Dieser Text sollte eine kurze Rezension eines aktuellen Buches werden, welches thematisch zum Schwerpunkt dieser Ausgabe passt und – auch weil es mit fast 400 Seite sehr umfangreich ist – viel versprach: Histoire d’une (r)évolution: L’informatisation des bibliothèques genevoises 1963-2018
. Alain Jacquesson und Gabrielle von Roten (Jacquesson & von Roten 2019) versprechen mit dieser Geschichte der Informatisation
– der Ausstattung mit Computer und ähnlichen Maschinen sowie den damit einhergehenden Umstellungen – der Bibliotheken im Kanton Genf seit 1963 Themen anzugehen, die im Call for Paper für diese Ausgabe der Libreas angesprochen wurden: Den Einfluss von Technik und Automatisierung bei der Entwicklung von Bibliotheken. Das klingt relevant, aber leider erfüllt das Buch die Erwartungen, die es weckt, nicht.
Beide Autor*innen haben das Bibliothekswesen in Genf und der (französischsprachigen) Westschweiz lange begleitet. Einer der beiden, Alain Jacquesson, hat über die Jahre weitere Monographien verfasst, die sich mit der Informatisation von Bibliotheken befassen. Diese sind, im Gegensatz zum aktuellsten Buch, nicht als historische Arbeit, sondern zum Beispiel als Lehrbücher (Jacquesson 1995; Jacquesson & Rivier 2005) oder Debattenbeiträge (Jacquesson 2010) konzipiert. Damit liegt ein interessanter Fall vor: Für das aktuelle Buch wurden Entscheidungen darüber getroffen, was erzählt und was nicht erzählt wird. Geschichte wurde hier – wie immer, wenn über Geschichte geschrieben wird – mit einem spezifischen Blick interpretiert. In der Zusammenschau mit den anderen Büchern, in denen der Autor zeigt, welche Themen ihn zu den jeweiligen Zeitpunkten beschäftigt haben, lässt sich also fragen, was ausgewählt, was nicht ausgewählt und was neu interpretiert wurde. Anhand dieses Beispiels lässt sich – was hier im Weiteren getan werden soll – diskutieren, wie man über Automatisierung und Computerisierung von Bibliotheken sprechen kann und was sich aus dieser Geschichte lernen lässt.
Zur Einführung der Computer in den Genfer Bibliotheken
Beiden Autor*innen, welche das Werk zur Informatisation der Bibliotheken in Genf vorlegten, haben ihr Berufsleben in diesem Umfeld und der beschriebenen Zeit verbracht. Gabrielle von Roten koordinierte zum Beispiel lange Zeit die Bibliotheken der Universität Genf und einige Zeit auch den westschweizerischen Bibliotheksverbund RERO, war in der föderalen Kommission für wissenschaftliche Information sowie der Kommission der Schweizerischen Nationalbibliothek aktiv und trieb die Gründung des Konsortiums wissenschaftlicher Bibliotheken der Schweiz voran. Alain Jacquesson leitete zu unterschiedlichen Zeiten die Bibliotheksschule in Genf, die Öffentlichen Bibliotheken des Kantons und die Kantonsbibliothek. Er lehrte an der genannten Schule, auch als sie zur Fachhochschule ausgebaut wurde. Ausserdem beriet er andere Bibliotheken bei der Einführung von Informationstechnik. Die Anzahl der schweizerischen Bibliotheken ist überschaubar, die in der französischsprachigen Schweiz noch mehr. Insoweit kann man sagen, dass beide wohl alle anderen Aktiven und alle wichtigen Projekte entweder kannten oder – wie sich im Buch immer wieder zeigt – selbst an den Projekten beteiligt waren. (Wer sich heute in diesen Kreisen bewegt, wird im Buch deshalb auch immer wieder auf Personen stossen, mit denen persönliche Bekanntschaften bestehen.)
Die Publikation ist von diesem Hintergrund geprägt. Sie vermittelt den Eindruck einer möglichst umfassenden Chronologie. Jeder im Kanton vertretende Bibliothekstyp – Wissenschaftliche und Öffentliche Bibliotheken, Schulbibliotheken, Bibliotheken internationaler Organisationen und Spezialbibliotheken – werden in einzelnen Kapiteln behandelt, teilweise hinunter bis zu einzelnen Zweig- oder Gemeindebibliotheken. Ebenso werden Themen wie die Entwicklung der Datenbanken, Mikrofiche und CDs, Retrokonversion und Ausbildung in einzelnen Kapiteln behandelt. Nicht immer liegt der Fokus auf dem Kanton Genf, vielmehr werden auch Entwicklungen in anderen Kantonen (vor allem dem Kanton Vaud/Waadt) und Ländern geschildert. Teilweise werden diese Exkurse an die Entwicklungen in Genf zurückgebunden, beispielsweise wenn von der Universitätsbibliothek in Genf erst das an der Universitätsbibliothek Lausanne, später dann das an der Bibliothek der ETH Zürich entwickelte Bibliothekssystem übernommen wird. Aber oft ist nicht ganz ersichtlich, warum eine bestimmte Entwicklung erwähnt wird und eine andere nicht. Auffällig ist auch ein sehr westschweizerischer Blick: Projekte und Entwicklungen in der Romandie werden intensiv geschildert, einige Projekte der Nationalbibliothek in Bern und an der ETH Zürich werden angesprochen. Was ausserhalb dessen in den Bibliotheken der restlichen Sprachräume der Schweiz passierte, scheint hingegen die Autor*innen überhaupt nicht zu interessieren. Sehr sichtbar wird dies am Kapitel über die Ausbildung für Genfer Bibliothekar*innen. (Jacquesson & von Roten 2018: 253–278) Selbstverständlich stehen (angehenden) Bibliothekar*innen in der Schweiz mehrere Möglichkeiten der Aus- und Weiterbildung offen.1 In diesem Kapitel werden aber nur, dafür ausführlich, die Entwicklungen des Curriculums an der Bibliotheksschule, später Fachhochschule in Genf, Weiterbildungen an den Universitäten Genf, Lausanne, Fribourg und Bern sowie Kurse für Öffentliche Bibliotheken erwähnt. Weiter wird der Bogen nicht gespannt – oder anders gesagt: Über den “Röstigraben” wird nicht gegangen.2
Das ganze Buch scheint davon zu leben, an welchen Projekten die beiden Autor*innen im Laufe ihres Lebens beteiligt waren und zu welchen ihnen Unterlagen vorlagen. Bei vielen wird sehr tief in die jeweilige Entwicklung gegangen. Es werden Punkte angeführt, die aus internen Protokollen zitiert worden sein müssen.3 Teilweise werden bis auf die letzte Zahl genaue Angaben zu Ergebnissen von Projekten geliefert, beispielsweise wie viele Medien digitalisiert wurden oder wie hoch der Etat war (allerdings ohne einzuordnen, was die Geldsummen im jeweiligen Kontext bedeuten). Andere Projekte hingegen werden nur kurz, teilweise mit Schätzungen über ihre Ergebnisse, angesprochen. Vorgegangen wird dabei chronologisch. Es wird zum Beispiel kurz eine Bibliothek vorgestellt und dann aufgezählt, was in dieser zwischen 1963 und 2018 im Bezug auf die Informatisation passierte. Manchmal werden beteiligte Personen vorgestellt, oft geht es nur um den Ablauf von Projekten und die Entwicklung neuer Technologien. In einigen Fällen führt das dazu, dass der Text fast nur aus kurzen Absätzen besteht, die immer gleich anfangen: En 1999…
, En 2001…
, En 2002…
, En 2006
(Jacquesson & von Roten 2019: 197).
Es ist eine Chronologie, die einerseits den Eindruck einer möglichst umfassenden Sammlung, andererseits grosser Beliebigkeit vermittelt. Man erfährt vieles nicht, unter anderem, warum in Bibliotheken bestimmte Entscheidungen getroffen wurden oder wie sich die Auswahl eines technischen Systems auf die jeweiligen Bibliotheken auswirkte.
Exkurs: Technik determiniert, Sozial determiniert, ANT
Geschichte, die mit Technologie zu tun hat, kann immer auf verschiedene Weise untersucht und dargestellt werden. Eine radikale Möglichkeit ist, Technik und ihre Entwicklung als quasi-natürlichen Prozess zu verstehen und andere Entwicklungen an diesen orientiert zu denken. Eine solche Geschichtsschreibung stellt die Entwicklung von Technik, ihre Durchsetzung und Anwendung, oft als logische Abfolge dar, die praktisch folgerichtig zu dem Zustand führt, welcher am Ende der jeweiligen Geschichte steht. Es gibt in solchen Erzählungen kaum Abweichungen oder Alternativen. Wenn die Durchsetzung länger dauert als erwartet oder sich eine Technologie doch nicht durchsetzt, wird dies zumeist auf andere Umstände als die Technik selber zurückgeführt, zum Beispiel auf Weigerungen von Personen, sich mit einer Technik auseinanderzusetzen. Die Entwicklung von Gesellschaften oder Institutionen wird dann meist als Ergebnis der Technikentwicklung dargestellt: Weil Computer vernetzt werden können, werden sie vernetzt und dann von Menschen als Netzwerk genutzt.
Die diesem Dispositiv radikal entgegenstehende Möglichkeit ist, gesellschaftliche Entwicklungen in den Mittelpunkt zu stellen. Bei diesem Ansatz wird gefragt, warum Technik in welche Richtung entwickelt wurde oder auch, warum und von wem bestimmte Dinge zu Problemen erklärt wurden, welche mittels Technologien gelöst werden müssen. Technologien werden somit als Werkzeuge in gesellschaftlichen Entwicklungen und Auseinandersetzungen verstanden, die nicht neutral sind, sondern denen Ziele, Denkweisen und Geschichte eingeschrieben sind. Zum Beispiel könnte gefragt werden, warum Computer überhaupt so entwickelt wurden, dass sie in Netzwerken zusammengeschlossen werden können. Es würde auch gefragt werden, welche Veränderungen durch diese technischen Entwicklungen dann in der Gesellschaft oder in spezifischen Einrichtungen stattfanden.
Zwischen diesen beiden Polen lassen sich zahlreiche Zwischenstufen verorten, um die geschichtliche Entwicklung von Technik zu verstehen. Eine der oft angeführten Möglichkeiten ist die Actor-Network-Theory (ANT),4 welche – sehr verkürzt gesagt – die Sichtweise vertritt, dass die Welt und die Gesellschaft als Netzwerk gestaltet ist, in dem auch Objekten eine Agency innewohnt. Nicht in dem Sinne, dass Objekte denken würden, aber so, dass sie durch ihr Vorhandensein Handlungen von Personen motivieren, Fragen ermöglichen oder gerade verhindern. Ausgearbeitet wurde die ANT unter anderem am Beispiel von Forschungslaboren, wo die Ansammlung von Geräten und Wissen dazu führte, dass bestimmte Dinge untersuchbar und damit zum Teil des vorhandenen Wissens wurden. Bezogen auf Computer lässt sich mit der ANT fragen, warum sie überhaupt so konstruiert wurden, dass sie vernetzt werden konnten. Aber dann auch, was sie, als es sie dann gab, überhaupt ermöglichten, antrieben und als Alternativen vorstellbar machten, als sie vernetzt wurden.
Die Nutzung dieser Dispositive bei Jacquesson
Das Buch von Jacquesson und von Roten (2019) folgt implizit der ersten Vorstellung, der Kontinuität der technischen Entwicklung, muss diese aber immer wieder zurücknehmen, da die Entwicklungen in der Realität doch immer wieder stocken. Auf der einen Seite beschreiben die Autor*innen, wie immer wieder neue Technologie entwickelt wurden – beispielsweise immer leistungsfähigere Rechner, von Grossrechenanlagen hin zu Laptops und vernetzten Systemen, aber auch von Software für einzelne bibliothekarische Aufgaben über schlüsselfertige
Bibliothekssysteme hin zu Cloud-basierten Bibliothekssystemen. Auf der anderen Seite müssen sie immer wieder berichten, wie die Umsetzung von Projekten gestoppt, verlangsamt oder mit anderen Ergebnissen als erwartet beendet wurden. Aber es wird nie die Frage gestellt, warum bestimmte Systeme überhaupt weiterentwickelt wurden, beispielsweise welche Probleme oder Möglichkeiten neu aufgetaucht sind, die mit neuen Systemen angegangen werden mussten. Auch die Frage, warum die Umsetzung in der Realität oft nicht wie anfänglich gedacht stattfand, wird nicht gestellt. In einigen Fällen finden sich Wertungen, nach denen dies auf Unzulänglichkeiten einzelner Bibliotheken zurückgeführt wird.5 Aber meistens wird einfach das Ergebnis erwähnt und dann zum nächsten Projekt weitergegangen.
Erstaunlich ist diese Perspektive, weil zumindest Jacquesson im Laufen seines Berufslebens auch anders argumentiert hat. In seinem Buch L’informatisation des bibliothèques
(Jacquesson 1995) schildert er, neben einer Geschichte der Computer in Bibliotheken bis zum damaligen Zeitpunkt, auch, aus welchen Gründen Bibliotheken Technik auswählen oder sich gegen sie entscheiden sollen. Er führt explizit durch eine Systemanalyse
zur Einführung von Hard- und Software hindurch (Jacquesson 1995: 29–62) und diskutiert neben möglichen Vorteilen auch immer wieder potentielle Nachteile und Veränderungen von Technologie. Zwar trifft er auch Aussagen über wahrscheinliche Entwicklungen (beispielsweise, dass es tendenziell immer weniger Bibliotheksverbünde gegeben wird, in diesen Bibliotheken aber ihre Autonomie grösstenteils erhalten werden können, Jacquession 1995: 149–210), das aber mit Vorsicht.
In dem mit Alexis Rivier gemeinsam publizierten Bibliothèques et documents numériques
(Jacquesson & Rivier 2005) wird zuerst ausführlich in Fragen der Digitalisierung eingeführt. Zum Beispiel wird geschildert, wie Texte und Bilder auf technischer Ebene elektronisch dargestellt werden. (Jacquesson & Rivier 2005: 71–94) Ebenso werden Technologien wie Buchscanner nicht nur mit ihren Funktionen, sondern auch den dafür notwendigen technischen Grundlagen vorgestellt. (Jacquesson & Rivier 2005: 127–167) Am Ende dieses Buches wird festgehalten, dass die Entwicklung von Technik in Bibliotheken offen ist. (Jacquesson & Rivier 2005: 509–544) In diesen beiden Werken werden zwar Technologien und ihre Entwicklung geschildert, aber den Bibliotheken auch eine grosse Agency zugestanden. Sie werden ermahnt, sich aktiv mit Möglichkeiten und Problemen auseinanderzusetzen. Es wird zwar nicht die Frage gestellt, warum sich bestimmte Technologien in bestimmte Richtungen entwickeln, aber es wird auch nicht davon ausgegangen, dass sie umstandslos eine Entwicklung erzwingen würden, die dann in Bibliotheken umgesetzt werden müssten.
In seinem Buch Google Livres et le futur des bibliothèques numériques
(Jacquesson 2010) geht Jacquesson davon aus, dass Google Books einen Einfluss auf die Entwicklung von Bibliotheken und der Nutzung von Medien haben wird. Es ist ein Diskussionsbeitrag zu einem damals stark diskutierten Thema. In ihm wird betont, dass Google mit diesem Projekt Digitale Bibliotheken nicht erfunden hat, aber eine gewisse Form von Industrialisierung
eingeführt hätte. (Jacquesson 2010: 193–214) In Zukunft wäre es nicht mehr möglich, trotz aller Kritik an dem Projekt selber, über digitale Bibliotheken zu reden, ohne Google Books zu erwähnen. (Jacquesson 2010: 165) Neun Jahre später, in der Geschichte der Informatisation der Bibliotheken in Genf, wird es nicht angesprochen. Auch in der am Ende eingefügten Tabelle (Jacquesson & von Roten 2019: 379–389) mit den wichtigsten Entwicklungen im Bezug auf das Thema in Genf, der Schweiz und weltweit, taucht es nicht auf.6
Vorhersagen treffen also auch nicht ein, Projekte scheitern, Technologien verschwinden wieder. Alain Jaquesson hat dies nicht nur beim Thema Google Books selbst erlebt, er schildert auch in seinen anderen Büchern, wie Technologien wieder abgelöst werden (beispielsweise Mainframe-Computer, Jacquesson 1995: 245–265) oder unerwartete Gleichzeitigkeiten auftreten (zum Beispiel, dass sich Schreibmaschinen in Bibliotheken durchsetzten, als die ersten Computer aufkamen, Jacquesson & Rivier 2005: 47–69). Aus seinen eigenen Publikationen geht hervor, dass es keine einfach fortschreitende Geschichte gibt. Und dennoch versucht er in seinem aktuellen Buch, eine solche zu schreiben.
Mögliche Fragen
Dabei würde die Geschichte, über die von Jacquesson und von Roten (2019) geschrieben wird, interessante Frage ermöglichen:
Die Autor*innen schreiben immer so, als wäre die Entwicklung, zu der es dann kam, quasi automatisch vorgegeben gewesen. Insbesondere bei den Wissenschaftlichen Bibliotheken scheint es so, als würde die Entwicklung hin zum gesamtschweizerischen Netz SLSP, welches Ende 2020 tatsächlich umgesetzt wurde, der logische Endpunkt einer Entwicklung zu immer mehr Zusammenarbeit von Bibliotheken sein. Aber gleichzeitig scheint sich die Realität regelmässig dagegen gewehrt zu haben: Immer wieder kam es zum Abbruch von Projekten, zum Zusammenbruch von Kooperationen, zu Problemen bei der Umsetzung von technischen Veränderungen. Diese Friktionen zu untersuchen, würde vieles dazu klären können, wie in Bibliotheken Entscheidungen getroffen werden. Die Bibliotheken in Genf würden sich als Untersuchungsgegenstand dafür sogar gut eignen: Es sind sehr viele auf sehr kleinem Raum, mit starker Vernetzung. Es stehen für sie eigentlich auch immer einige Geldmittel bereit, so dass Entscheidungen nicht einfach aufgrund von finanziellen Zwängen getroffen werden, sondern es immer andere Gründe geben muss.7 Zudem sind diese Bibliotheken nicht unbedingt immer die, welche in der Schweiz die Vorreiterrolle übernehmen, sondern solche, die reagieren, also nicht einfach Technologien einführen oder Arbeitsgänge verändern, weil sie damit die ersten wären.
Was die Chronologie deutlich macht, ist, dass sich eigentlich immer in Bibliotheken damit auseinandergesetzt wird, wie und welche Technologie eingesetzt werden könnte. Was treibt sie dazu? Was erhoffen sie sich davon? Warum scheitern viele dieser Überlegungen dennoch? Das wird leider nirgends angesprochen.
Das Buch schildert vor allem die Einführung von Technologien in Bibliotheken. Teilweise werden, wie gesagt, auch ganz konkrete Projektergebnisse aufgeführt. Aber es wird nicht diskutiert, was diese Technologien dann in den Bibliotheken verändert haben: Haben sie zu mehr oder weniger Arbeit geführt? Haben sie die Arbeit erleichtert? Verändert? Was haben sie automatisiert? Haben die Bibliothekar*innen die jeweilige Technologie in ihren Arbeitsalltag integriert und wenn ja, wie? Was haben sie gelernt? Was hat sich verändert und was ist gleich geblieben? Die chronologische Aufzählung vermittelt den Eindruck, als würde einfach die eine Technik auf die nächste folgen und als würde der eine Standard natürlicherweise vom nächsten Standard abgelöst werden. Aber das ist ja nicht, was in der Realität passiert.
Ein Thema, dass sich durch das ganze Buch zieht, ist die immer stärkere Zusammenarbeit von Bibliotheken, die in gewisser Weise als Ergebnis von Projekten zur Einführung von Technologie geschildert wird. Beispielsweise waren die Bibliotheken der Universität Genf erst selbstständig, so sehr, dass noch nicht einmal bekannt war, wie viele es gab. Dann wurden Computer eingeführt und die Bibliotheken der Universität – unter anderem von den beiden Autor*innen – koordiniert. Später dann wurden sie an das Bibliothekssystem der Universität Lausanne angeschlossen. Endpunkt dieser Entwicklung – die noch über einige weitere Schritte ging – sei der Zusammenschluss aller Wissenschaftlichen Bibliotheken in SLSP (der bei der Publikation des Buches noch bevorstand). Aber wie haben sich diese Kooperationen gestaltet? Wie wurden sie angegangen und warum? Wer hat sie vorangetrieben und was stand ihnen entgegen? Warum, zum Beispiel, waren die Bibliotheken an der Universität Genf in den 1970ern überhaupt so dezentral organisiert? Warum wurde nicht schon früher ein schweizweiter Verbund angestrebt? Hat die Technologie diese Zusammenarbeit vorangetrieben oder war sie Mittel zum Zweck? Was hat sich in den Bibliotheken konkret verändert? All das wird nicht untersucht, obwohl es viel über die Funktion der Bibliotheken und der Wirkung von Technologie zeigen würde.
Was dem Buch an sich fehlt, ist eine klare Fragestellung und eine sich daraus ergebende Systematik. Was sollte untersucht werden? Wozu und für wen ist es geschrieben worden? Was wollten die Autor*innen erzählen oder untersuchen? Abschliessen hier einige Hinweise dazu, wie dies bei zukünftigen Auseinandersetzungen mit der Geschichte von Technologie in Bibliotheken anders gemacht werden könnte.
An sich wäre es anhand des Exempels der Genfer Bibliotheken gut möglich, eine Geschichte von Erwartungen an Technologien, Automatisierung und Veränderung der Aufgaben von Bibliotheken zu schreiben. Man könnte lernen, wie diese Erwartungen entstehen, dann zu Projekten führen – die ja auch immer Ressourcen binden – und wie damit umgegangen wird, wenn diese Erwartungen nicht eintreten. Bezogen auf die Arbeiten von Jacquesson würden sich, neben Google Books, auch CD-Roms als Thema anbieten. Er beschreibt diese Technik sowohl in seinem Buch von 1995 (Jacquesson 1995) als auch 2005 (
La révolution CD-Rom
, Jacquesson & Rivier 2005: 56) ausführlich. Im Buch von 2018 gibt es eine ganz kurzes Kapitel zurAbandon des CD-Rom
(Jacquesson & von Roten 2018: 178). Aber warum haben sich zu einem Zeitpunkt Erwartungen an dieses Medium ergeben? Welche Probleme sollten mit ihm gelöst werden? Ist die Entwicklung ein Beispiel für die Geschichte anderer neuer Medien? Bei einer solchen Geschichte könnte auch berücksichtigt werden, dass eine bestimmte Anzahl von Vorhersagen tatsächlich eintreffen. Hier ist zum Beispiel zu nennen, dass Jacquesson am Ende seines Buches von 1995 postuliert, dass eine zukünftige Frage für Bibliotheken sein wird, ob sie Medien besitzen oder Zugang zu ihnen schaffen werden. (Jacquesson 1995: 340) Das ist eingetroffen. Wie ist das zu erklären, dass diese Vorhersage richtig war, andere aber nicht? Kann man aus diesen Beispielen vielleicht Modelle bilden, die bessere Voraussagen ermöglichen?Das Buch von Jacquesson und von Roten (2018) ist an sich ein gutes Beispiel dafür, warum das Dispositiv der Technik-Determination nicht haltbar ist: Die Entwicklung von Technik in Bibliotheken ist nicht als lineare Geschichte zu schreiben. Dafür wird sie einfach zu oft unterbrochen, nimmt Abzweigungen und Entwicklungen werden auch wieder vergessen. Aber welches Dispositiv würde sich sonst eignen? Einfach von sozialer Determiniertheit auszugehen, ist wohl auch nicht möglich. Bibliotheken reagieren ja oft tatsächlich auf technische Entwicklungen, die sie nicht selber mitbestimmen. (Die Entwicklung der CD-Roms, die eben angesprochen wurde, ist auch dafür ein gutes Beispiel.) Auffällig an der Geschichte, wie sie Jacquesson und von Roten (2018) erzählen, ist, dass zwar immer wieder die Namen von beteiligten Personen genannt, aber nicht auf ihre Rolle für bestimmte Entscheidungen eingegangen wird. So wird eine Ebene hinter der Technik angedeutet, die offenbar Relevanz hat. Wie lässt sich diese erfassen? Was aus dieser lernen? Wie das Zusammenspiel von Technikentwicklung, Reaktion der Bibliotheken und des Personals sowie Entwicklung von Technik in und für Bibliotheken untersuchen? Zu lernen wäre hierbei zum Beispiel, wie gross der Einfluss der Bibliotheken selbst darauf ist, wie sich Technologie in der Bibliothek entwickelt. Gleichzeitig ist es kein Ausweg, einfach ANT oder ähnliche Dispositive zu wählen. Auch diese sind voraussetzungsvoll und zwingen zu Entscheidungen. Wie viel Einfluss konkreten Technologien zugestanden wird, ist zum Beispiel immer wieder neu zu klären.
Geschichte an sich wird nicht ohne Grund erzählt. Wie ausgeführt, lässt das Buch von Jacquesson und von Roten (2018) offen, was dieser Grund ist. Implizit scheint es aber, als wollten sie zeigen, dass die Technikentwicklung in Bibliotheken diese dazu treibt, immer enger zusammenzuarbeiten. Sinnvoll wäre aber, die eigentlichen Fragen und den Grund, warum eine Geschichte interessant genug ist, um sich mit ihr zu befassen, vorab und transparent zu klären. Im Fall der Genfer Bibliotheken wären zum Beispiel Fragen von Vernetzung und Autonomie, von gesellschaftlichen und politischen Einflüssen oder der Veränderung von Bibliotheksarbeit durch Technik naheliegend. Grundsätzlich ist Geschichtsschreibung, auch wenn sie so ein spezifisches Thema wie die Informatisation von Bibliotheken eines Kantons hat, immer dann sinnvoll, wenn aus ihr etwas für die Zukunft zu lernen ist, beispielsweise für die weitere Entwicklung. Dies sollte bei ähnlichen bibliotheksgeschichtlichen Vorhaben berücksichtigt werden.
Literatur
Jacquesson, Alain (2010). Google Livres et le futur des bibliothèques numériques. (Collections Bibliothèques) Paris: Édition du Cercle de la Librairie, 2010
Jacquesson, Alain (1995). L’informatisation des bibliothèques: Historique, stratégie et perspectives. (Collections Bibliothèques) – Nouvelle édition – Paris: Édition du Cercle de la Librairie, 1995
Jacquesson, Alain ; Rivier Alexis (2005). Bibliothèques et documents numériques: Concepts, composantes, techniques et enjeux. (Collections Bibliothèques) – Nouvelle édition – Paris: Édition du Cercle de la Librairie, 2015
Jacquesson, Alain ; von Roten, Gabrielle (2019). Histoire d’une (r)évolution: L’informatisation des bibliothèques genevoises 1963-2018. Genève: L’Esprit de la Lettre Éditions, 2019
Der Autor dieses Textes ist lehrend an der Fachhochschule in Chur tätig und kann deshalb aus Erfahrung sagen, dass immer auch Studierende aus der Romandie über die Sprachgrenze hinausgehen und zum Beispiel in Chur studieren.↩︎
Auch keine Aus- und Weiterbildungsgänge in Frankreich, obwohl diese von vielen Bibliothekar*innen der Romandie gewählt werden und so deren Ausbildungsinhalte Einfluss darauf haben, wie in den Bibliotheken in Genf gearbeitet wird.↩︎
Bei den Quellennachweisen wird nicht nur in diesem Buch, sondern auch in den anderen hier angeführten sehr reduziert vorgegangen. Es finden sich praktisch keine direkten Nachweise, dafür werden am Ende jedes Kapitels die verwendeten Quellen – geordnet nach Erscheinungsjahr – aufgeführt. Deshalb ist es oft nicht nachvollziehbar, woher einzelne Angaben oder Zitate im Text stammen.↩︎
Unter anderem von Bruno Latour ausgearbeitet, siehe On Actor-network Theory. A few Clarifications in: Soziale Welt 47, 1996, Heft 4, S. 369–382. oder Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2007↩︎
Zum Beispiel wird einmal der Schweizerischen Nationalbibliothek vorgeworfen, eine Entscheidung unter anderem aus Gründen der Prokrastination nicht getroffen zu haben. (Jacquesson & von Roten 2018: 112)↩︎
Bibliotheken in Genf gehörten nicht zu den Partnern des Projektes, aber die Universitäts- und Kantonsbibliothek in Lausanne, zu der von einigen Bibliotheken in Genf enge Kontakte bestehen, schon.↩︎
Zu Beginn des Kapitels zu Bibliotheken internationaler Organisationen (die es in Genf fraglos gibt) wird auch postuliert, dass diese durch ihre Kontakte, beispielsweise durch Personal aus anderen bibliothekarischen Ausbildungstraditionen, das kantonale Bibliothekswesen bereichern würden. (Jacquesson, von Roten 2019: 27) Diese These wird dann nicht mehr weiterverfolgt, dabei wäre sie folgenreich.↩︎
Karsten Schuldt ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Schweizerischen Institut für Informationswissenschaft, FH Graubünden und Redakteur der LIBREAS. Library Ideas.