> > > LIBREAS. Library Ideas # 38

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doi:10.18452/23465 (edoc HU Berlin)

Naturschutzgebiet Bibliothek

Die Biodiversität in Bibliotheken ist oft erst auf den zweiten Blick erkennbar. In, zwischen und auf Büchern haben ganz besondere Arten ihre biologische Nische eingerichtet – teils vom Menschen gewollt, teils ungewollt. Der Beitrag gibt einen Einblick in die Vielfalt an Organismen in Bibliotheken und die Rolle von Informationsinfrastrukturen zum Schutz von Flora und Fauna der Welt.


Biodiversity in libraries is often only visible at second glance. Very special species have established their biological niche in, on and between books - partly wanted by humans, partly unwanted. This article provides an insight into the diversity of organisms in libraries and the role of information infrastructures in the protection of the earth’s flora and fauna.


Zitiervorschlag
Elisa Herrmann, "Naturschutzgebiet Bibliothek". LIBREAS. Library Ideas, 38 ().


Als Wüste werden die vegetationslosen oder vegetationsarmen Gebiete der Erde bezeichnet.1 Ich zähle die Pflanzen im Hauptraum der Bibliothek: Ein alter Hibiskus, eine Grünlilie und ein Kaktus auf der Fensterbank. Trocken ist es hier auch. Und ein bisschen staubig. Und doch: So wie die Wüste lebt, so lebt auch die Bibliothek. Oftmals im Verborgenen bietet sie den Lebensraum für Organismen, die auf, zwischen und teilweise nur in den Büchern leben.

Hinter den schweren Türen der Panzerschränke dokumentieren reich illustrierte und aufwändig kolorierte Rara-Bände die Tier- und Pflanzenwelt der Erde – vermutlich sind hier mehr Arten zu sehen als im artenreichsten Zoo Europas. Auf jeden Fall gibt es in Bibliotheken Tiere zu sehen, die in keinem Tierpark zu bestaunen sind: Völlig selbstverständlich stehen Einhörner neben Nashörnern im Gessner2, fabelhafte Tierwesen verzaubern in Romanen und die 1976 entdeckte Steinlaus (Petrophaga lorioti) lebt im Pschyrembel3 fort.

Wen wundert es da, dass Bibliotheken Tiere als Schutzsymbol oder Maskottchen ausgewählt haben? Neben dem Bücherwurm sind es vor allem Eulen, die als Symbol der griechischen Göttin der Weisheit, Athene, zahlreiche Bibliotheken wie die Library of Congress zieren. In den vergangenen Jahren haben eher Vierbeiner zwischen den Regalreihen ihr Zuhause gefunden. Neben Therapiehunden vor allem über 300 offizielle Bibliothekskatzen.4 Etwas exotischer fiel die Wahl der Haustiere in der Ernst Mayr Library des Museum of Comparative Zoology der Harvard Universität aus. Gromphadorhina portentosa, eher bekannt als Madagaskar-Fauchschabe, kann von Studierenden an den Leseplatz ausgeliehen werden (im Terrarium), sollte Therapiehund Cooper in der benachbarten Countway Library mal ausgebucht sein. 5

So sehr wir bestimmte Arten verehren, um das Wissen in Bibliothekssammlungen (symbolisch) zu schützen, so sehr bemühen wir uns, andere Organismen aus den Räumen fernzuhalten. Schädlinge wie Nagetiere oder Wanzen ernähren sich gerne von pflanzlichen Materialien (Papier) und stellen eine Bedrohung für die Bestandserhaltung dar. Bislang ist noch keine Art bekannt, die ausschließlich in Bibliotheken lebt (im Gegensatz zu einer Spinne, deren einziger natürlicher Lebensraum das Finnische Naturkundemuseum ist6), und doch gibt es Arten, die in Archiven und Bibliotheken einen paradiesischen Lebensraum gefunden haben, zum Beispiel der Papiersilberfisch (Ctenolepisma longicaudata). Dieses synantrophe Tier ernährt sich fast ausschließlich von Papier und Karton indem es Zellulosen mit körpereigener Cellulase in Zucker zerlegt, der dann verdaut werden kann. Papier-Silberfische sind in ihrer Umgebung nicht sehr anspruchsvoll (Temperaturen zwischen 20 und 24 Grad Celsius, trockene Umgebung, meidet Licht) und können bis zu 300 Tage ohne Nahrung überleben – ein Albtraum für das Integrated Pest Management. Und wenn die Umgebung von trocken zu feucht wechselt und damit für den Papiersilberfisch unwirtlich wird, erobern (Schimmel-)Pilze das Biotop Buch.

Weder Ctenolepisma longicaudata noch Schimmelpilze werden von der International Union for Conservation of Nature (IUCN) auf der Roten Liste der gefährdeten Arten7 geführt. Einige der Bücher, die sie bedrohen, enthalten jedoch Hinweise auf ausgestorbene, bedrohte oder vom Aussterben bedrohte Tiere, Pflanzen und andere Organismen. Als der berühmte Illustrator John Gould 1838 seine Expedition nach Australien unternahm, dokumentierte er die eindrucksvolle Tierwelt des roten Kontinents. Auf über 180 Tafeln stellten sie Säugetiere, die ihnen auf der Expedition begegneten, in möglichst natürlicher Umgebung dar und publizierten diese mit Begleittexten im Werk The Mammals of Australia.8 Aus heutiger Sicht dokumentiert es die schwindende Artenvielfalt Australiens. Die letzten Aufzeichnungen über das Wallaby wurden 1930 in Westaustralien verifiziert und 1956 wurde das Mondnagelkänguruh für ausgestorben erklärt. Die einzige verbreitete Darstellung dieser Art ist die Goulds Abbildung in The Mammals of Australia.9

Letztlich kann man von Glück reden, dass die Art zumindest dokumentiert wurde. ExpertInnen gehen heute davon aus, dass lediglich 14% der Arten auf dem Land und nur 9% der Arten im Wasser bekannt sind.10 Die Biodiversitätsforschung befindet sich also in einem Wettlauf gegen die Zeit und braucht starke Partner: Informationseinrichtungen. Bibliotheken und Archive bewahren das Wissen um die bisher bekannte Flora und Fauna der Erde und liefern so wichtige Grundlagen für Artbeschreibungen, die Dokumentation des Klimawandels und Forschungsmethoden allgemein.

Insbesondere in naturwissenschaftlichen Bibliotheken und Archiven eröffnet sich den Lesenden eine teils vergessene Tier- und Pflanzenwelt. Um den Zugang zu diesen Quellen für die Biodiversitätsforschung zu erleichtern, gründeten 2006 zehn Bibliotheken, Archive und Informationseinrichtungen aus Naturkundemuseen, Botanischen Gärten und ähnlichen Einrichtungen das Konsortium der Biodiversity Heritage Library (BHL).11 Seither wurden über die BHL circa 58 Mio. Seiten, aus 160.000 Titeln beziehungsweise 261.000 Bänden digitalisiert und open access zur Verfügung gestellt. Die mittlerweile 20 Konsortiumsmitglieder12, darunter das Museum für Naturkunde Berlin als einzige Institution aus dem deutschsprachigen Raum, engagieren sich zudem in Verlagsverhandlungen, um urheberrechtlich geschützte Literatur bereits vor dem Ablauf der Schutzfrist open access anzubieten.

Neben der reinen Literaturbereitstellung werden die darin enthaltenen Informationen aufbereitet und mit Daten aus anderen Datenportalen, insbesondere aus dem Bereich Biodiversität, verlinkt. So sind die OCR-Volltexte in der BHL alle auf taxonomische Namen automatisch analysiert und mit den Einträgen in der Encyclopedia of Life verknüpft. Dies ermöglicht es zum einen die Artbeschreibung in ihrem historischen Kontext darstellen zu können und zum anderen bietet es Forschenden einen weiteren Zugang zu weiterführenden Informationen zu einer Art.

Wie wichtig die freie Zugänglichkeit zu Biodiversitätsliteratur ist, hat die SARS-CoV-2-Pandemie in jüngster Zeit gezeigt. Wie in vielen anderen Bereichen unseres Lebens waren die gewohnten Wege nicht mehr gangbar – Archive und Bibliotheken eine Weile geschlossen. Die Versorgung von Forschenden, Studierenden, PädagogInnen und SchülerInnen mit wissenschaftlicher Literatur war nur über elektronische Ressourcen möglich und Open-Access-Bibliotheken wie die BHL haben schwere Einschnitte in der Literaturversorgung abgemildert. Zusätzlich zu ihren verschiedenen Tools und Services für die wissenschaftliche Arbeit, stellte das BHL-Konsortium Material zusammen, um den Fernunterricht durch kuratierte Sammlungen, Bildressourcen, aber auch Malbücher zu unterstützen. Die MitarbeiterInnen der BHL haben zudem stark an der Verbesserung des Zugangs zu den Sammlungen gearbeitet, indem sie die Metadaten für digitalisierte Bände und die darin enthaltenen Bildnachweise verbessern.

Neben der Bewahrung des Wissens über die biologische Vielfalt engagiert sich die BHL auch aktiv für die Sensibilisierung der Öffentlichkeit in Naturschutzfragen. Gegenwärtig untersucht die Earth Optimism Campaign13 das Leben und die Arbeit von Personen, die entscheidend dazu beigetragen haben, den Naturschutz in Wissenschaft und Gesellschaft zu etablieren. Ursprünglich für April 2020 geplant und wegen der SARS-CoV-2-Pandemie verschoben, wurde die Kampagne im Juli aufgenommen und wird bis Ende dieses Jahres 2020 wegweisende Literatur zum Naturschutz beleuchten.

Wir haben gesehen, dass Bibliotheken für einige Tiere, Pflanzen und Organismen ein realer Lebensraum sind. Ausgestorbene Arten leben in den Büchern weiter und manche leben ausschließlich auf dem Papier. Sie engagieren sich (nicht nur) im Rahmen der Sustainable Development Goals (SDGs) der Vereinten Nationen14 für den Erhalt von Biodiversität und tragen so zu einem ökologischerem Bewusstsein bei. Bibliotheken sind daher gar nichts so weit weg von den Merkmalen von Naturschutzgebieten, die … aus wissenschaftlichen, naturwissenschaftlichen […] oder wegen ihrer Seltenheit, besonderen Eigenart oder hervorragenden Schönheit. …15 schützenswert sind.

Dieser Artikel entstand mit großer Unterstützung von Constance Rinaldo, Librarian of the Ernst Mayr Library and Museum of Comparative Zoology Archives und Tomoko Y. Steen, Ph.D., Department of Microbiology and Immunology, Georgetown University.


  1. Wikipedia: Wüste. https://de.wikipedia.org/wiki/W%C3%BCste (zuletzt aufgerufen am 20.08.2020)↩︎

  2. Gessner, Conrad: Historiae animalvm. Digital verfügbar in der Biodiversity Heritage Library. https://doi.org/10.5962/bhl.title.125499 (zuletzt aufgerufen am 20.08.2020)↩︎

  3. Pschyrembel Online: Steinlaus. https://www.pschyrembel.de/Steinlaus/K0LHT (zuletzt aufgerufen am 20.08.2020)↩︎

  4. Open Education Database: A Quick Guide to Library Cats. https://oedb.org/ilibrarian/quick-guide-library-cats/ (zuletzt aufgerufen am 20.08.2020)↩︎

  5. Ernst Mayr Library (2012): Library Pets. https://library.mcz.harvard.edu/blog/library-pets (zuletzt abgerufen am 20.08.2020)↩︎

  6. Nicholls, Henry (2016): The museum filled with venomous spiders that just won’t die. https://www.bbc.com/future/article/20160413-the-museum-filled-with-poisonous-spiders-that-just-wont-die (zuletzt aufgerufen am 20.08.2020)↩︎

  7. IUCN, International Union for Conservation of Nature: The IUCN Red List Of Threatened Species. https://www.iucnredlist.org/ (zuletzt abgerufen 20.08.2020)↩︎

  8. Gould, John: The Mammals of Australia. Digital verfügbar in der Biodiversity Heritage Library: https://doi.org/10.5962/bhl.title.112962 (zuletzt aufgerufen am 20.08.2020)↩︎

  9. Gould, John: Onychogalea Lunata. In: The Mammals of Australia. Bd.2, Tafel LV. Digital verfügbar in der Biodiversity Heritage Library. https://www.biodiversitylibrary.org/page/49740861 (zuletzt abgerufen am 20.08.2020)↩︎

  10. Mora et al. (2011): How Many Species Are There on Earth and in the Ocean. https://doi.org/10.1371/journal.pbio.1001127 (zuletzt aufgerufen am 20.08.2020)↩︎

  11. Biodiversity Heritage Library: History of BHL. https://about.biodiversitylibrary.org/about/history-of-bhl/ (zuletzt aufgerufen am 20.08.2020)↩︎

  12. Biodiversity Heritage Library: BHL Consortium. https://about.biodiversitylibrary.org/about/bhl-consortium/ (zuletzt aufgerufen am 20.08.2020)↩︎

  13. Biodiversity Heritage Library Blog: Earth Optimism 2020. https://blog.biodiversitylibrary.org/category/campaigns/earth-optimism-2020 (zuletzt aufgerufen am 20.08.2020)↩︎

  14. United Nations: The 17 Goals. https://sdgs.un.org/goals (zuletzt aufgerufen am 20.08.2020)↩︎

  15. Bundesnaturschutzgesetz (BNatSchG): §23 Naturschutzgebiete. http://www.gesetze-im-internet.de/bnatschg_2009/__23.html (zuletzt aufgerufen am 20.08.2020)↩︎


Elisa Herrmann, M.A. LIS, ist seit 2019 Wissenschaftliche Leiterin der Bibliothekssammlung und Informationsversorgung am Museum für Naturkunde – Leibniz-Institut für Evolutions- und Biodiversitätsforschung in Berlin. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt in der Entwicklung der Bibliothek als moderne Informationsinfrastruktur für die Forschung am Museum. Sie betreut im Rahmen der Sammlungserschließung des Museums die Retrodigitalisierung der Bibliotheksbestände und ist in diesem Zusammenhang auch an der strategischen Weiterentwicklung der Biodiversity Heritage Library beteiligt.