«Für den einen mag dies alles wie eine Horrorvision aussehen, für den anderen wie Zukunftsmusik klingen, aber an einer Beschäftigung mit diesem Thema werden die Bibliothekare wohl nicht vorbeikommen.» (Redaktion Bibliotheksdienst 1983: 81, zu Btx)
1. Einleitung: Pepper est mort. Vive les nouvelles technologies !
Gerade als die LIBREAS-Redaktion daran arbeitete, die Ausgabe #39 mit dem Schwerpunkt «Roboter und Automatisierung» für die Publikation vorzubereiten, wurde berichtet, dass Softbank beschlossen habe, seine Robotik-Abteilung zu schliessen. (Crowe 2021, Nussey 2021, Wakefield 2021) Diese Robotik-Abteilung bestand praktisch aus der französischen Firma Aldebaran, welche Softbank 2013 gekauft hatte. (Boogar 2014, Palmer 2012) Aldebaran hatte die humanoiden Roboter Nao und Pepper entwickelt. Pepper hatte Nao abgelöst, der wohl schon länger nicht mehr produziert oder weiterentwickelt wird. Im Rahmen der Nachrichten über die Schliessung dieser Robotik-Abteilung wurde berichtet, dass auch die Produktion von Pepper schon für längere Zeit eingestellt worden sei.1
Das ist relevant, denn unter den Robotern, die in Bibliotheken eingesetzt werden, sticht Pepper hervor. Es gibt andere Roboter, insbesondere kleine, die in Makerspaces genutzt werden und solche, die in Bibliotheksmagazinen und für das Bestandsmanagement eingesetzt werden. Aber Pepper war es, der immer und immer wieder in den Mittelpunkt gestellt wurde: In Vorträgen (König 2020), auf den Titelblättern bibliothekarischer Fachpublikationen (beispielsweise BuB 70 (2018) 02–03) oder in Imagevideos (Stadtbüchereien Düsseldorf 2018). Auch in der oben genannten Ausgabe #39 der LIBREAS erschien ein Artikel darüber, wie an einer der Bibliotheken der Fachhochschule Nordwestschweiz der Einsatz von Pepper systematisch und in Zusammenarbeit mit Forschenden aus der Angewandte Psychologie geplant wurde. (Urech, Eberle & Burkhard 2021) Zeitweise bestand der Eindruck, als wäre die Zukunft der Robotik vielleicht humanoid und als wären diese Roboter in Zukunft auch ein Bestandteil von Bibliotheken.
Das ist jetzt alles hinfällig. Es gibt nur noch die bereits fertig produzierten Pepper. Diese werden wohl abverkauft oder genutzt, um defekte Geräte auszutauschen. Serviceverträge werden gewiss noch bis zum Ende der Laufzeit bedient. Aber es wird keine Weiterentwicklung geben, keine neuen Modelle und irgendwann werden auch die noch existierenden Pepper unbrauchbar sein. Seit der Ankündigung von Softbank ist keine weitere Firma in die Bresche gesprungen und hat andere humanoide Roboter der Grösse und Komplexität von Pepper für die zivile Nutzung angeboten.
Softbank hatte – so die Einschätzung der oben erwähnten Artikel – die Produktion von Robotern eingestellt, weil sich die Hoffnungen darauf, solche humanoiden Roboter im Alltag zu etablieren und damit einen neuen Markt zu schaffen, wohl nicht realisiert hatten. Aldebaran, welche diese Utopie aktiv vorangetrieben hatte, war auch schon vorher daran gescheitert – sonst hätte Softbank die Firma wohl nicht kaufen können. Auch die in der bibliothekarischen Presse immer wieder verbreiteten Photos von Pepper; alle Projekte, mit denen in verschiedenen Bereichen Anwendungsfälle für Pepper und davor Nao gesucht wurden sowie die positive Presse, welche diese Roboter hatten – sie haben nicht dazu geführt, dass sich diese Technologie breit durchgesetzt hätte.
Erstaunlicherweise hält das Bibliotheken bis heute nicht davon ab, sich weiter mit Pepper auseinanderzusetzen. Die Zentral- und Hochschulbibliothek Luzern postete noch im Dezember 2021 über ihren Versuch, einen Ersatz für ihren offenbar defekten Pepper zu importieren. (Mattmann 2021, ZHB Luzern 2021a-b) Auf dem Kongress des schweizerischen Bibliotheksverbandes bibliosuisse im Oktober 2021 bot eine Firma, CleverGuides, den Roboter an. Eventuell wird es noch einige Zeit dauern, bis sich die Erkenntnis durchsetzt, dass Pepper und wohl auch andere humanoide Roboter doch nicht die Zukunft der Bibliothek darstellen, zumindest nicht in den nächsten Jahren.
1.1 Abstraktion der Fragestellung
Was ist daraus zu lernen? Es wäre einfach, einen Text darüber zu schreiben, was bei der offensichtlichen Begeisterung einiger Teile des Bibliothekswesens für Pepper und die Versprechen, die mit ihm verbunden wurden, fehl gelaufen ist und daraus vielleicht einige Vorschläge für die Zukunft zu formulieren. Beispielsweise, dass man immer aufmerksam sein sollte, wenn es praktisch nur ein oder zwei Firmen gibt, die eine neue Technologie propagieren. Oder auch aufzupassen, wenn die eigentliche Entwicklung so lange hinter den Versprechen dieser Firmen hinterherhinkt, wie es bei Pepper – und auch schon dem Vorgänger Nao – passiert ist.
Aber: Es ist nicht das erste Mal, dass Bibliotheken eine gewisse Begeisterung für eine neue Technologie zeigten, sich dann aber die Technologie und mit ihr die ganzen Zukunftsvorstellungen, die an diese neuen Technologien gebunden waren, als wenig erfolgreich herausstellten und diese entweder verschwanden oder von wieder neueren Technologien ersetzt wurden.
Das Ende von Pepper führte zu einer Recherche – auf der dieser Artikel basiert – welche der Frage einen breiteren Rahmen geben sollte: Gibt es ein Muster, ein «Modell», dem Bibliotheken folgen, wenn sie sich mit neuen Technologien auseinandersetzen? Gäbe es dieses und könnte man es beschreiben, so wäre für die Zukunft mehr gewonnen, als wenn man sich gerade auf das Beispiel Pepper fokussieren würde. Wenn man ein Modell – also eine immer wieder von Bibliotheken gefolgte Handlungsstruktur – aufzeigen kann, kann man dieses anschliessend auch immer verändern. Man könnte dann frühzeitig und gezielt reagieren, wenn die nächste Technologie mit grossen Versprechen für die Zukunft propagiert wird.
Der Ton des letzten Absatzes macht es aber auch klar: Dieses Modell gibt es so nicht. Zumindest zeigte es sich in der Recherche nicht, sondern nur erste Anhaltspunkte für ein solche. Was hingegen bei dieser historischen Recherche zu finden war, ist erstaunlicherweise eine schon existierende Tradition – wenn auch ausserhalb des Bibliothekswesens – nach so einem Modell zu suchen. Ebenso fanden sich Hinweise darauf, wie wichtig nicht-technische Elemente dabei sind, ob und wie neue Technologien Verbreitung finden – sowohl in der Gesellschaft im Grossen als auch in Bibliotheken im Kleinen. Aber auch diese Ergebnisse liefern Wissen, welches Bibliotheken in Zukunft helfen kann, planend auf neue Technologien einzugehen.
1.2 Aufbau des Textes
Im Folgenden soll zuerst (2) die genaue Fragestellung der Recherche eingeführt werden. Es soll danach gesucht werden, ob sich ein Modell finden lässt, welches erklärt, wie Bibliotheken auf neue Technologien reagieren. Dafür werden Themen benannt, welche sich auf verschiedene «neue Technologien» anwenden lassen. In diesem Kapitel wird auch begründet, warum in diesem Text interaktive Videotextsysteme als Beispiel für diese Untersuchung ausgewählt wurden. Im nächsten Kapitel (3) werden die Entwicklungen des französischen Minitel- und des bundesdeutschen Btx-Systems interaktiver Videotextsysteme dargestellt, wobei es nicht hauptsächlich um die technische, sondern um die gesellschaftlichen und politischen Kontexte gehen wird. Dies ist relevant, da sich anhand des gewählten Beispiels zeigt, wie sehr die Kontexte bestimmen, ob und wie eine Technologie sich in einer Gesellschaft verbreitet. Erwähnt wird in diesem Kapitel auch, das die Frage, welche Modelle die Verbreitung beziehungsweise Nicht-Verbreitung neuer Technologien beschreiben können, schon im Zusammenhang mit den hier besprochenen Systemen gestellt wurde. Schliesslich wird (4) darauf eingegangen, wie Bibliotheken auf diese Technologie reagierten. Hier zeigen sich deutliche Unterschiede zwischen der Situation in Frankreich und der BRD. Es wird auch diskutiert, wieso sich gerade an diesem Beispiel zeigt, warum die Suche nach Modellen der Etablierung von neuen Technologien in Bibliotheken mindestens weit komplexer angelegt sein muss, als sich nur auf technische Entwicklungen zu konzentrieren, und warum die gesellschaftlichen Kontexte in diese Suche nach Modellen integriert werden müssen. Im Fazit (5) wird dies, auf der Basis dessen, was in der Recherche zu diesem Artikel gelernt wurde, als offenes, aber auch lohnendes Forschungsthema skizziert.
Die Grundmotivation, verstehen zu wollen, wie und wieso Bibliotheken auf neue Technologien reagieren, um dann dies in Zukunft für die Bibliothekspraxis als Wissen zur Verfügung zu stellen, um genau in solchen Fällen fundierter vorgehen zu können, ist auch am Ende des Projektes, dessen Ergebnis dieser Text ist, besteht weiter. Es ist während der Arbeit an diesem Text ersichtlich geworden, dass dies weit schwieriger – aber damit auch interessanter – sein wird, als sich das am Anfang dieser Arbeit gedacht wurde.
2. Der Plan: Warum Minitel und Btx ein gutes Beispiel sind.
Der Plan hinter diesem Text sieht wie folgt aus: Anhand einer einst neuen Technologie, mit der sich Bibliotheken auch tatsächlich befasst hatten, soll ein Modell formuliert werden, welches beschreibt, wie diese Technologie in den Bibliotheken reflektiert und genutzt wurde sowie wie sie wieder aus den Bibliotheken verschwand. Diese Arbeit schliesst an zwei andere Artikel des Autors aus dem letzten Jahr an. Im ersten (Schuldt 2021a) wurde die Verbreitung von Computern in Bibliotheken im DACH-Raum in den 1960er Jahren dargestellt und einige Beobachtungen über ein allgemein ähnliches Vorgehen in den Ländern des DACH-Raumes gemacht. Die Frage war nun, ob sich dies auch bei der Diffusion anderer Technologien zeigt und sich damit Hinweise auf typisches Verhalten von Bibliotheken finden. Im zweiten (Schuldt 2021b) wurde diskutiert, wie sich die Geschichte der Entwicklung von Technologie im Bezug auf Bibliotheken darstellen lässt. Dabei wurden verschiedene Extreme – Technikdeterminiertheit, Determination durch gesellschaftliche Entwicklungen – kritisiert und eine kontextualisierte Betrachtung eingefordert. Die Herausforderung im vorliegenden Text war, diesen Anspruch auch umzusetzen.
2.1 Mögliche Inhalte eines Modells
Punkte, die in einem solchen Modell beachtet werden sollten, wären unter anderem:
Welche Vorhersagen und Versprechen für die Zukunft werden im Bezug auf die neue Technologie gemacht und welche davon tauchen dann in der bibliothekarischen Diskussion auf? Wie werden sie in Bibliotheken interpretiert? Werden zum Beispiel übergreifende Versprechen («Die Zukunft der Arbeit wird sich durch diese Technologie verändern.») übernommen oder werden sie für den Bibliothekskontext uminterpretiert («Der Zugang zum Katalog wird sich verändern.»)? Wie detailliert werden diese Vorhersagen gemacht und übernommen?
In welcher Weise reagieren Bibliotheken auf die neue Technologie? Werden zum Beispiel zuerst intensive Diskussionen und Technikfolgeabschätzungen durchgeführt? Oder werden möglichst schnell Projekte mit der neuen Technologie aufgegleist?
Welche Bereiche von Bibliotheksarbeit werden diskutiert und welche Bereiche werden dann tatsächlich angegangen, um sie mit der Technologie zu verändern? Wird zum Beispiel vor allem über die Rationalisierung der Arbeit von Bibliotheken nachgedacht oder über die Interaktion von Nutzer*innen? Wird darüber nachgedacht, die Technologie in die Bibliothekspraxis zu integrieren – und wenn ja, wie weit? Wird zum Beispiel früh darüber geredet, ob und wie sich die konkrete Arbeit für Bibliothekar*innen verändert – oder wird sie eher als Ergänzung bibliothekarischer Angebote verstanden? Und wie sieht dies dann in der Praxis aus?
Wie sehr ist diese Reflexion oder Übernahme der neuen Technologie in Bibliotheken mit der Entwicklung der Diskussion über diese und ihrer Diffusion in der gesamten Gesellschaft verbunden? Reagieren Bibliotheken vor allem auf Diskurse und Entwicklungen oder agieren sie selber? Wie sehr sind sie dabei Avantgarde oder gerade nicht?
Findet eine «banalisation» der Technologie statt – also eine Übernahme in die Praxis, die dann so alltäglich wird, dass sie nicht mehr erwähnenswert scheint – und wenn ja, wie schnell? Wird zum Beispiel irgendwann aufgehört, die Technologie immer wieder neu zu erklären oder zu betonen, dass sie eine Innovation darstellt? Wird irgendwann davon ausgegangen, dass sie bekannt ist?
Gleichzeitig: Wie und wann wird eine Technologie wieder «ausgephast», also wieder aus der Bibliothek entfernt? Warum passiert das? Hat das dann vor allem Gründe in Bibliotheken – also setzt sich beispielsweise eine andere Technologie durch – oder Gründe ausserhalb von Bibliotheken – zum Beispiel weil die Technologie nicht mehr hergestellt wird?
Dieses Modell soll von einem historischen Beispiel abstrahiert werden. Es könnte der Bibliothekspraxis eine Struktur an die Hand gegeben. Sollte es eine Struktur geben, der Bibliotheken vielleicht unbewusst folgen und diese Struktur sichtbar gemacht wird, kann ihr anschliessend bewusster gefolgt und die Diffusion von neuen Technologien effizienter geplant werden. Andererseits würde das Modell auch Entwicklungen oder Auseinandersetzungen im Bibliotheksbereich über Veränderungen als strukturell angelegt verständlich machen, was beispielsweise dazu genutzt werden könnte, die Bedeutung von Diskursen und Versprechen für die tatsächliche Praxis sichtbar zu machen: Wenn zum Beispiel immer wieder ähnlich Fragen auftreten, ähnliche Kritik geäussert wird oder ähnliche Versprechen über die Entwicklung von Bibliotheken durch neue Technologien gemacht werden, dann können diese als notwendig für solche Prozesse identifiziert und eventuell von vornherein angegangen werden.
Es galt für diesen Plan, eine ehemals neue Technologie zu wählen, welche im Idealfall folgenden Kriterien entsprechen sollte:
Die Technologie sollte einen Einfluss auf Bibliotheken gehabt haben oder zumindest das Potential dazu. Je näher sie mit Aufgaben von Bibliotheken verbunden war, je eher kam sie als Beispiel in Betracht.
Die Technologie sollte eine weite Verbreitung, sowohl in der Gesellschaft als auch in Bibliotheken, gefunden haben. Für das Beispiel waren also Technologien, die eigentlich nur in einigen ersten Projekten genutzt wurden, ungeeignet.
Ideal wäre zudem, wenn diese Technologie wirklich an einen Endpunkt gelangt war und nicht die realistische Möglichkeit bestand, dass sie doch wieder neu «belebt» würde.2 Dabei wäre eine Technologie mit einer längeren, aber doch zu überblickenden «Lebenszeit» von Vorteil. Länger, damit in Bibliotheken und Gesellschaft genügend Erfahrung mit ihr gesammelt wurden, die für eine Analyse herangezogen werden können und überblickbar, damit diese Erfahrungen auch ausgewertet werden können.
Von Vorteil wäre auch, wenn das Ende der Technologie einige Zeit zurückliegt, so dass über dieses Ende schon reflektiert werden konnte, aber auch nicht so weit, dass man vermuten könnte, dass sich Bibliotheken und Gesellschaft so sehr entwickelt hatten, dass aus der Geschichte dieser Technologie nichts mehr gelernt werden kann, weil der Kontext zu unterschiedlich geworden ist.
Die am Ende gewählte Technologie erfüllte noch ein Kriterium, an das am Anfang nicht gedacht wurde, welches sich aber als erkenntnisfördernd herausstellte: Die Technologie hatte in vergleichbaren Gesellschaften unterschiedliche Entwicklungen genommen.
Es gäbe gewiss eine Anzahl an Technologien, welche diese Kriterien mehr oder minder erfüllen.3 Zum Beispiel stellten erst kürzlich Anne Christensen und Matthias Finck die Entwicklung von Discovery Systemen in Bibliotheken dar und nutzen, um diese Entwicklung zu untersuchen, mit dem «Gartner Hype Cycle» auch ein Modell – allerdings ein nicht aus dem Bibliothekswesen stammendes und die Möglichkeit eines Endes von Technologien gar nicht beinhaltendes. (Christensen & Finck 2021) Die Geschichte dieser spezifischen Technologie Discovery Systeme ist noch nicht abgeschlossen, vielleicht wird sie es auch nie sein. Aber man hätte sich zum Beispiel für den hier vorliegenden Artikel auf eine Generation dieses Systems konzentrieren können. Christensen und Finck zeigen in ihrem Beitrag immerhin eindrücklich, dass diese ein lohnendes Thema für eine historische Beschäftigung sein könnte.
Die Wahl der Technologie war also, neben den aufgestellten Kriterien, auch eine von privaten Interessen, Zugänglichkeit zu Materialien und Sprachkenntnissen des Autors geprägte Entscheidung.4
2.2 Begründung für die Wahl der Technologie
Die Wahl fiel auf die interaktiven Videotextsysteme, welche in den 1980er Jahren Verbreitung in Ländern des globalen Nordens fanden. Im Fokus stehen in diesem Text das französische und das bundesdeutsche System. Das französische, bekannt unter dem Namen «Minitel»,5 wird herangezogen, weil es die grösste Verbreitung in einem Land fand und damit auch den grössten Einfluss hatte. «Bildschirmtext», abgekürzt zumeist als Btx (aber auch teilweise mit anderen Schreibweisen wie BTX oder btx), die bundesdeutsche Variante, wird als Vergleich herangezogen, weil zu Btx eine Reihe von Materialien, die sich auf Bibliotheken beziehen, für die Recherche zugänglich waren. Unter verschiedenen Namen und auch mit unterschiedlichen Betriebsmodellen gab es diese Systeme auch in anderen Ländern, beispielsweise als «Videotex» in der Schweiz und Belgien, «Prestel» in Grossbritannien, «Teledata» in Dänemark und Norwegen, «Beltel» in Südafrika oder unter verschiedenen Namen mit verschiedenen Anbietern in den USA («Prestel», «Green Thumb», «Viewtron», «Teletext») und Kanada («Mercury», «Vidon», «Ida»). (Ratzke 1984: 222, Vetsch 1988: 54) Diese Technologie – welche weiter unten genauer dargestellt wird – erfüllt die gerade (2.1) aufgestellten Kriterien wie folgt:
Sie existierte über einen längeren Zeitraum, entwickelt Ende der 1970er Jahre, aktiv in der breiten Nutzung in der Gesellschaft dann vom Beginn der 1980er Jahre bis Mitte der 1990er Jahre (betrieben wurde einige Netze länger, aber auch das erfolgreiche Minitel-Netz wurde 2012 endgültig abgeschaltet). Dieser Zeitraum liegt einige Zeit zurück, aber auch nicht zu weit.
Die Technologie wurde, insbesondere in Frankreich, mit grossen Versprechen nicht nur über technische, sondern auch gesellschaftliche Veränderungen, Veränderungen in der Nutzung von Informationen oder Veränderungen beim Arbeiten verbunden. Sie wurde in einigen Ländern (unter anderem den beiden hier verglichenen) massiv von staatlicher Seite und von Seite grosser Unternehmen vorangetrieben. Sie war, zumindest vom Ziel her, keine Nischentechnologie. Auch wenn sich im Nachhinein zeigt, dass sich diese Erwartungen nicht unbedingt erfüllten, waren sie nicht substanzlos, sondern basierten auf ernsthaften Auseinandersetzungen mit der Entwicklung von Technologie und Gesellschaft.
Interaktive Videotextsysteme wurden, wieder zumindest vom Ziel her, vor allem zur Verbreitung und Verarbeitung von Informationen genutzt, also einem Bereich, welcher direkt zum Arbeitsfeld von Bibliotheken gehört.
Es gibt eine Anzahl von Erfahrungen aus Bibliotheken, die mit dieser Technologie arbeiteten.
Eher zufällig treffen sich Pepper und das Minitel-System darin, dass beide auch vorangetrieben wurden, um die technikproduzierende Industrie in Frankreich zu entwickeln – es ging bei beiden auch immer um die Schaffung von Arbeitsplätzen in Frankreich selber.
3. Die Technologie: Die Entwicklung interaktiver Videosysteme
Interaktive Videotextsysteme wurden in den 1970er Jahre entwickelt und erreichten in den 1980er Jahren ihre Produktionsreife. Basis war immer das britische Prestel-Netz, für das die Technik entwickelt wurde. Aber fast immer wurden die Weiterentwicklungen in den einzelnen Ländern selber unternommen.6 Sie stellten Computernetze dar, die dem System von datenverarbeitenden Rechnern und Terminals – also grundsätzlich weiter der Trennung in Mainframe und Peripheriegeräten – folgten. Die Nutzer*innen erhielten Zugriff auf das jeweilige System über diese Terminals, welche aufgrund unterschiedlicher Standards grundsätzlich auf jeweils ein Netz hin ausgerichtet waren. Diese Terminals übernahmen die Eingabe von Daten über Tastaturen sowie die Ausgabe von Daten auf Monitoren. Die Übermittlung der Daten geschah jeweils über das Telefonnetz.7 Dabei waren die Terminals selber nicht sehr viel grösser als heutige grosse Laptops, konnten also ihren Platz auch in Wohnungen und Büros finden, obgleich Terminals für die öffentliche Nutzung, beispielsweise an Bahnhöfen, auch in grössere Gestelle eingebaut wurden, während die Hauptrechner in den Rechenzentren viel grösser waren.8
Alle Rechenleistung sowie die Datenspeicherung wurden von den Rechnern im System, nicht den Terminals, übernommen. Diese Rechner wiederum waren in Netzen zusammengeschlossen, über die ebenso Daten ausgetauscht wurden. Dies gewährleistete, dass Daten schnell im gesamten Land zur Verfügung stehen konnten. Da die Datenübertragung aber Zeit und Aufwand kostete, war es auch nicht ungewöhnlich, dass Angebote nur für eine Region angeboten wurden. Dann wurden die Daten nur in Rechenzentren dieser Region vorgehalten und von diesem verbreitet.
In späteren Entwicklungen waren Erweiterungen des Systems möglich. Beispielsweise war es möglich, für den Minitel eigene Server auf Kleinrechnern zu betreiben (Guérin 1989) oder aber Kleinrechner als Terminals zu nutzen (Servin & Schulwitz 1986).9 Aber auch diese Daten wurden vom privaten Server auf Rechenzentren übertragen und von dort an die angeschlossenen Terminals ausgeliefert. Ebenso war es dann in den frühen 1990er Jahren möglich, das Minitel-Netz und andere über das Internet betriebene Netze miteinander kommunizieren zu lassen.10
3.1 Funktionalitäten
Dieses System ermöglichte tatsächliche Interaktion, nicht nur die Auswahl verschiedener Informationsseiten, wie sie der ähnlich benannte «Videotext» anbietet, welcher von TV-Sendern angeboten wird, und mit dem das System oft verwechselt wird. Nutzer*innen von interaktiven Videotextsystemen konnten auf Datenbanken und Daten anderer Informationsanbieter (beispielsweise Informationen zu Bahnreisen) zugreifen, elektronische Nachrichten verschicken und empfangen, in Foren und in Chat-ähnlicher Form kommunizieren (insbesondere die weiter unten im Text erwähnten «messageries»). Aber auch erste Formen von Bankgeschäften per interaktiven Videotextsystem und Bezahlsysteme existierten. So konnten beispielsweise erste Formen von Online-Geschäften gemacht werden: Läden und Ladenketten stellten dafür ihre Angebote dar und boten dann unterschiedlich umgesetzte Möglichkeiten, Bestellungen auszulösen.
Die notwendigen Server waren allesamt in Datenzentren untergebracht, die von Post- und Telefonunternehmen betrieben wurden. Je nach Organisationsform waren das oft die staatlichen Unternehmen wie die französische Postes, télégraphes et téléphones (PTT), die Deutsche Post oder auch die schweizerischen Post-, Telefon- und Telegrafenbetriebe. In anderen Ländern (Kanada, USA), in denen die Telefonnetze privatisiert waren, übernahmen aber auch die betreffenden kommerziellen Firmen diese Funktion. Mit der Privatisierung der Telefongesellschaften in den späten 1980er und frühen 1990er Jahren eröffnete sich dann auch in europäischen Ländern die Möglichkeit, dass diese Datenzentren von anderen Anbietern betrieben wurden.11
3.2 Finanzierung
Finanziert werden sollten die interaktiven Videotextsysteme über zahlreiche Gebühren. Diese waren sowohl von Anbietern von Informationen als auch von Nutzer*innen zu zahlen. Dabei gab es verschiedene Modelle und bis zum Ende der Systeme war die Frage, für was Gebühren erhoben werden sollten und wie hoch diese sein sollten, ständig in der Diskussion. Ratzke (1984: 215) führt zum Beispiel in einer Tabelle die damals gültigen Gebühren für den bundesdeutschen Btx-Dienst auf. Für die «Btx-Teilnehmer» waren dies monatliche Gebühren sowie solche für das Senden einer Mitteilung und das «Speichern einer abgerufenen Mitteilung» pro Seite und Tag. Für die «Informationsanbieter» gab es unter anderem monatliche Gebühren (bundesweit oder für regionale Bereiche) für das Betreiben eines Angebots, solche für das Speichern von Seiten pro Tag, «für eine geschlossene Benutzergruppe», für das «Übertragen einer Seite nach externen Rechnern», für das «Einarbeiten von Btx-Seiten» oder auch für den «Eintrag in [die] Anbieterliste». Zudem gab es etwa Gebühren für die «Berechtigung für den Anschluß eines externen Rechners» oder die «Aufstellung der erhobenen Vergütungen».
Demgegenüber wird in der Literatur mehrfach die relative Einfachheit der Gebühren des Minitels gelobt. (Mailland & Driscoll 2017) Bei diesem gab es monatliche Gebühren, solche für die eigentliche Datennutzung und – was als Grund für den Erfolg angesehen wird (Abadie 1988) – ein «Kiosk-System», bei dem die Nutzer*innen für das Angebot eines Anbieters, das aus mehreren Teilen bestehen konnte, zum Beispiel Zugang zu den Artikeln einer Zeitschrift und gleichzeitig auch einer «messangerie», erhöhte Anschlussgebühren zahlte. Ein Teil dieser Gebühren für Kioske ging an die PTT, ein anderer an die jeweiligen Anbieter, welche die Höhe selber bestimmen konnte.
Wichtig ist, dass alle interaktiven Videotextsysteme als Infrastruktur konzipiert waren, deren Aufbau und Betrieb zwar oft von öffentlichen Unternehmen gewährleistet wurde, die dann aber immer durch die Benutzenden finanziert und im Idealfall auch Gewinn generieren sollten. Es wurde zudem immer auch erwartet, dass sich um diese Systeme herum weitere Unternehmen entweder neu formieren oder aber bestehende von diesen profitieren würden.
4. Kultur, Politik und Technologie: Eine kurze Geschichte von Minitel und Btx
Beschäftigt man sich mit der Geschichte der interaktiven Videotextsysteme, so fällt schnell auf, wie sehr diese Geschichte jeweils in nationale Entwicklungen integriert war. Die Angebote, die Nutzungsmöglichkeiten, die verwendeten Standards und auch die tatsächliche Nutzung durch die Öffentlichkeit waren immer national unterschiedlich. Dem steht nicht entgegen, dass es immer auch länderübergreifende Treffen und Kommunikation über die Videotextsysteme gab – beispielsweise eine «videotex in Europe Conference» 1979 in Luxemburg (Anderla 1980) und mindestens ein «Videotex Europa» Kongress in Basel 1985 (Alphaville AG 1985, gleichzeitig der 3. Schweizerische Videotex-Kongress). Zudem gab es immer Projekte, die jeweiligen Systeme in anderen Ländern zu verbreiten – beispielsweise explizite Versuche Frankreichs, den Minitel über die Agentur «Intelmatique» zu exportieren. Und zudem zumindest später das Angebot der Monacoischen Télématique MC-Tel an ihre Nutzer*innen über ihre «serveur multi-normes, multi-lingues, multi-services, multi-réseaux» (Télématique MC-Tel 1989: 8) Anschluss an alle europäischen Netze zu erhalten. Diese nationalen gesonderten Entwicklungen gab es auch beim jeweiligen gesellschaftlichen Kontext der Verbreitung dieser Technologien.
4.1 Von «L’informatisation de la société» zur Télématique
Am sichtbarsten ist dies wieder beim französischen Beispiel. 1978 wurde der Bericht «L’informatisation de la société» veröffentlicht und in Frankreich auch zum «Best-Seller» (Nora & Minc 1978, Walliser 1989). Verantwortet von Simon Nora, Inspecteur Général des Finances, beantwortete er Fragen des französischen Präsidenten Valéry Giscard d’Estaing zur Entwicklung der Informationstechnologie und deren Auswirkungen auf die Gesellschaft. Selbstverständlich standen hinter Auftrag und Bericht eine ganze Administration, in der Abstimmungsprozesse liefen. Die Inszenierung von fragendem Auftrag des Präsidenten und Antwort eines Regierungsmitglieds sollte aber wohl die Bedeutung dieser Entwicklungen für die gesamte französische Gesellschaft unterstreichen. Der erste Satz dieses Auftrags umreisst gleich die Ängste, Erwartungen, aber auch Hoffnungen, die mit diesem einhergingen:
«Le développement des applications de l’informatique est un facteur de transformation de l’organisation économique et sociale et du mode de vie : il convient que notre société soit en mesure, à la fois, de le promouvoir et de le maîtriser, pour le mettre au service de la démocratie et du développement humain.» (Valéry Giscard d’Estaing in Nora & Minc 1978: 3)12
Einerseits wird erwartet, dass eine Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft bevorstehen würde, welche offenbar Gefahren mit sich bringen könnte, die aber – auch im Bericht selber – nicht ganz klar ausgesprochen werden. Es scheint aber fraglos so, dass diese Entwicklung grundsätzlich so oder so passieren wird. Im Bericht wird dann postuliert, dass andere Länder – die USA, Japan, BRD – und einzelne Firmen voranschreiten würden und Frankreich nichts anderes übrig bliebe, als darauf zu reagieren. Andererseits gibt es die Überzeugung, dass diese Risiken beherrscht werden und sogar in den Dienst von Demokratie und menschlicher Entwicklung gestellt werden können.
Der Bericht beschäftigt sich sowohl damit, welche technischen und gesellschaftlichen Entwicklungen die «informatisation» mit sich bringen wird, als auch wie auf diese reagiert werden kann. Die Vorschläge beziehen sich vor allem darauf, wie der Staat agieren kann. Andere Bereiche – Wirtschaft, Zivilgesellschaft, Forschung, Bildung und so weiter – werden nicht direkt angesprochen. Dabei wird aber nicht an grossen Aussagen gespart: Es gäbe eine «crise française» (Nora & Minc 1978: 10) oder auch «crise de civilisation» (Nora & Minc 1978: 10), die durch die «informatisiation» hervorgebracht würde. Die Bruchlinien dieser Krise, vorangetrieben durch eine immer stärkere und leistungsfähigere Automatisierung, wären Tradition versus Umwälzungen sowie die Reproduktion von gesellschaftlichen Eliten versus Demokratisierung der Gesellschaft. (Nora & Minc 1978: 10) Die «révolution informatique» (Nora & Minc 1978: 11) löse, wie jede technologische Revolution, einen grundlegenden Wandel aus, auf den die Gesellschaft teilweise mit Begeisterung, teilweise mit Ablehnung reagieren würde. Der Bericht geht sogar kurz darauf ein, dass eine Technikkritik ebenso zu erwarten wäre, wie auch eine Kritik an sich verändernden Arbeitsbedingungen.13
«L’informatisation de le société» entwirft das Bild einer Technikentwicklung, die immer mehr zur Vernetzung von Computern und zur Entwicklung immer kleinerer Maschinen tendieren würde sowie geprägt sei vom ständigen Wachstum des Datenverkehrs und der Möglichkeiten zur Kommunikation. Die Datenausgabe wurde sich auf Druckern, Fernsehern oder über das Telefonnetz vorgestellt. So könne beispielsweise das Fernsehen von einer Ein-Weg-Kommunikation zu einer Kommunikation in mehrere Richtungen übergehen. Dies zusammengenommen würde die Verteilung von Macht in der Gesellschaft und Wirtschaft verändern. Es werden Beispiele und Themenbereiche angesprochen: Dezentralisierung im Grossen (der Staat) und Kleinen (Unternehmen, lokale Verwaltungen), Banken und Geldverkehr, Buchung von Flügen und Bahnfahrten (ein sehr spezifisches Thema, aber im Verlauf der 1980er Jahre waren Reservationen bei Reisen und durch Reisebüros dann tatsächlich ein wichtiges Feld der Angebotsentwicklung des minitel), Lebensmittelmärkte, Medizin und Telemedizin, Bildung, Ausbildung und Fortbildung. (Nora & Minc 1978: 49–61)14
Als eine grosse Gefahr wurde der Vorsprung der USA und Kanadas angesehen. Alle Nationen hätten andere Ansätze und Traditionen, aber gerade die USA würden international sowohl die Hardware als auch die Datenbanken dominieren.15 Die «informatisation» wäre deshalb auch eine Frage der nationalen Souveränität. (Nora & Minc 1978: 10)
Der Staat müsste, so der Bericht, handeln und zwar in einer Weise, die man heute wohl ganzheitlich nennen würde: Er müsse Netze einrichten, auf denen Daten transportiert werden können (es wurde diskutiert, dass dafür sowohl die Telefon- als auch die Fernsehnetze genutzt werden könnten, aber auch Satelliten wurden angedacht), er müsse Datenbanken – oder, wie später im Text klarer wird, eher Fachinformationszentren16 – kreieren (Nora & Minc 1978: 9–16), er müsse Marketing betreiben, Services und Standards etablieren, diese für eine Übergangszeit auch direkt vorantreiben, aber dann in Zukunft der Wirtschaft und der Gesellschaft überlassen. (Nora & Minc 1978: 75–88)
Der ganze Bericht ist auch von einer Angst durchzogen, dass der Staat zu zentralistisch reagieren könnte. Einerseits soll er investieren, andererseits möglichst Freiheiten lassen und dezentral handeln. Letzteres scheint sehr geprägt zu sein vom französischen Kontext und dem Programm der französischen Regierungen seiner Zeit, welche Dezentralisierung, Demokratisierung, aber auch die Zusammenarbeit von Wirtschaft und Staat zum Ziel hatten.
Nora und Minc führen – zumindest für die breite Öffentlichkeit – im Bericht für diesen zukünftigen Zusammenhang von Technologie, Planung und breiter Nutzung den Begriff Télématique ein, welcher sich zumindest im Zusammenhang mit dem Minitel auch durchsetzte. Man erkennt in dem gesamten Bericht Themen und Entwicklungen, welche dann das Denken und Handeln in den nächsten anderthalb Jahrzehnten prägen würden.
Interessant für die Frage dieses Artikels, wie Bibliotheken auf den Minitel reagierten, ist, dass sie als Einrichtungen überhaupt nicht erwähnt werden. Ebenso wenig Thema ist die Forschung als Produzentin und Nutzerin von Informationen. Worauf der Bericht hingegen explizit eingeht, sind «les sociétés de service» (Nora & Minc 1978: 91), welche Informationen kaufen, verarbeiten und wieder verkaufen sollen, also letztlich das, was später Informationswirtschaft genannt wurde. Diese würden einen wichtigen Bestandteil für den Erfolg der Télématique darstellen. (Nora & Minc 1978: 89–100) Oder anders: Zumindest dem Bericht nach geht es vor allem um wirtschaftliche Fragen, nicht um Bibliotheken oder, zum Beispiel, Wissenschaftskommunikation.
4.2 Minitel
Der Richtung, welche im Bericht von Nora & Minc skizziert wurde, wurde in der französischen Politik der nächsten Jahrzehnte – mit einigen Veränderungen – dann auch gefolgt. Fast alle Darstellungen der Geschichte des Minitels erwähnen, dass die Wahl für die Datenübertragungen letztlich auf die Telefonnetze fiel, weil Frankreich in den 1960er Jahren eines der ältesten Telefonnetze der westlichen Welt gehabt hätte und mit der Förderung der Télématique auch die Modernisierung dieser Netze vorantreiben konnte. (Abadie 1988, Marchand 1987, Marchand & Service de la Prospective et des Études Économiques 1987, Vetsch 1988, Senthiles 1989, Mailland & Driscoll 2017) Gleichzeitig wurde auf eine Beteiligung der herstellenden Industrie geachtet. Die ersten Minitel-Terminals wurden alle in Frankreich entworfen und produziert, dies aber verteilt über verschiedene Firmen, so dass die gesamte Industrie gefördert wurde.
Grundsätzlich übernahm der französische Staat über Ministerien, Gesetzgebung und die damals staatliche PTT die Rolle, die ihm im genannten Bericht zugedacht war. Dies ist zu verstehen im Rahmen einer Politik seit den 1970er Jahren, Frankreich durch Infrastrukturprojekte, zu denen zum Beispiel auch der Aufbau der Atomindustrie zählte, grundsätzlich zu modernisieren. (Abadie 1988) Nach dem Bericht wurde – zumindest offiziell – die Entscheidung getroffen, das Minitel-Netz, basierend auf einem zu modernisierenden Telefonnetz und der Technologie des britischen Prestel, zu initiieren.17 Es wurden erste technische Experimente durchgeführt, 1980 wurde das Thema in der Nationalversammlung behandelt. 1980 und 1981 folgten dann praktische Experimente, bei denen Minitels im kleinen Rahmen einer Öffentlichkeit zur Nutzung übergeben wurden (in Saint-Malo, Ille-et-Vilaine, Vélizy, alle eher im ländlichen Raum, erst später dann in Strasbourg). Der Staat finanzierte diese und koordinierte die Zusammenarbeit der Industrie. Mit der Agentur «Intelmatique» wurde auch eine Einrichtung geschaffen, welche die Technik und Hardware in anderen Ländern verbreiten und so zum Beispiel Produktionsaufträge für französische Firmen einwerben sollte.
Relevant für die dann anschliessende erfolgreiche Verbreitung waren, so der Konsens in der Literatur, zwei Entscheidungen: Erstens wurden, im Vergleich mit anderen Systemen, relativ einfache Kostenmodelle etabliert. Insbesondere das schon erwähnte «Kiosk-Modell», bei dem die Einnahmen zwischen PTT und den jeweiligen Anbietern geteilt wurden, gilt als Voraussetzung für die schnelle Akzeptanz auf Seiten der Informationsanbieter.18 Zweitens wurde die erste Generation der Minitel-Terminals ab 1982 kostenfrei in Postfilialen abgegeben. Sie ersetzten die gedruckten Telefonbücher, die stattdessen als Datenbank angeboten wurden, welche für die ersten drei Minuten pro Sitzung kostenfrei mit einem Minitel genutzt werden konnten. Hiermit sollte – und wurde dann auch – eine grosse Verbreitung der Geräte und gleichzeitig eine Gewöhnung an den Umgang mit ihnen erreicht. Ab 1983 wurde das Netz für kommerzielle Nutzungen freigegeben, wenn auch weiterhin unter staatlicher Kontrolle. Beispielsweise bedurften neue Angebote erst einer Zustimmung durch die Polizei des Departements. Da der Staat sich aber vor allem als Anbieter der Infrastruktur verstand, wurde dies recht liberal gehandhabt. (Mailland & Driscoll 2017)19
Diese Strategie war erfolgreich.20 Der Minitel verbreitete sich, gleichzeitig etablierten sich auch schnell die Angebote für den Minitel. Neben solchen staatlichen Firmen wie dem Bahnunternehmen SNCF (Société nationale des chemins de fer français) etablierten sich immer mehr auch Angebote privater Firmen. Von der Industrie wurden Peripheriegeräte wie Drucker oder Sicherheitsschlösser für die Terminals entwickelt und produziert. Gleichzeitig wurden Firmen gegründet, die sich nur auf den Minitel stützten. Auch in jeder Geschichte des Minitel werden hier die «messagerie roses» angeführt, bei denen – ähnlich Telefonsexhotlines – erotische Gespräche geführt wurden. Diese bauten auf dem «Kiosk-Modell» auf und waren, zumindest in der Anfangszeit, offenbar für einen grossen Teil des Datenverkehrs verantwortlich. Aber es gab selbstverständlich, und mit der Zeit wachsend, auch andere Informations- und Kommunikationsangebote. Neben privaten Geräten gab es eine wachsende Zahl von öffentlichen Terminals, die oft eine bestimmte Funktion hatten, beispielsweise am Bahnhof Zugang zu Reiseinformationen zu erhalten. Schnell wurden auch explizit tragbare Minitel-Terminals entwickelt, welche – so zahlreiche Anzeigen (siehe France Telecom 1989 oder auch die Beispiele in Marchand 1987) – von Geschäftsreisenden genutzt werden sollten.
Sentilhes et al. (1989) betonen in ihrem Buch «La Minitel Stratégie», welches als Einführung für Wirtschaftsunternehmen gedacht war, zum Beispiel: «Le minitel n’est pas un gadget et les chefs d’entreprise en prennent de plus en plus conscience.»21 (Sentilhes et al. 1989: 15) Sie führen Daten zu Wachstumsraten und Diffusion des Minitel auf – beispielsweise, dass er regelmässig von über 20 % der Bevölkerung benutzt würde –, die ihre These, dass ein Unternehmen ein Angebot für den Minitel haben müsse, um erfolgreich zu sein, unterstreichen sollte. Aber sie argumentieren auch, dass der Minitel ein besseres Wissensmanagement in einer Firma ermöglichen oder Logistik, interne Bürokratie und anderer Abläufe verbessern helfen kann. Zudem führen sie als neue Möglichkeiten Formen des Shoppings per Minitel an («centres commerciaux électroniques»).
An sich wurde der Minitel schnell mit Anwendungen in Verbindung gebracht, die heute weiterhin modern klingen: Buchhandlungen boten Bücher zum Bestellen an, es gab aber auch Angebote, Bücher oder Zeitschriften direkt am Bildschirm zu lesen. (Le Crosnier 1988) Ebenso wurden praktisch alle Produkte irgendwie angeboten, entweder in Datenbanken mit möglichen Einkaufsstellen oder zur direkten Bestellung. (Garnier 1989) Es wurde ernsthaft über die Möglichkeiten des «télétravail» – also des Arbeitens von daheim – nachgedacht. (Aizicovici 1989) Ebenso wurde konstant an einer technischen Weiterentwicklung der Minitel-Terminals und des Netzes, beispielsweise zur Darstellung von Farben, Video und Musik, gearbeitet.
Der gesellschaftliche Einfluss des Minitel ist im Nachhinein selbstverständlich schwer einzuschätzen, sollte aber auch nicht zu niedrig angesetzt werden. Mailland & Driscoll (2017) weisen darauf hin, dass dieser zu oft vom Ende her gedacht wird, nämlich seiner Ablösung durch das Internet. Dadurch erscheint er oft wie eine Fehlentwicklung, zumal die immer wieder angestrebte Verbreitung der Technologie in andere Länder kaum gelang. Das ist aber, wie sie richtig schreiben, eine Fehleinschätzung. Während seiner Existenz machte der Minitel aus Frankreich ein Land, das weit mehr elektronisch vernetzt war als alle anderen Länder. Die Nutzung digitaler Dienste durch die breite Bevölkerung – und wenn es «nur» die messageries oder das Abrufen von Telefonnummern und Abfahrtszeiten von Zügen war – war in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre etabliert. Um das Minitel-Netz herum entstanden zahllose Firmen, die über Jahre existierten. Vielen davon gelang dann in den 1990er Jahren auch der Umstieg zu anderen technologischen Grundlagen. Vieles, was anderswo erst Mitte der 1990er Jahre oder später zur Normalität wurde, war in Frankreich schon früher etabliert. Auch die Modernisierung des nationalen Telefonnetzes war ein erwähnenswertes Ergebnis. Frankreich verlor dann zwar diese führende Stellung in den 1990er Jahren wieder, aber das heisst nicht, dass der Minitel in den 1980er Jahren kein Erfolg war.
Der Minitel etablierte sich auch in der Populärkultur. Beispielsweise sind solche Publikationen wie «La grande aventure du minitel» (Marchand 1987) voller Bilder von Minitels in Musikvideos, Einkaufszentren oder als Motiv auf T-Shirts und Pins. Wie verbreitet die Nutzung war, zeigt wohl auch eine Publikation wie «Le Dossier noir du Minitel rose» von Denis Perier (1988). Perier möchte in diesem den Minitel von einem konservativen Standpunkt aus kritisieren und entwirft eine Art Handel, den die Politik mit der Presse, der Justiz und der Wirtschaft eingegangen wäre, um mit dem Minitel eine Umgestaltung der Gesellschaft und deren traditionellen Werte vorzunehmen. Er beschreibt die messagerie roses und ähnliche Foren als Ausdruck dieser Umwertung, wobei er nicht nur immer wieder betont, dass durch diese angeblich Prostitution, sondern – was er offenbar verwerflich findet, womit er seine Position markiert – auch Sexualpraktiken wie BDSM oder homosexueller Sex befördert würden. Das Buch zeigt vor allem, wie gross der Einfluss des Minitel war, wenn sich an ihn solche umfassenden Ängste binden konnten.
4.3 Bildschirmtext Btx
Einen solchen Einfluss konnte der bundesdeutsche Bildschirmtext oder zum Beispiel der schweizerische Videotex (Adrian 1988) nie erreichen, obgleich die Technologie hinter ihnen praktisch die gleiche war, sie also eigentlich die gleichen Möglichkeiten boten. (Zimmermann 1982) In der BRD wurde Btx von der Deutschen Bundespost etabliert. Dem voran ging aber nicht, wie in Frankreich, ein Bericht, welcher versuchte, die Technologie und ihre Auswirkungen auf die Gesellschaft zu verstehen. Vielmehr scheint auf internationale Entwicklungen reagiert worden zu sein. Das heisst nicht, dass sich nicht Gedanken gemacht wurde oder dass die Bundespost alleine gehandelt hätte: Sehr früh wurde die Verbindung zwischen Politik – insbesondere dem Bundespostministerium –, Bundespost und der deutschen Wirtschaft gesucht und von Wirtschaftsunternehmen ein Konsortium gebildet, das mit der Zeit unter verschiedenen Namen agierte beispielsweise als «Bildschirmtext-Anbieter-Vereinigung». Mit der «Studiengruppe Bildschirmtext» und ihrer Schriftenreihe (dreizehn Publikationen, erschienen zwischen 1983 und 1987) wurden auch Hochschulen und vor allem die Verhaltensforschung mit einbezogen. (Stolte 1982, Warnecke 1983, Adams 1984, Grunter 1984, Kaps 1984, Kuhlmann & Balderjahn 1984, Issing & Bildschirmtext-Anbieter-Vereinigung 1985, Koch 1995, Degenhardt 1986, Issing 1986, Nägle & Wieck 1986, Issing 1987, Korok 1987) Ebenso wurden zwei Feldversuche durchgeführt, einer in Düsseldorf und Neuss, einer in Berlin, bevor die Technologie mit dem «Staatsvertrag über Bildschirmtext» (Bartl 1983) offiziell ab 1983 im gesamten Bundesgebiet verbreitet wurde.
Was zum Beispiel an der genannten Schriftenreihe auffällt, ist der Fokus auf wirtschaftliche Fragen. Die Nutzer*innen wurden vor allem als «Konsumenten» betrachtet und ihre Akzeptanz des Mediums untersucht. Die weiter oben (3.2) schon geschilderte Gebührenstruktur hatte neben diesen auch die Informationsanbieter vor allem als Zahlende im Blick. Btx wurde offenbar nicht, wie dies in Frankreich zumindest angedacht war, unter dem Blickwinkel der Demokratisierung von Wissen oder der Dezentralisierung verstanden, sondern der liberal-konservativen Politik der 1980er Jahre in der BRD folgend, als marktgängige Infrastruktur.
Gleichzeitig gab es offenbar immer wieder Versuche, das Medium an Schulen und Hochschulen einzusetzen, allerdings erst nachdem die ersten, extrem hohen Erwartungen an die Verbreitung von Btx enttäuscht wurden. (Issing & Bildschirmtext-Anbieter-Vereinigung 1985, Schindler & Fleischhauer 1985, Hammon 1986, Issing 1986, Schindler et al. 1991, Bittner 1992, Bittner 1995) Jutta Arnold (1989) fasste, mit einem Blick aus der DDR, diese Versuche vor allem in der BRD und Österreich zusammen und kritisiert, dass es zwar praktisch an allen Hochschulen dieser beiden Länder Versuche zum Einsatz von Btx in der Lehre gäbe, aber eine Zentralisierung fehlen würde. Vorteil des Einsatzes von Btx wären nach ihr die individualisierte Gestaltung der Lernprozesse, zeitunabhängiges Lernen und die schnelle Anpassung von Lerninhalten – also alles Erwartungen, die auch heute weiterhin als modern gelten können, nur übertragen auf aktuelle digitale Medien und das Internet. In der DDR würde der Einsatz interaktiver Videotextsysteme noch bevorstehen, aber dann könne auf Erfahrungen mit Btx zurückgegriffen werden. (Das passierte dann wegen ihres Zusammenbruchs nicht mehr.)
Festzuhalten ist, dass Btx – genauso wie alle anderen dieser Netze ausserhalb Frankreichs – nie eine Massenverbreitung fanden. Es gab verschiedenste Versuche, diese zu erreichen. Beispielsweise wurden öffentliche Terminals – auch in Bibliotheken (Anonym 1981) – aufgestellt. Aber letztlich blieb die Entwicklung hinter allen optimistischen Vorhersagen, die zum Beispiel auf Basis der beiden Feldversuche gemacht wurden, zurück. (Ratzke 1984, Schneider 1989) Das heisst nicht, dass es keine Nutzung gab, aber eher durch Unternehmen als durch Privatpersonen.
4.4 Reflexionen
Der Unterschied zwischen der massenhaften Verbreitung von interaktiven Videotextsystemen in Frankreich und dem Rest der Länder, die dies versuchten, als auch die – entgegen den Erwartungen – enttäuschend langsame Verbreitung von Btx gab schon früh Anstoss für Reflexionen. Während in Frankreich vor allem Publikationen verbreitet wurden, welche den Minitel als Erfolgsgeschichte feierten, (Abadie 1988) gab es gleichzeitig ab Mitte der 1980er Jahre immer mehr bundesdeutsche Publikationen, welche sich kritisch äusserten. Fast immer wurde in diesen darauf verwiesen, wie erfolgreich der Minitel in Frankreich war, aber auch, wie sich das dortige vom bundesdeutschen Herangehen unterscheiden würde. (Stoetzer & Mahler 1995) Dabei ging es praktisch immer um politische oder kulturelle Fragen sowie die massenhafte Verbreitung der ersten Terminale durch die PPT. Es war Konsens, dass diese Unterschiede die wichtigste Rolle spielten – und nicht unbedingt technische.
Das Beispiel Btx wurde auch zur Triebkraft einer Kritik an Diffusionsmodellen. (beispielsweise Kubicek & Reimers 1995) Mit einem gewissen Genuss wurden die verschiedenen Vorhersagen, welche vor allem zu Beginn der Entwicklung von Btx über dessen zu erwartende rasante Verbreitung gemacht wurden und deren methodische Grundlagen aufgezählt, um zu zeigen, wie falsch diese alle lagen. Dabei hatten diese Modelle selbstverständlich Auswirkungen gehabt: Sie lieferten in Deutschland überhaupt eine Begründung dafür, warum es richtig war, Ressourcen in den Aufbau des Btx-Netzes zu investieren. Im Gegensatz zu Frankreich, in dem die Télématique mit einem Report begründet wurde, der nach den Auswirkungen der Technikentwicklung auf die Gesellschaft fragte, war es in der BRD vor allem die Begründung, mit dem Bildschirmtext einen neuen Markt erschliessen zu können, der als Motivation angeführt wurde. Dafür waren Modelle, die eine schnelle Diffusion vorhersagten, hilfreich.
Aber es blieb nicht dabei, sondern es gab eine Suche nach Erklärungen: Wieso lagen die Modelle so falsch? Was war ihnen entgangen? (Kubicek & Reimers 1995) Diese Suche wurde nie wirklich abgeschlossen, aber es zeigte sich, dass die Annahme, man könne relativ einfache Modelle für die Verbreitung von Innovationen finden und mit diesen dann Vorhersagen machen, die auch tatsächlich eintreffen, falsch war. Immer stand diesen Modellen der – gemessen an ihnen – erkennbare Misserfolg bei Btx und gleichzeitig die Unmöglichkeit, mit den vorhandenen Modellen die unterschiedliche Entwicklung in Frankreich zu erklären, entgegen.
Neben dieser Kritik am eigentlichen Erfolg von Btx existierte auch ein Kritikstrang, welcher grundsätzlich die Entwicklung hin zur «informatisation» und dessen Auswirkungen auf Arbeitsplätze, Gesellschaft und die Beziehung zwischen Staat, Wirtschaft und der Bevölkerung hinterfragte. (Siehe als Überblick dazu Kubicek & Rolf 1986) Diese, vor allem aus dem gewerkschaftlichen Milieu getragene Kritik, war von Nora & Minc (1978) für Frankreich erwartet worden, scheint dort aber keinen grossen Eindruck hinterlassen zu haben gegenüber den Erfolgen des Minitel oder – wie es oft hiess – der «banalisation» der Technik zum alltäglichen Objekt. In Deutschland konnte sich diese Kritik letztlich bestätigter fühlen, auch weil sich viele vorhergesagte Veränderungen, gerade in der Gestaltung von Arbeitsplätzen und -verhältnissen durch den relativen Misserfolg des Btx-Netzes, nicht einstellten. Hier spielte die fehlende «banalisation» der Kritik in die Hände. Innerhalb dieses Kritikstranges wurde immer wieder – teilweise mit dystopischen Vorhersagen, oft aber mit differenzierten Auseinandersetzungen – betont, dass gesellschaftliche Fragen über denen zur reinen Technikentwicklung stehen müssten. In gewisser Weise war dies auch ein Unterschied zu Frankreich: Dort wurden diese Fragen – Wozu soll die Technik dienen? Wie wird sich die Gesellschaft mit dieser Technik gestalten? Was sind die emanzipatorischen, was die dazu konträren Potentiale der Technik? – gleich zu Beginn gestellt. In anderen Ländern wurden sie von ausserhalb formuliert.
5. Bibliotheken und interaktive Videotextsysteme
In diesem Text geht es explizit um das Verhältnis von Bibliotheken und interaktiven Videotextsystemen. Die bisherige Darstellung, wenn auch notwendig um diesen Umgang zu kontextualisieren, erwähnte diese aber kaum. Dies hat seinen guten Grund: Bibliotheken waren offenbar nie im Fokus der Planungen, weder für den Minitel noch für den Btx. Das ist vor allem überraschend, wenn man bedenkt, dass die Technologie die Verarbeitung und Verbreitung von Informationen als Hauptaufgabe hatte. Sie wurde auch immer wieder in den Mittelpunkt gestellt: Im Bericht von Nora & Minc (1978) geht es explizit um Datenbanken und informationsverarbeitende Services. Die Schriftenreihe der Studiengruppe Bildschirmtext konzentrierte sich in ihren Publikationen auch auf «Personalsuche und Personalvermittlung» [mittels Datenbanken und Bewerbungen, die per Btx eingereicht werden sollten] (Stolte 1982), auf das «Informationsverhalten der Konsumenten» (Kaps 1983), den Bankenverkehr (Warnecke 1983, Nägle & Wieck 1986, Korok 1987) und «Verbraucherinformation» (Grunter 1984, Kuhlmann & Balderjahn 1984). Wie weiter oben gesagt (2.2), wurde die Technologie auch wegen ihres Fokus auf die Informationsverarbeitung für diese Untersuchung ausgewählt.
Zu erwarten wäre, dass Bibliotheken in diesen Diskurs einbezogen worden wären, da die Veränderungen, die durch die Technologie angestrebt wurden und dann – zumindest in Frankreich – auch stattfanden, ihre Arbeit explizit berührten. In Realität passierte dies andersherum: Die Bibliotheken beschäftigten sich mit der Technologie.
5.1 Minitel: «Banalisation» und lange Existenz als alltäglicher Bestandteil
Grundsätzlich lässt sich feststellen, dass französische Bibliotheken sich früh, aber auch nicht zu früh mit dem Minitel beschäftigten. Sie waren offenbar in keine der frühen Projekte und Überlegungen einbezogen. Aber als die Technologie verfügbar wurde, gab es von bibliothekarischer Seite aus schnell Versuche herauszufinden, wie und wozu sie genutzt werden konnte.
5.1.1 Etablierung in der ersten Hälfte der 1980er Jahre
Eine Bibliothek, die sich – auch aufgrund ihres Selbstverständnisses als moderne und vorwärtsgewandte Einrichtung mit einer Art Vorbildfunktion für andere Bibliotheken – schnell mit dem Minitel beschäftigte, war die Bibliothèque public d’information (BPI) im Centre Pompidou, Paris. In einem 1984 veröffentlichten Interview berichtet Jean-François Barbier-Bouvet (1984) von einem dreistufigen Experiment, von dem die erste Stufe dann schon durchgeführt war. In dieser Phase wurde im Lesesaal der BPI ein Minitel zur Verfügung gestellt, mit dem Nutzer*innen zum Beispiel auf Angebote von Tageszeitungen zurückgreifen konnten. In der zweiten Phase wurden fünf Minitel aufgestellt, mit denen zusätzlich weitere Informationsangebote (zum Banking, Wohnungen, Tourismus, öffentlichen Personennahverkehr und so weiter) zugänglich und eine unterstützende Beratung durch Bibliothekar*innen möglich sein sollte. In der dritten Phase, welche Anfang 1985 beginnen sollte, wurde der Aufbau von Datenbanken durch die BPI selber angedacht. Im gleichen Interview stellt Barbier-Bouvet dann auch elektronische Kataloge der BPI in Aussicht.
Die erste Phase dieses Projektes war dazu gedacht, zu beobachten, wie Nutzer*innen mit dem Minitel umgehen würden. Dabei stellte die BPI fest, dass es verschiedene Gruppen gab, die genau zu bestimmen schwierig sei. Es gäbe die Gruppe der Beobachter*innen und die der «Manipulator*innen», welche den Minitel tatsächlich nutzten. Diese Gruppen wären aber noch weiter zu unterteilen. Eigentliche Nutzer*innen, wie sie sich bei der Entwicklung des Minitel vorgestellt wurden, die wussten, welche Informationen sie benötigen und diese auch finden würden, wären die kleinste aller zu beobachtenden Gruppen gewesen.22
Mit Bezug auf das CLAIRE-Projekt, in welchem in Grenoble der Einsatz des Minitels durch eine Stadtverwaltung und die sozialen Dienste der Stadt – aber ohne Beteiligung der Bibliothek – ausprobiert worden war, stellte sich Brigitte Guyot (1984) die Frage, wie sich Bibliotheken in der neuen Informationslandschaft, welche durch die Télématique geschaffen wurde, verorten würden. Explizit fragte sie, wie Bibliotheken von Anbietern von Dokumenten zu Anbietern von Informationen werden könnten und ob sie selber Informationsproduzenten werden sollten. Es ging ihr dabei vor allem darum, dass im CLAIRE-Projekt direkt Informationen produziert und zum Beispiel auf Fragen geantwortet wurde, die von der Bevölkerung gestellt worden waren. Grundsätzlich sieht sie es als möglich an, dass Bibliotheken auch solche Aufgaben übernehmen könnten. Dafür müssten sie sich aber bewegen, weil sonst Privatunternehmen diese Aufgaben übernehmen würden.
Man kann also nicht sagen, dass sich Bibliotheken nicht mit der Technologie auseinandergesetzt hätten. Schon früh wurden Fragen nach den Möglichkeiten der Technologie gestellt und Projekte entworfen, wurden erste Versuche unternommen und dann bald eine Praxis etabliert. Es gab auch eine in den darauf folgenden Jahren fortgesetzte Beschäftigung mit dem Thema. zu nennen ist zum Beispiel ein Artikel von Kern (1986), der im Bulletin des Bibliothèques de France die Entwicklungen der letzten Jahre zusammenfasst und einen Ausblick auf die Entwicklung der Télématique gibt.
Auffällig ist aber, dass nach all den grossen Themen und Erwartungen, von dem die Einführung des Minitel begleitet war, die Projekte und Texte sehr schnell auf konkrete Fragen zu sprechen kommen. Fabreguettes’ Artikel beschäftigt sich 1986 zum Beispiel nur noch mit der Frage, welche technischen, finanziellen und personellen Ressourcen notwendig sind, um als Bibliothek ein eigenes Minitel-Angebot zu betreiben (Fabreguette 1986). Kerhuel (1986) wurde dazu interviewt, wie an den Universitätsbibliotheken Reims und Dijon die Kosten der Datenbanknutzung per Minitel verteilt sind. Im gleichen Jahr wird die Minitel-Datenbank des Cercle de la librarie – der Vereinigung des französischen Buchhandels – in der bibliothekarischen Presse vorgestellt (Santiago 1986), mit der bibliographische Daten des Buchhandels zugänglich wurden.
In einer Broschüre der oben genannten BPI (Bibliothèque publique d’information Centre Georges Pompidou 1987) werden die Angebote dargestellt, welche diese dann 1987 im Bezug auf den Minitel machte: Es war jetzt, gegen Gebühr, möglich, in der Bibliothek rund 50 Datenbanken abzufragen und sich über diese beraten zu lassen. Zudem gab es ein Minitel-Angebot der Bibliothek selber. Über dieses konnten die Öffnungszeiten, die verschiedenen Abteilungen der Bibliothek und Informationen über Veranstaltungen der Bibliothek abgefragt werden. Innerhalb weniger Jahre war aus dem Projekt also ein eingeführter Service geworden.
5.1.2 «Banalisation» in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre
Dies zeigte sich dann auch in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre: Der Minitel wurde zum normalen Gegenstand in französischen Bibliotheken, welcher mit eigenen Angeboten bedient und zur Verbreitung von Informationen genutzt wurde – oder anders gesagt, die «banalisation» des Minitel, nicht nur in der französischen Gesellschaft, sondern auch den Bibliotheken, war erstaunlich schnell abgeschlossen. Er wurde dann auch intern eingesetzt, beispielsweise bei der Organisation des Fernleihverkehrs und der Dokumentenlieferung (Nagelsmeier-Linke 1994) sowie der Kommunikation zwischen den Bibliothèques de prêt, welche in jedem Departement Bestände für Öffentliche Bibliotheken bereit halten, und den von ihnen «betreuten» Bibliotheken. (Blanco-Salesne 1991, Deschamps 1991) Konsens war, dass Bibliotheken sich der «informatisation» nicht mehr verschliessen könnten, weil Politik, Verwaltung und Nutzer*innen schon in diese Richtung gegangen wären und jetzt die Erwartung hätten, dass Bibliotheken folgen. (Blanc-Montmayeur 1987) Gefragt wurde dann praktisch nur noch, wie das passieren würde und wie sich die Kompetenzen verändern werden, die von Bibliothekar*innen in Zukunft verlangt würden. (Craipeau 1987, Keriguy 1987)
Bezeichnend dafür ist wohl, wie der Minitel in dem Standardlehrbuch für Bibliothekar*innen, «Le métier de bibliothécaire», behandelt wurde. In der neunten Auflage, erschienen 1992 – also noch vor der Verbreitung des Internets – wird er an zwei Stellen erwähnt. Einmal bei der Darstellung der Medienentwicklung als Instrument für Nutzer*innen, um Zugriff auf Datenbanken, bibliographische Informationen und Kataloge bestimmter Bibliotheken zu erlangen (Froissart & Hecquard 1992: 23) und einmal bei der Darstellung unterschiedlicher Funktionen von Bibliotheken, sowohl als Instrument für den Zugriff auf Kataloge als auch als Angebot für Nutzer*innen selber. (Froissart & Hecquard 1992: 245f.) Insgesamt nimmt der Minitel nicht einmal eine Seite Text in diesem über 300-seitigen Werk ein. Er muss nicht mehr erklärt werden, sondern ist einfach bekannt und etabliert. Er ist keine neue Technologie mehr, sondern ähnlich normal wie vielleicht Telefon, Fernseher oder Waschmaschine. 1992 wird zum Beispiel im Bulletin d’informations de l’Association des Bibliothécaires Français ein Schwerpunkt «Image et son dans les bibliothèques» zu Multimediaanwendungen, Kleincomputern und Bibliotheken publiziert, in welchem der Minitel nicht einmal mehr Erwähnung findet, obwohl er zu diesem Zeitpunkt auch den Zugriff auf viele «image et son» – Bild und Ton – sowie Video bot. Er scheint einfach als eine Form von Kleincomputer bekannt gewesen zu sein. (Association des Bibliothécaires Français 1992)
5.1.3 Eine französische Besonderheit und ihr unklares Ende
Diese «banalisation» gilt aber nur für Frankreich. Was sich nämlich zu Beginn der 1990er Jahre auch findet, sind zahlreiche Reiseberichte von Bibliothekar*innen oder Darstellungen des französischen Bibliothekssystems, in denen immer wieder mehr oder minder erstaunt darüber berichtet wird, wie aktiv französische Bibliotheken den Minitel nutzen und wie sehr sie über diesen miteinander vernetzt sind. (Syré 1991, Sohnle 1991, Gabel 1993, Wöllenweber 1995, Menyesch 1996, Davies & Johnson 1998, Hesse 1998)
Es ist nicht ganz klar, wann Bibliotheken in Frankreich aufhörten, den Minitel zu nutzen. Klar ist, dass er auch in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre noch von Zeit zu Zeit erwähnt wurde. Es scheint aber, als wären – wie so vieles zu der damaligen Zeit – viele Angebote, die zuvor für den Minitel gemacht wurden, mit der Zeit auch für das Internet angeboten worden und dann langsam auf dieses übergegangen. Dies war wohl irgendwann in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre der Fall, dann aber offenbar auch keine Meldungen oder grössere Auseinandersetzungen mehr wert. Der Kleincomputer mit Internetanschluss ersetzte den Minitel nicht nur in den französischen Privathaushalten, sondern offenbar auch in den Bibliotheken.
5.2 Btx: Schnelle Auseinandersetzung, schnelles Verschwinden im Hintergrund
Wie entwickelte sich dagegen der Zusammenhang von Btx und Bibliotheken in der BRD? Erstaunlicherweise zuerst nicht viel anders als in Frankreich. Obwohl, wie dargestellt, der politische und gesellschaftliche Kontext ein anderer war, fanden sich auch in Deutschland schnell Bibliotheken, die sich mit dem neuen Medium Btx auseinandersetzten. 1981 schon nahm die Amerika-Gedenkbibliothek in Berlin (West) an dem dortigen Feldversuch zu Btx teil und stellte «nach sorgfältiger Abwägung aller Vor- und Nachteile» ein Gerät zur freien Benutzung bereit. (Anonym 1981)23
5.2.1 Schneller Start
1983 begann das – damals mit dem Auftrag, die Entwicklung von Bibliotheken in der BRD voranzutreiben, bestehende – Deutsche Bibliotheksinstitut, sich mit den Anwendungsmöglichkeiten des Btx in Bibliotheken zu beschäftigen. Dies schlug sich nicht nur in konkreten Projekten, sondern auch einer intensiven Publikationstätigkeit, insbesondere von Clemens Deider (1983a-d, 1984a-b), nieder. In einem Artikel in der Zeitschrift «nachrichen elektronik + telematik» fasste er die dazugehörigen Überlegungen zusammen. Diese bestanden zu dieser Zeit aus vielen möglichen zukünftigen Anwendungsgebieten: Anzeige von Katalogen inklusive Ausleihstatus; Ausleihmöglichkeiten und Fernleihe; «Vergrößerung des Informationsspektrums» Öffentlicher Bibliotheken, was sich aus dem «Selbstverständnis der Bibliothek als umfassendes Informationszentrum [ergäbe]» (Deider 1984b: 420); Lernzentren in Bibliotheken, in denen sich Btx nutzen liesse; «Zusammenschluß bestimmter Bibliotheken, evtl. nach Region, Fachgebieten usw. in sog. Geschlossenen Benutzergruppen» (Deider 1984b: 421) beispielsweise zum Austausch von Titellisten und Erfahrungen. Oder auch der Aufbau lokaler Btx-Verbünde von Bibliotheken mit anderen Informationsanbietern wie Volkshochschulen. Bibliotheken könnten sich als «Informationsanbieter, […] Informationsvermittler und -empfänger und als […] Vermittler für das eigentliche Medium Btx» (Deider 1984b: 423) etablieren. Er diskutiert zudem, welche Anforderungen an Bibliothekar*innen und Bibliotheken sich dadurch ergeben würden.
Auch im Jahresbericht des Bibliotheksinstituts nennt dessen Direktor Günter Beyersdorff noch 1985 die Beschäftigung mit Btx, dessen Einsatz in Bibliotheken und die Unterstützung von Bibliotheken, die sich mit dem Medium bekannt machen wollen, als ein Arbeitsgebiet. Er weist zum Beispiel auf dann schon realisierte Projekte hin, wie die Zeitschriftendatenbank sowie einen vom Institut aufgesetzten «Testindex» im Btx. Allerdings führt er diesen Teil des Berichtes schon mit den folgenden Sätzen ein:
«Es ist stiller geworden um Bildschirmtext. Gemessen an den sehr optimistischen Prognosen der Bundespost, wie sie etwa noch vor Jahresfrist veröffentlicht worden sind, sind die derzeitigen Voraussagen über Teilnehmerzahlen, Angebote und Nutzung bescheidener und damit vielleicht auch realistischer geworden.» (Beyersdorff 1985:387)
Er kritisiert dann auch vor allem die Gebührengestaltung durch die Bundespost und postuliert, dass sich Btx in Konkurrenz zu Mikrocomputern schwer durchsetzen wird. (Beyersdorff 1985: 387) Gleichwohl bewertet er ihn noch positiv:
«Er eignet sich […] prinzipiell als Medium für den Auskunftsdienst einer Bibliothek und als Transportweg für alle Informationen, die sich direkt an den Nutzer einer Bibliothek richten.» (Beyersdorff 1985: 388)
Ein Jahr später berichtete er aber selber, dass das Institut sein Btx-Angebot eingestellt habe. (Beyersdorff 1986) Er bezeichnet die Testphase als beendet und erwähnt, dass «wertvolle Erkenntnisse über Probleme und Realisierungsmöglichkeiten des externen Rechneranschlusses und der dabei zu lösenden Softwareprobleme» (Beyersdorff 1986: 765) gewonnen worden wären. Aber gleichzeitig gibt das Institut damit praktisch seine Beschäftigung mit diesem Medium auf und konzentriert sich auf andere Aufgaben. Später wird es sich schnell mit den Möglichkeiten des Internets befassen, bevor es dann Ende der 1990er Jahre abgewickelt wird.
Das Bibliotheksinstitut war nur die sichtbarste Einrichtung im bundesdeutschen Bibliothekswesen, welche sich mit Btx auseinandersetzte. (Rauch 1984, Ernestus 1984) Auch viele Bibliotheken taten dies (Deider 1983d, Bittner 1992, Sträter 1993), ebenso wie Bibliotheken zum Beispiel immer wieder versuchten, zu eruieren, wie man über Btx die Möglichkeiten der Fernleihe (Nagelsmeier-Linke 1994) oder verteilter Arbeit, zum Beispiel die an Bibliographien, organisieren könnte. (Syré 1991) Ebenso gab es zahlreiche Weiterbildungen zum Thema. (Höpfner 1985, Bittner 1995) Auch wurde in der bibliothekarischen Fachpresse weiter über die technischen Entwicklungen und Pläne der Bundespost berichtet. (Rochow 1984a-b, Deider 1991) Dies hörte nicht mit dem Ende des Projektes im Deutschen Bibliotheksinstitut auf, sondern zog sich bis in die erste Hälfte der 1990er Jahre hin, wenn auch mit stark abnehmender Intensität.
5.2.2 Ähnliche Themen, andere Technologie
Auffällig ist, dass auch die Auseinandersetzung mit Btx, nach einigen ersten Bedenken, sehr schnell auf konkrete praktische Fragen ausgerichtet war. Überlegungen zu möglichen gesellschaftlichen Veränderungen, Veränderungen der Arbeitsplätze oder der Demokratie, wie in Frankreich, scheinen zumindest in der bibliothekarischen Literatur nicht aufgekommen zu sein. Dies heisst nicht, dass solche Überlegungen nicht doch unternommen wurden, allerdings nicht im Zusammenhang mit Btx. Ein Beispiel wäre hier die Ad-hoc-Kommission zu Rationalisierungsfragen im «Verein der Diplom-Bibliothekare an Wissenschaftlichen Bibliotheken», welche in der ersten Hälfte der 1980er Jahre tätig war. Sie untersuchte explizit die «Auswirkungen neuer Technologien auf Bibliotheken und Bibliothekare» (Ad-hoc-Kommision zu Rationalisierungsfragen 1984) und verglich dabei den Geschäftsgang ohne und den gedachten Geschäftsgang mit vernetzten Kleincomputern nebeneinander. Alle Beteiligten (Bibliothekar*innen, Berufsverband, Gewerkschaften) müssten die Veränderungen aktiv gestalten, damit ihnen eine gute Richtung gegeben werden könne. «Informationsbroker» (Ad-hoc-Kommision zu Rationalisierungsfragen 1984: 84) und «Btx-Agenturen» (Ad-hoc-Kommision zu Rationalisierungsfragen 1984: 85) – also informationsverarbeitende Services – wurden von ihr dabei als Bedrohung für Bibliotheken wahrgenommen. Solche Überlegungen bezogen sich aber immer auf eine «Informationsgesellschaft» und eine Tendenz zum Einsatz von EDV, welche als gegeben angenommen wurden, nicht direkt auf Btx.
Während also die Beschäftigung von Bibliotheken mit Btx sogar etwas früher startete als die Beschäftigung mit dem Minitel in Frankreich, lief sie in gewisser Weise in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre gerade dann aus, als der Minitel «banalisiert» wurde. Dies geht parallel mit der Diffusion der Technologie in den Gesellschaften der beiden Länder. Auf den ersten Blick scheint dies nicht unbedingt mit den Bibliotheken selber zu tun gehabt haben. Aber auffällig ist doch, dass in Frankreich der Minitel auch für Arbeiten wie die Fernleihe oder die Kommunikation zwischen Bibliotheken genutzt wurde, während dies zumindest im grossen Rahmen in der BRD mit dem Btx bei Überlegungen und Versuchen blieb. Es gibt also Unterschiede, die zwischen den französischen und bundesdeutschen Bibliotheken bestanden.
5.3 Modell oder singuläre Entwicklungen?
Nach der Schilderung der Geschichte von Minitel und Btx, kann jetzt dazu übergegangen werden, die oben aufgestellte Frage zu klären: Zeigt sich in dieser Geschichte ein Modell, dem Bibliotheken bei der Auseinandersetzung mit neuen Technologien folgen? Dazu werden die weiter oben (2.1) genannten Fragen als Leitlinien genutzt.
Welche Vorhersagen und Versprechen für die Zukunft werden im Bezug auf die Technologie gemacht und welche davon tauchen in der bibliothekarischen Diskussion auf?
Wie dargestellt, waren die Vorhersagen bezogen auf den Minitel – genauer, auf die gesamte Télématique, deren wichtigster Teil er war – weitreichend. Es wurde über gesellschaftliche Veränderungen spekuliert, die durch ihn vorangetrieben würden. Es ging um die Modernisierung des ganzen Landes, um die Überwindung einer Krise, die durch die Automatisierung erst ausgelöst worden wäre, aber auch um die Förderung der französischen Industrie. Hingegen waren die Vorhersagen im Bezug auf Btx weniger umfassend. Hier wurde vor allem das Entstehen neuer Märkte angedacht. In beiden Ländern gab es zudem die Vorstellung, dass die jeweiligen interaktiven Videotextsysteme den Aufschwung einer Informationsindustrie bedingen würden.
Trotz dieser Unterschiede wurde sich im bibliothekarischen Feld vor allem auf praxisnahe Fragen konzentriert. Es wurde eine neue Technologie wahrgenommen und gefragt, wie die Technologie in der Bibliothek genutzt werden könnte. Die gesamten vorhergehenden politischen Diskussionen, vor allem in Frankreich, spiegeln sich dann in der bibliothekarischen Diskussion und Praxis nur noch in Andeutungen wider. Es scheint ein wenig so, als wären diese in einer anderen Sphäre geführt worden, welche Bibliotheken nicht weiter beeinflusste.
In welcher Weise reagieren Bibliotheken auf die neue Technologie? Werden zum Beispiel zuerst intensive Diskussionen geführt und Technikfolgeabschätzungen durchgeführt? Oder werden möglichst schnell Projekte mit der neuen Technologie durchgeführt?
Bibliotheken führten in beiden Ländern eine gewisse Art von Voranalyse durch. Die BPI wollte zum Beispiel zuerst wissen, wie Nutzer*innen reagieren. Das Deutsche Bibliotheksinstitut entwarf eine ganze Reihe von möglichen Anwendungen, die dann zum Teil ausprobiert wurden.
Aber diese Phase war sehr kurz. Schnell wurde zu tatsächlichen Projekten übergegangen, welche die Technik nicht nur ausprobierten, sondern einsetzen wollten. Der Aufbau von Datenbankangeboten in der BPI sollte gleich im Jahr nach dem ersten Projekt angegangen werden, das Bibliotheksinstitut vermeldete auch schon zwei Jahre nach den ersten Projektpublikationen, dass es gewissermassen standardmässig Beratungsangebote zum Thema anbot. Alles ging relativ schnell.
Welche Bereiche von Bibliotheksarbeit werden diskutiert und welche Bereiche werden dann tatsächlich angegangen, um sie mit der Technologie zu verändern?
Es ging Bibliotheken sowohl darum, wie die Nutzer*innen mit der Technologie umgehen und was sie von der Technologie und Bibliotheken erwarten würden, als auch darum, ob Bibliotheken die Technologie für die eigene Arbeit nutzen konnten. Dabei wurden die Erwartungen erstaunlich schnell zurückgeschraubt. In der BRD war Btx nach kurzer Zeit kaum noch ein Thema bibliothekarischer Zukunftsentwürfe, in Frankreich wurde der Minitel sehr praxisorientiert genutzt und schnell zum alltäglichen Werkzeug in Bibliotheken.
Wie sehr ist diese Reflexion oder Übernahme der neuen Technologie in Bibliotheken mit der Entwicklung der Diskussion und Nutzung in der gesamten Gesellschaft verbunden? Reagieren Bibliotheken vor allem auf Diskurse und Entwicklungen oder agieren sie selber?
Zu erwarten wäre gewesen, dass die Diskurse um die Technologie einen grossen Einfluss auf die Auseinandersetzung in Bibliotheken gehabt hätten. Das scheint aber nicht direkt der Fall gewesen zu sein. Sicherlich wurden sowohl mit dem Bericht von Nora & Minc (1978) als auch mit der Ausrichtung von Btx auf wirtschaftliche Fragen und der Erwartung eines entstehenden Informationsmarktes eine Richtung vorgegeben, die auch Bibliotheken ansprach – und wenn es als mögliche Konkurrenz war. Aber die meisten tatsächlich angegangenen Projekte konzentrierten sich dann auf bibliothekarische Fragen: Wie wird sich die Arbeit der Bibliothek ändern? Was wollen Nutzer*innen von den Technologien? Was können Bibliotheken anbieten?
Auffällig ist aber, dass die Diffusion der Technologie in den beiden Gesellschaften und die Diffusion in den Bibliotheken der beiden Länder jeweils parallel lief. Die Bibliotheken standen bei interaktiven Videotextsystemen also auch nicht ausserhalb der Gesellschaft.
Findet eine «banalisation» der Technologie – also eine Übernahme in die Praxis, die dann nicht mehr erwähnenswert ist – statt und wenn ja, wie schnell?
Genauso wie die Beschäftigung mit der Technologie selber relativ schnell begann und dann auch zu Praxisprojekten überging, fand die «banalisation» des Minitel in französischen Bibliotheken statt – so sehr, dass sie in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre eigentlich nicht mehr gross erwähnt wurden, ausser in Texten, die aus dem Ausland über diese französischen Zustände berichteten.
Eine vergleichbare «banalisation» von Btx liess sich nicht beobachten, was aber wohl auch damit zu tun hat, dass sich kaum Anwendungsfälle finden liessen, weil zum Beispiel Btx sich praktisch nicht in privaten Haushalten etablierte. Auffällig ist eher, wie wenig Erwähnung Btx überhaupt nach einigen Jahren noch fand.
Wie und wann wird eine Technologie wieder «ausgephast», also wieder aus der Bibliothek entfernt? Warum passiert das?
Im Fall von Btx scheint es, als wäre die Technologie aufgegeben worden – wenn auch über die Jahre immer wieder einmal neu aufgenommen –, weil es offenbar nicht möglich war, Anwendungen für sie zu finden. Der Minitel wurde, wie mehrfach gesagt, länger und für weit mehr Anwendungen genutzt. Hier scheint es, dass er aufgegeben wurde, als sich das Internet durchsetzte, aber auch nicht sofort. In vielen der oben erwähnten Berichte über französische Bibliotheken aus den 1990er Jahren finden sich auch Verweise, dass Minitel und Internet nebeneinander benutzt würden.24
Zu bemerken ist allerdings, dass dieses Entfernen oder Ersetzen der Technologie sich eigentlich nicht in der bibliothekarischen Literatur wiederfindet, sondern rückwirkend geschlossen werden muss: Irgendwann wurde die Technologie einfach nicht mehr erwähnt. Im Falle des Minitel wurde dafür dann «die nächste neue Technologie» besprochen. Es gab aber keine sichtbaren Auseinandersetzungen damit, warum die «alte neue Technologie» jetzt nicht weiter benutzt wird.
Ergibt sich daraus ein Modell? Oder handelt es sich um eine singuläre Entwicklung, die nur auf die interaktiven Videotextsysteme zutrifft?
Nimmt man diese Aussagen zusammen, dann ergibt sich – insbesondere, wenn man schaut, welche Gemeinsamkeiten es trotz der unterschiedlichen Diffusion der Technik in beiden Ländern gibt – folgende erste Skizze eines Modells:
Die Bibliotheken reagieren relativ schnell auf diese neue Technologie. Sie erfinden sie nicht und sind auch nicht die, welche sie unbedingt mit Versprechen aufladen. Aber sie sind recht schnell dabei, sich mit ihr auseinanderzusetzen.
Die meisten Versprechen, mit denen die Technologie aufgeladen werden, interessieren in der konkreten Umsetzung in den Bibliotheken kaum. Vielmehr werden sie schnell auf Aufgaben in Bibliotheken hin abgeklopft.
Es geht dabei sowohl darum, was die Nutzer*innen wollen und darum, wie Bibliotheken die Technologie für ihre Arbeit nutzen können. Ein Thema ist dabei immer, welche neue Kompetenzen von Bibliothekar*innen in Bezug auf die neue Technologie erwartet werden.
Entscheidungen über den Einsatz der Technologie werden innerhalb weniger Jahre getroffen. Innerhalb von vielleicht fünf Jahren wurde entschieden, ob eine «banalisation» stattfindet oder ob die Technologie kaum noch beachtet wird.
Klar ist, dass neue Technologien auch von Bibliotheken aufgegeben werden. Aber welche, warum und wann genau, ist nicht einfach zu bestimmen.
Aber ist dies nur für interaktive Videotextsysteme gültig? Sicherlich war diese Technologie darin besonders, dass sie aktiv von der jeweiligen nationalen Politik vorangetrieben wurde. Aber hat das zum Beispiel zu einer anderen Beschäftigung von Bibliotheken mit ihr geführt, die bei anderen Technologien nicht zu beobachten war?
Dies müsste an mehreren «neuen Technologien» überprüft werden und kann in diesem Text nicht geleistet werden. Möglich ist hier aber, einige Hinweise zu versammeln, die darauf hindeuten, dass sich das Modell grundsätzlich auch bei anderen Technologien finden lässt.
Die schweizerische Version der interaktiven Videotextsysteme, Videotex (Freiburghaus 1985), wurde zumindest anfänglich ähnlich von Bibliotheken behandelt: Relativ schnell wurde sich grundsätzlich mit der Technologie auseinandergesetzt und gefragt, wie diese in Bibliotheken eingesetzt werden könnte (Chauveinc 1984), obwohl Bibliotheken bei den Akteuren hinter der Einführung nicht wirklich angedacht waren (beispielsweise werden sie beim Videotex-Kongress nicht erwähnt, Alphaville AG 1985). Anschliessend verschwindet Videotex aber praktisch aus den bibliothekarischen Medien der Schweiz, ähnlich wie aus der Öffentlichkeit. (Vetsch 1988) Es wird sich dann bald mit anderen Möglichkeiten der EDV auseinandergesetzt. (Walckiers 1987)
Im oben genannten Artikel zur Verbreitung von Computern in Bibliotheken im DACH-Raum in den 1960er Jahren (Schuldt 2021a) zeigte sich auch zum Teil eine ähnliche Entwicklung: Relativ schnelle Auseinandersetzung mit der Technologie, Fokussierung auf bibliothekarische Anwendungen, Diskussion um die Veränderung von Arbeitsplätzen, schnelle Etablierung. Allerdings wurde nicht gefragt, was die Nutzer*innen von Bibliotheken im Bezug auf Computer erwarten würden. Ebenso lief die Technik nicht im Untersuchungszeitraum aus.
Mit Vorsicht kann also gesagt werden, dass die genannten Eckpunkte als skizzenhaftes Modell der Diffusion neuer Technologien in Bibliotheken herangezogen werden können.
Allerdings wurde im Laufe der Recherche für diesen Artikel auch gelernt, dass alle Modelle, die zu sehr darauf zielen, Vorhersagen über die Diffusion neuer Technologien zu machen, daran scheitern, die damit verbundenen komplexen Dynamiken zu modellieren. Statt für Voraussagen eignet sich so ein Modell eher dafür, anzuzeigen, nach was gefragt werden kann und sollte, wenn sich Bibliotheken mit neuen Technologien beschäftigen wollen.
Was sich am Beispiel Minitel und Btx sehr klar zeigte, war die Bedeutung nationaler Kontexte. Technologie und ihre Nutzung sind offenbar auch im Bereich Bibliotheken nicht neutral, sondern immer auch vom gesellschaftlichen Kontext abhängig.
6. Fazit: Offene Fragen
In diesem Text wurde gefragt und dann anhand des Beispiels interaktiver Videotextsysteme untersucht, wie Bibliotheken auf neue Technologien reagieren. Insbesondere wurde nach einem Modell gefragt, welches vom Einzelfall abstrahiert werden und dann beispielsweise für ein besseres Verständnis oder auch für eine bessere Steuerung von Aktivitäten im Bereich «neue Technologien» genutzt werden könnte. Zudem könnte solch ein Modell genutzt werden, um Forschungsfragen zu formulieren, damit solche Prozesse besser untersucht werden können.
Ist dies erfolgreich gewesen? Nur zum Teil. Vielmehr wurde sichtbar, wie komplex diese Prozesse offenbar sind. Es zeigte sich, dass bestimmte Prozesse schwieriger nachzuvollziehen sind als andere. Das Bibliotheken schnell die Versprechen, die mit neuen Technologien einhergehen, ignorieren und nach konkreten Anwendungen fragen oder dass sie relativ schnell reagieren – sowohl was die Beschäftigung mit neuen Technologien als auch Entscheidungen darüber, ob sie «banalisiert» oder nicht weiter verfolgt werden – ist zum Beispiel leichter zu rekonstruieren, als die Prozesse, die dazu führen, dass eine einst neue Technologie wieder aus Bibliotheken entfernt wird.
Was sich auch zeigte, war, dass insgesamt Bibliotheken recht offen für neue Technologien sind. Die Begeisterung, die in den letzten Jahren für humanoide Roboter aufgebracht wurde, war offenbar nur ein neueres Beispiel dafür. Bestimmte Bibliothekar*innen oder auch Bibliotheken beschäftigen sich wohl immer wieder mit den jeweils neuen Technologien, wenn sie gerade neu etabliert werden (egal, ob sie wirklich neu sind oder – wie mit Bezug auf Pepper in den oben angeführten Texten zum Ende seiner Produktion angemerkt wurde – eher Neuauflagen älterer Konzepte). Die meisten dieser neuen Technologien scheitern und damit dann auch die Auseinandersetzung mit ihnen in Bibliotheken. Aber, wie am Beispiel Minitel und Btx sichtbar wurde, sind die Gründe dafür nicht unbedingt nur in Bibliotheken zu suchen.
Dies öffnet neben praktischen auch viele offene Forschungsfragen. Wie angedeutet, ist die Suche nach Modellen, mit denen solche Entwicklungen verstanden werden können, nicht nur Thema des vorliegenden Textes. Auch Christensen und Finck (2021) nutzen ein Modell, um die Diffusion und Entwicklung einer Technologie im Bibliotheksbereich zu beschreiben. Das von ihnen gewählte Modell liesse sich mit den hier präsentierten Ergebnissen wieder kritisieren – aber gemeinsam ist ihrem und dem vorliegenden Text doch der Wunsch, mehr darüber zu verstehen, wie diese Diffusion funktioniert. Auch in seinem persönlichen Überblick über die Technikentwicklung in Bibliotheken seit den 1960er Jahren versucht Elmar Mittler (2017) zu verstehen, wie diese stattfand und wie Bibliotheken sie in Zukunft aktiv mitgestalten können. Er kommt zu anderen Einschätzungen als der hier vorliegende Artikel. Insbesondere sieht er die Bibliotheken eher als getrieben denn als gestaltend an. Aber auch bei ihm geht es darum, die Entwicklungen der letzten Jahrzehnte zu verstehen, damit Bibliotheken sie dann in Zukunft proaktiv gestalten können.
Es bleiben also offene Fragen wie zum Beispiel folgende:
Wie wählen Bibliotheken aus, welche neuen Technologien von ihnen beachtet werden? Wie kommt es, dass sie dabei relativ schnell sind?
Wie funktioniert die Fokussierung auf bibliothekarische Fragen, die sich bei der Auseinandersetzung mit neuen Technologien feststellen lässt, konkret?
Wie funktioniert die «banalisation» von Technik in den Bibliotheksalltag und wie die Ablehnung anderer Technologien? Insbesondere: Wie kommt es, dass einige Technologien sich relativ rasant im gesamten Bibliothekswesen verbreiten?
Wie funktioniert das «Verschwinden» von Technologie konkret?
Die in diesem Text postulierte, relativ schnelle Entwicklung, stimmt nicht unbedingt mit dem Selbst- und Fremdbild von Bibliotheken überein. Wie kommt es zu dieser Differenz? Warum wird beispielsweise in der bibliothekarischen Presse oder auf bibliothekarischen Konferenzen regelmässig argumentiert, dass Bibliotheken sich wandeln müssten, wenn sie dies offenbar – bezogen auf neue Technologien – auch von sich alleine aus tun?
Grundsätzlich wurde in diesem Text versucht, nach einem Modell für die Diffusion neuer Technologien in Bibliotheken zu suchen. Es wurde einerseits gefunden, dass dies eine komplexe, vielleicht nie zu beendende Aufgabe darstellt und andererseits dennoch erste Eckpunkte für so ein Modell benannt. In Zukunft steht als offene Aufgabe, dieses Modell anhand anderer Beispiele zu überarbeiten25 und gleichzeitig, aus ihm konkrete Schritte für die zukünftige Bibliothekspraxis zu formulieren.
Auffällig wurde aber auch, dass eine gewisse Ebene der Auseinandersetzung mit neuen Technologien, die in den 1980ern noch normal gewesen zu sein scheint, nämlich die eher gewerkschaftlich orientierte Frage danach, wie diese die Arbeitsplätze und -verhältnisse verändern wird und wie darauf im Sinne der Arbeitenden politisch reagiert werden soll, verschwunden zu sein scheint. Dabei würde es sich lohnen, sie auch wieder zu stellen.
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Darauf folgte eine Reihe von eher hämischen Artikeln (beispielsweise Inada 2021, Macaulay 2021), die zusammentrugen, in welchen Projekten Pepper in den letzten Jahren gescheitert wäre (beziehungsweise, wie es oft ausgedrückt wurde, «von seinem Job gefeuert wurde»). Auffällig an diesen Artikeln war allerdings, dass erstens immer wieder die gleichen Projekte angeführt wurden und zweitens, dass unter diesen keines in einer Bibliothek angesiedelt war, sondern eher in Supermärkten oder Banken.↩︎
Das wäre zum Beispiel bei humanoiden Robotern nicht auszuschliessen. Diese Idee wird, genauso wie der Einsatz von kleinen Robotern zum Lernen, seit Jahrzehnten immer wieder neu formuliert.↩︎
Nur einige Beispiele, die vielleicht für weitere Studien interessant wären: Mikroformate wie Microfiches und -filme, insbesondere ihre Verwendung als Medium für Kataloge, Schreibmaschinen, Reprodrucker und Kopiergeräte, Videos und Videotechnik, verschiedene Lehr- und Lerntechnologien, unter anderem Sprachlernstudios, Computer- und Konsolenspiele verschiedener Generationen.↩︎
Zur Verfügung standen, neben digitalisierten Dokumenten – die aber nicht so zahlreich sind, wie man vielleicht erwarten könnte – vor allem Materialien, welche in Berliner und Schweizerischen Bibliotheken vorhanden sind. Auffällig war bei letzteren, dass es eine Tendenz in den Sprachregionen gibt beziehungsweise gab, Materialien zu zur jeweiligen Sprache «gehörenden» Systemen zu sammeln. In Bibliotheken in der Deutschschweiz (und in Berlin) finden sich vor allem solche zu Btx, in der Romandie solche zum Minitel. (Das schweizerische System, Videotex, scheint kaum Gegenstand der bis heute im Bestand von Bibliotheken befindlichen Dokumenten gewesen zu sein. Hier war das PTT-Archiv der schweizerischen Post in Köniz hilfreich.) Bestimmte Medien, zum Beispiel populäre Zeitschriften zum Minitel – solche, die im normalen Pressebuchhandel verkauft wurden – finden sich aber weder in der Schweiz noch in Deutschland. Sie wären in ausgewählten französischen Bibliotheken zugänglich. Aufgrund der COVID-19 Pandemie wurde aber auf weitere Recherchefahrten nach Frankreich verzichtet. Offenbar gab es immer wieder vor allem ein Interesse für die jeweils sprachlich zum Bibliothekswesen passenden Systeme. Für einen weitergehenden Vergleich, der zum Beispiel auch das britische oder die skandinavischen interaktiven Videotextsysteme einbeziehen würde, müssten also wohl auch Reisen zu Bibliotheken und Archiven in die betreffenden Länder unternommen werden.↩︎
Eigentlich Télétel. Der Minitel war innerhalb dieses Systems das Terminal auf Seite der Informationsnutzer*innen. Relativ schnell setzte sich dessen Name aber für das gesamte System durch und wird deshalb in diesem Text auch so verwendet.↩︎
Was dann, fast klassisch, dazu führte, dass auch recht bald Diskussionen um gemeinsame Austauschstandards geführt wurden, um die verschiedenen Systeme miteinander kommunizieren zu lassen.↩︎
Es gab auch Überlegungen und wohl Prototypen, diesen Zugang über das Fernsehnetz zu ermöglichen, was die Verwechslung von Interaktiven Videotextsystemen und Videotext, wie er als Ergänzung von Fernsehprogrammen etabliert wurde, nur noch mehr befördert hätte. Es scheint aber – zumindest der vorhandenen Literatur nach – nicht, dass dies irgendwo umgesetzt wurde.↩︎
Eine Übersicht der Terminals für den Minitel findet sich auf der Homepage des «Minitel Research Lab, USA». (Minitel Research Lab 2022)↩︎
Das ermöglicht es, dass heute noch von Interessierten eigene interaktive Videotext-Server betrieben werden können (zum Beispiel http://www.3614hacker.fr oder https://sm.3615.live), die meisten für den Minitel. Sie lassen sich über den Browser nutzen, aber auch mit alten Terminals oder mit modernen Nachbauten – oft auf dem Raspberry Pi basierend – derselben.↩︎
Zu sehen beispielsweise zuletzt 2021 in der Ausstellung / Rekreation des interaktiven Projektes «Piazza virtuale», ursprünglich durchgeführt 1992 im Rahmen der documenta IX, im Kunsthaus Bethanien, Berlin. (Kunsthaus Bethanien 2021, Baumgärtel 2021) In diesem Projekt gab es 1992 in verschiedenen europäischen Städten «Sendestationen», die gemeinsam ein interaktives Fernsehprogramm gestalteten, bei dem sich Personen einwählen und dann interagieren konnten. Die Eingabegeräte für diese Interaktion waren verschiedene: Rechner, Telefone, aber auch immer Minitel. Diese waren – um eine spätere Betrachtung in diesem Text vorwegzugreifen – dann schon so «banalisiert», dass sie einfach als Möglichkeit erwähnt, aber nicht weiter erklärt wurden.↩︎
Hinzu kommt, dass in diesem Zeitraum Post- und Telefonunternehmen aufgeteilt und neu aufgestellt wurden, um Privatisierungen vorzubereiten. Beispielsweise wurde Minitel von der PTT eingeführt – was auch relevant war, weil die ersten Terminale, wie weiter unten (4.2) dargestellt wird, über Postfilialen verteilt wurden –, aber die PTT dann 1998 getrennt in France Télécom (heute Orange) und La Poste. France Télécom – dann aufgestellt als «Telekommunikationsunternehmen» – übernahm den Minitel. Deshalb existierte Werbung für den Minitel sowohl unter den Namen der PTT als auch von France Télécom.↩︎
«Die Entwicklung von Anwendungen der Informatik ist ein Faktor, welcher die wirtschaftliche und soziale Organisation sowie unsere Lebensweise verändert: Unsere Gesellschaft muss in der Lage sein, sie sowohl zu fördern als auch zu beherrschen, um sie in den Dienst von Demokratie und menschlicher Entwicklung zu stellen.» (Übersetzung des Autors)↩︎
Zwei Kritiklinien, die in der französischen Tradition nicht unbedingt voneinander getrennt sind. (Vergleiche Jarrige 2016, Jarrige 2021)↩︎
Vieles davon liest sich heute weiterhin zeitgenössisch, nicht wie in den letzten Jahren der 1970er Jahre geschrieben.↩︎
Es wird sich im Bericht zum Beispiel auch explizit von Japan abgegrenzt, dessen Gesellschaft grundsätzlich wenig individualistisch wäre als Frankreich. (Nora & Minc 1978: 33–48) Offenbar ist es beim Nachdenken über neue Technologien in gewisser Weise Tradition, auch auf dieses Land einzugehen.↩︎
Zumindest wird auf einen «plan banques de données» in der BRD verwiesen (Nora & Minc 1978: 70), was mit hoher Wahrscheinlichkeit das «Programm der Bundesregierung zur Förderung der Information und Dokumentation (IdU-Programm)» meint. (Bundesregierung Deutschland 1975)↩︎
Minitel ist dabei eine Abkürzung für «Médium interactif par numérisation d’information téléphonique». Allerdings scheint es, als wäre dieser – an sich die Aufgabe des Gerätes klar beschreibende – vollständige Name selten genutzt worden.↩︎
Das Modell wurde zuerst für Zeitungen eingeführt, die zuvor dem Projekt eher skeptisch gegenüberstanden. Insbesondere die «Libération» wird immer wieder als früher Anbieter erwähnt.↩︎
Mailland & Driscoll (2017) betonen auch, dass dies den Effekt hatte, dass – im Gegensatz zu Entscheidungen heutiger Anbieter im Internet – vor Gerichten gegen etwaige Entscheidungen der Polizei zur Verweigerung einer solchen Zulassen geklagt werden konnte.↩︎
Einzuschränken ist, dass das Minitel-Netz in Frankreich, inklusive Korsika, etabliert wurde. Die französischen Überseegebiete wurden offenbar aussen vor gelassen.↩︎
«Der Minitel ist kein Spielzeug und die Leitungen von Wirtschaftsunternehmen werden sich dem immer mehr bewusst.» (Übersetzung des Autors)↩︎
Die Frage, welche Gruppen die jeweils neuesten Technologien wie nutzten, interessierte die BPI und Barbier-Bouvet noch in den folgenden Jahren, beispielsweise bei Kleincomputern. (Barbier-Bouvet 1987) Auch bei diesen stellte er fest, dass sich unterschiedliche Nutzungsweisen zeigen und das es einer Zeit bedarf, bis sich die Nutzung der jeweiligen Technologie veralltäglicht hätte.↩︎
Im Foyer, wo dann später bis zum Ende der 1990er Jahre weiterhin Btx-Geräte, später dann Rechner mit Internetzugang zur freien Nutzung standen.↩︎
Dies mag im Nachhinein widersinnig erscheinen, da sich das Internet durchgesetzt hat. In den frühen 1990er Jahren war dies aber keine seltene Vorgehensweise. Das letzte produzierte Minitel-Terminal, das 1998 vorgestellte «Alcatel Web Touch Easy», war zum Beispiel darauf ausgerichtet sowohl auf das Minitel-Netz als auch auf das Internet zuzugreifen. (Minitel Research Lab 2022)↩︎
Es sollte dabei darauf geachtet werden, auf zeitgenössische Dokumente zurückzugreifen. Die Auseinandersetzung mit dem Minitel hat gezeigt, dass mit einigem zeitlichen Abstand eine nostalgische Sicht auf bestimmte Technologien entstehen kann, die wohl die ehemalige Realität überdeckt. Heute werden viele Dokumente zum Minitel von Begeisterten zusammengetragen und zur Verfügung gestellt, die einen sehr positiven Blick auf diese Technologie haben. Es gibt auch zahllose Videos, in denen der Minitel einer heutigen Öffentlichkeit als erstaunliche Technologie vorgestellt wird, sogar in Frankreich. Diese können aber wenig darstellen, wie die Technologie zu ihrer Hochzeit tatsächlich wahrgenommen und genutzt wurde. Dies wird bei anderen Technologien nicht anders sein. Während solche Nostalgie hilfreich für Recherchen ist (und zum Beispiel beim Minitel vom Autor auch gut nachvollzogen werden kann), wäre sie hinderlich für eine systematische Untersuchung.↩︎
Dr. Karsten Schuldt, Wissenschaftlicher Projektleiter am Schweizerischen Institut für Infrmationswissenschaft, FH Graubünden. Redakteur LIBREAS. Library Ideas.