer wieder und vor allem dann, wenn sich die Gesellschaften radikal änderten. Als sich beispielsweise die Moderne als Gesellschaftsdispositiv Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts durchsetzte, fanden soziologische Theorien über Prozesse der Urbanisierung, der Entstehung des Massenmarktes und der Arbeiter*innenschaft ihren Weg in die bibliothekarische Literatur. Genauso wurde im Bibliothekswesen auf die Soziologie zurückgegriffen, als nach dem Ersten Weltkrieg mit der Weimarer Republik und der Ersten österreichischen Republik neue Demokratien im DACH-Raum entstanden und Bibliotheken versuchten, sich in diesen zu orientieren. Als Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahren eine Welle von gesellschaftlicher Liberalisierung, Demokratisierung und auch revolutionärem Aufbegehrens durch die europäischen Staaten ging, war es erneut die Soziologie, von der sich Bibliotheken versprachen, zu erfahren, was dies alles für sie bedeutete. Und als sich in den 1990er Jahre der Beginn einer neuen, marktwirtschaftlichen Epoche abzeichnete, gab es ebenfalls Rückgriffe auf die Soziologie oder zumindest auf deren Methoden. Dazwischen allerdings lagen auch immer Jahrzehnte, in denen das Bibliothekswesen ohne expliziten Rückgriff auf die Soziologie seinen Weg ging – was, wie sich zeigte, durchaus funktionsgemäß erfolgreich war. Wo Gesellschaften mehr oder weniger stabil erscheinen, rückt der Bedarf einer expliziten Gesellschaftsanalyse anscheinend in den Hintergrund.

Aktuell scheint es so, als gäbe es gute Gründe, sich wieder einmal der Soziologie im Zusammenhang mit Bibliotheken zuzuwenden. Denn zweifelsohne (und auch ohne Blick auf das Zuspitzungs- und Konfrontationsmedium Twitter) werden massive Verschiebungen und Verwerfungen sichtbar. Sie beginnen im politischen und öffentlichen Diskurs und wirken zurück auf politische, kollektive und individuelle Entscheidungen und Handlungen. Die zwei auseinander driftenden Grundlinien sind erkennbar einerseits eine Entwicklung hin zu mehr Diversität und Offenheit und andererseits ein neuer Aufschwung des Autoritarismus. Nicht nur weil sich nahezu jede Verästelung dieser Debatte früher oder später in Büchern wiederfindet, drängen diese Spannungen in die Bibliotheken. Aber natürlich ist der Bestandsaufbau hier auch ein Thema.

Gleichzeitig setzt sich gerade im Öffentlichen Bibliothekswesen die Idee durch, dass den Bibliotheken neue, gesellschaftliche Funktionen zukommen würden, für die sie umgebaut und ihre Aufgabenbereiche erweitert werden müssten. Sie sind Schauplatz und Vollzugsort von Öffentlichkeit, kultureller und, Stichwort Makerspaces, auch aktiver Arbeit. Darüber kann und sollte man bibliothekssoziologisch forschen. Nur: Wer macht’s?

Redaktionsorte XXII: Hannover Congress Centrum, beim Grillstand, Frühling 2023

De Beteiligung an und Rückmeldungen zu dieser Ausgabe zeigen uns, dass eine Bibliothekssoziologie nicht unbedingt das zugkräftigste Stichwort ist. Die drei eingegangenen Beiträge nutzen soziologische Theorien und Methoden und zeigen also, dass es sehr gut möglich ist, diese mit relevanten Ergebnissen auf Bibliotheken und deren Themen anzuwenden. Aber gleichzeitig scheinen sich nicht viele Kolleg*innen aktiv mit der Soziologie zu befassen. Oder sind die gesellschaftlichen Veränderungen vielleicht gar nicht drängend, wie sie beispielsweise um 1900 schienen? Oder laufen Elemente soziologischer Erkenntnisfindung sublimiert in jeder Bibliothekswissenschaft einfach mit? Oder ist LIBREAS als Publikationsort nicht attraktiv genug? Fakt ist, dass auch die einschlägigen Nachweissysteme zu wenig aktueller Literatur führen, die sich explizit als bibliothekssoziologisch positioniert.

Hätten wir, als wir uns für das Thema dieser Ausgabe entschieden, eher auf Entwicklungen im Bereich Social Media und Artificial Intelligence (AI) gesetzt, wir hätten jetzt vermutlichl ein umfangreicheres Heft – möglicherweise inklusive zahlreicher ChatGPT-generierter Inhalte. In beiden Bereichen gab es seit unserer letzten Nummer Aufsehen erregende Bewegungen. Social Media ist Post-Elon-Musk genauso neu zu denken wie Konzepte von Kreativität und Autor*innenschaft nach der Bereitstellung massentauglicher KI-Tools. Twitter nach Elon Musk bedeutet, so scheint es aktuell, früher oder später auch ein Twitter ohne Bibliotheken. Denn welches Haus hat schon Kapazitäten und Lust, den Sturm der rohen, ungefilterten Entrüstung zu moderieren, der sich unweigerlich beispielsweise bei der Ankündigung einer Lesung mit Dragqueens ergibt. Trigger sind ein fantastisches neues Forschungsfeld der Sozialpsychologie und die Hölle für die, die es trifft. Bibliotheken sehen sich entsprechend lieber bei Mastodon. Aber sehen sie dort auch ihr Publikum? Oder warten alle auf Bluesky?

Und was machen wir zugleich mit KI-generierten Inhalten? Neulich, zu spät für die Rubrik Das liest / hört die LIBREAS, erfuhr mensch im Deutschlandfunk von der Zukunft der Filmkultur: Sven Bliedung, CEO der Videoinnovationsfirma Volucap, prophezeite, dass wir binnen weniger Jahre befähigt sein sollen, uns per Eingabe von Keywords oder gar Stimmungen ein KI-generiertes Filmprogramm in Echtzeit zu generieren: Man kommt nach Hause, hat einen stressigen Tag gehabt, macht einen Bildschirm an, will unterhalten werden, und […] braucht kein Programm auswählen, weil das System weiß, was ich für einen Tag hatte, ob ich irgendwie Entspannung suche oder Action und es wird automatisch eine Geschichte geschrieben und die Bilder dazu erzeugt.1

Was das nicht nur mediensoziologisch bedeuten würde, ist noch ein ganz anderes Thema und würde eine eigene KI-Simulation eines Textes von Jean-Louis Baudry zum Dispositiv automatisch erstellter Filme nahezu erzwingen.

Akuter greift sicher die KI-gestützte Textproduktion in Forschung und Lehre. Universitätsbibliotheken sehen sich zunehmend genötigt, in Kursen zum wissenschaftlichen Arbeiten neben der Plagiatserkennung auch Kompetenzen zum Erkennen von per KI identifizierten oder eben auch erfundenen Quellen zu vermitteln.

Als wir die vorliegende Ausgabe planten, waren noch Dienste wie DeepL und Transkribus die Vorzeigebeispiele für die Möglichkeiten solcher Technologien, jetzt sind schon ganze Zeitungsredaktionen verkleinert worden, weil die Eigentümer*innen den Eindruck haben, Journalist*innen ersetzen zu können. Diese Entwicklungen zeigen aber, wie schnell sich Dinge ändern, an die bei der Planung von Zeitschriften und Artikeln nicht gedacht wird. Sind wir gespannt auf den Rest des Jahres 2023.

Um es für diese Ausgabe abzurunden, baten wir ChatGPT, ein paar Gründe für den wahrgenommenermaßen geringen Stellenwert der Bibliothekssoziologie zu extrahieren. Das Ergebnis deckt sich erstaunlich gut mit dem, was wir aus dem Bauch heraus vermuten würden:

  1. Bibliotheksforschung ist traditionell auf die Entwicklung von Bibliotheksmethoden, -technologien und -dienstleistungen und deren praktischer Umsetzung ausgerichtet.

  2. Bibliothekssoziologie ist ein interdisziplinäres Forschungsfeld, wobei dieser Status nicht zu einer Forschung von beiden Seiten sondern zu einer Marginalisierung dieser Themen auf beiden Seiten führt.

  3. Ressourcen: Da bibliothekarische Institutionen oft mit begrenzten; Budgets arbeiten, können Forschungsprojekte im Bereich der Bibliothekssoziologie möglicherweise nicht die erforderliche; Unterstützung erhalten, um umfangreiche und aussagekräftige Studien durchzuführen.

  4. Geringe Nachfrage: Bibliothekare und Entscheidungsträger konzentrieren sich möglicherweise eher auf praktische Fragen wie die Verbesserung der Dienstleistungen, der technologischen; Infrastruktur oder der Ressourcenallokation, anstatt auf soziologische Aspekte der bibliothekarischen Arbeit.

Wie gern hätten wir auf die Quelle verlinkt. Allerdings bleibt die Vergabe eindeutiger Links, also PID für mit ChatGPT generierte Inhalte auch Monate nach dessen Einführung ein Desiderat. Wir behalten es aber im Blick und berichten gegebenenfalls in der Herbstausgabe über entsprechende Neuerungen.

Ihre / eure Redaktion LIBREAS. Library Ideas

(Berlin, Göttingen, Hannover, Lausanne, München, Potsdam)


  1. Berendt, Christian: Virtuelle Drehorte – Wie das Filmstudio Babelsberg mit KI arbeitet, Deutschlandfunk 11. Mai 2023, https://www.deutschlandfunk.de/virtuelle-drehorte-wie-das-filmstudio-babelsberg-mit-ki-arbeitet-dlf-a796598c-100.html↩︎