> > > LIBREAS. Library Ideas # 38

Annotate via hypothes.is

Download PDF
doi:10.18452/23475 (edoc HU Berlin)

Was bisher geschah und was damit erreicht wurde: Ein Zwischenbericht zur Kampagne Biblio2030 des Schweizer Bibliotheksverbands Bibliosuisse


Zitiervorschlag
Heike Ehrlicher, Franziska Baetcke, "Was bisher geschah und was damit erreicht wurde: Ein Zwischenbericht zur Kampagne Biblio2030 des Schweizer Bibliotheksverbands Bibliosuisse". LIBREAS. Library Ideas, 38 ().


I

Angefangen hat alles an einem trüben Oktobermorgen im Jahr 2017. Wien, Museumsquartier, Geschäftsstelle des Büchereiverbands Österreich. Für den Advocacy-Workshop zum Thema «Rolle der Bibliotheken bei der Zielerfüllung der UNO Agenda 2030» haben sich 22 Personen aus Deutschland, Österreich, der Schweiz und Südtirol im Sitzungszimmer versammelt. Ganz unterschiedliche Bibliothekswelten treffen an diesem Vormittag aufeinander, und nicht für alle Beteiligten mag der Anlass eine Initiation gewesen sein. Für uns Vertreterinnen aus der Schweiz aber schon. Im Zentrum des Workshops steht eine von der IFLA entworfene Präsentation, in der die UNO Agenda 2030 und das Set der 17 Nachhaltigkeitsziele (Sustainable Development Goals, SDGs) vorgestellt sowie das Thema Nachhaltigkeit und Bibliotheken entwickelt wird. Wir sitzen da und sind hellwach: Aha, so könnte das gehen. Wenn die Nachhaltigkeit als Teil der DNA von Bibliotheken verstanden wird, dann können die Bibliotheken bei der nachhaltigen Entwicklung gar nicht abseits stehen. Dann sind sie immer schon mittendrin. Sie sind Akteurinnen, selbst wenn sie sich dessen nicht bewusst sind. Sie sind Teil der Bewegung, Teil der Lösung, immer schon auf dem Weg zum Ziel.

Wien ist ein Aha-Erlebnis. Und nach dem Workshop sind wir zuversichtlich, einen brauchbaren Ansatz für die Arbeit mit den Bibliotheken in der Schweiz erhalten zu haben und bei einem vielversprechenden Auftakt für eine internationale Zusammenarbeit dabei gewesen zu sein.

II

2017 hat die Arbeitsgruppe, die sich da noch IAP Suisse nennt, bereits einmal getagt. In ihrer Zusammensetzung zeigt sich von Anfang an, was auch die Kommission Biblio2030, die sich relativ rasch daraus entwickelt, auszeichnet: Am Thema Nachhaltigkeit sind ganz unterschiedliche Menschen interessiert. Vertreterinnen und Vertreter aller Bibliothekstypen sitzen mit am Tisch, der Rahmen ist weit gesteckt, auch die Stiftung SDSN Switzerland ist vertreten, sowie die Stiftung biblio-suisse, die sich im Raum Luzern um Umweltkommunikation bemüht. Von Anfang an zeichnet die Kommissionsarbeit aus, dass sie multiperspektivisch ist, offen, neugierig, kritisch.

Zu Beginn dieser Kommissionsarbeit steht der interne Findungsprozess. Es geht um die Klärung, was wir hier eigentlich tun: Wird erwartet, dass die Bibliotheken, die im Kontext der Agenda 2030 von der UNO zu Partnerorganisationen geadelt wurden, die Kommunikationsarbeit für die UNO in Sachen Nachhaltigkeitsziele übernehmen? Und, wenn dieses Verständnis existierte, liesse sich das mit der Unabhängigkeit von Bibliotheken überhaupt vereinbaren? Müssen Bibliotheken nicht gerade auch gegenüber einer mächtigen, weltumspannenden Organisation wie der UNO unabhängig, frei und kritisch bleiben können? Oder andersherum gedacht: Steckt in dem vorliegenden Setting nicht vielmehr ein grosses Versprechen für die Bibliotheken? Dass sich nämlich ihr Engagement im Rahmen der Agenda 2030 für sie auch marketingmässig auszahlen könnte, weil sie über das brisante und emotionale Thema der nachhaltigen Entwicklung (endlich) auch in der Politik und der breiteren Öffentlichkeit als relevante gesellschaftliche Player wahrgenommen würden?

Die Kommissionsmitglieder Biblio2030 entscheiden sich für die Lesart, in der die Bibliotheken den Ball inhaltlich aufgreifen und sich vom Engagement auch Rückenwind für ihre Positionierung versprechen. Vor den sinnbildlichen Karren von UNO oder nationaler Politik lassen sie sich nicht spannen.

III

Die Bandbreite des Themas Nachhaltigkeit ist motivierend – aber auch tückisch. Man kann sich darin verlieren. Nachhaltigkeit ist ein bisschen alles und nichts. Und was genau könnte die Aufgabe der Bibliotheken sein? Die Kommission Biblio2030 setzt den Fokus ihrer Arbeit auf die Sensibilisierung. Die Kolleg*innen in den Bibliotheken sollen mit dem Thema Nachhaltigkeit in Berührung kommen – in ihrem professionellen Kontext. Denn spätestens seit 2018 kann sich keine*r dem Thema in den Medien und auf den Strassen mehr entziehen.

Das ist die zentrale Achse: Kommunikation nach innen mit Weiterbildungsangeboten im regulären Programm des Verbands, mit einem kleinen Sortiment an – aus Kommissionssicht – sinnvoller Merchandise, mit einer Microsite, einem Online-Werkzeugkasten, der Literatur, Tipps, Vorlagen, et cetera enthält und der in der Zwischenzeit zu einem anwendungsfreundlichen Online-Tool weiterentwickelt wurde: https://padlet.com/heikeehrlicher/Biblio2030

Daneben werden die Achsen Advocacy und Partnerschaften bewirtschaftet. Der Bund, insbesondere das zuständige Amt für Raumentwicklung, das vom Bundesrat mit der Umsetzung der Agendaziele beauftragt wurde, soll Kenntnis von den Bibliotheken nehmen, und verschiedene Stiftungen werden um Drittmittel angefragt, um die Aktionen von Biblio2030 – mittlerweile wird von einer Kampagne gesprochen – zu finanzieren.

Drittens sollen zivilgesellschaftliche Akteure, viele davon NGO aus dem Entwicklungsbereich, als Partner angesprochen werden. Biblio2030 schliesst sich konkret der Plattform Agenda 2030 an und trägt aktiv zu deren Ausgestaltung bei: https://www.plattformagenda2030.ch/

Im Fokus der Kommissionsarbeit steht die Sichtbarmachung. Die Sichtbarmachung der SDGs in den Bibliotheken, und die Sichtbarmachung der Bibliotheken, ohne die die SDGs nicht zu den Leuten finden. Diese Doppeldeutigkeit ist dem Thema Nachhaltigkeit und Bibliotheken inhärent. Ob das Versprechen sich einlösen lässt, ob die Bibliotheken wirklich davon profitieren werden, dass sie sich mit dem Thema Nachhaltigkeit zu positionieren versuchen, wird sich langfristig zeigen.

IV

2020 sind die meisten Weiterbildungstermine wegen Corona abgesagt worden. Das hat zur Folge, dass die grössten Auftritte der Kommission Biblio2030 nach wie vor das international besetzte Podium zum Thema am Bibliothekskongress in Montreux im August 2018 und die Keynote von Barbara Lison mit anschliessendem Workshop an der Bibliosuisse-Generalversammlung im Mai 2019 sind. Seither hätte natürlich viel geschehen sollen! Geplant war insbesondere ein für Bibliosuisse neues Veranstaltungsformat im Weiterbildungsprogramm: die «Roadshow».

Angedacht als Weiterbildung to go soll die Roadshow in drei Stunden handfeste Informationen zur Agenda und den SDGs vermitteln, und vor allem auch die Frage «Was hat das alles mit mir zu tun?» aufwerfen. Das Ziel der Roadshows ist, bei den Teilnehmenden einen unmittelbaren Bezug zur Fragestellung zu erzeugen. Dabei die Aufmerksamkeit auf die Bibliothek als Vermittlerin des Themas gegenüber der Öffentlichkeit ebenso zu richten wie auf die Frage nach der Verantwortung der Bibliothek, als Organisation selbst nachhaltig zu sein, das heisst nachhaltig zu konsumieren und zu wirtschaften oder auch nachhaltige Personalpolitik zu betreiben. Diese Perspektive ist insofern interessant, als Bibliotheken als öffentliche Institutionen ja auch vorbildhaft wirken können.

Die geplanten Roadshows werden nun erst im Herbst 2020 und Frühjahr 2021 stattfinden. Dafür hat die Corona-Pause Zeit für Reflexion und Lektüre gebracht. Fragen, auf die im Alltag keine schnellen Antworten gefunden wurden, konnten vertieft werden. Wieso sind zum Beispiel Wissenschaftliche Bibliotheken weniger aufgeschlossen gegenüber Nachhaltigkeitsprojekten? Weil diese Bibliotheken grösseren Verwaltungseinheiten angeschlossen sind und sich nach zentralen, in der Regel kantonalen Standards richten müssen. Veränderungen müssen langfristiger geplant werden, oft sind die Treiber dann nicht die Bibliotheken, sondern die Hochschulen selbst. Zudem wollen Hochschulen den konkreten Nutzen von Nachhaltigkeitsprojekten für Lehre und Forschung sehen, bevor sie darauf einsteigen.

Wer ein wenig über den Bibliothekstellerrand hinaus schaut, sieht zudem, wie andere Kulturinstitutionen mit dem Wunsch nach mehr Nachhaltigkeit umgehen: Museen, Schulen, kleine und mittlere Unternehmen (KMU). Vielerorts haben Workshops stattgefunden, Mitarbeitende wurden einbezogen, Ideen gesammelt, Best Practice eruiert – Bibliotheken sind in dieser Beziehung ja kein Sonderfall. Die Entwicklung zu einer grüneren Organisation ist ein Prozess, der sich aus vielen kleinen Schritten zusammensetzt. Zurzeit entstehen auch in der Schweiz erste Leitfäden für Organisationen, wie sie ihre nachhaltige Entwicklung gestalten können.

V

Biblio2030 ist eine Kampagne für die Mitglieder von Bibliosuisse und alle Bibliotheken im ganzen Land. Die Kommission Biblio2030 unterstützt die Mitglieder inhaltlich und mit konkreten Angeboten, Empfehlungen und Materialien dabei, ihr Engagement für die nachhaltige Entwicklung umzusetzen. Wo steht die Kommissionsarbeit nach knapp drei Jahren mit dem Thema? Was ist gelungen, was ist schwierig und warum?

Gespräche mit Kolleg*innen und Studierenden der Informationswissenschaft bestätigen uns darin, dass Biblio2030 gut unterwegs ist. Die Grundlagen für eine Kampagne sind gelegt: Das Thema ist in vielen Bibliotheken lanciert, nachhaltiges Leben ist vielen Verantwortlichen und Mitarbeitenden in Bibliotheken ein echtes Anliegen. Das eigene Verhalten, das Wirken der Organisation wird zunehmend auch nach grünen Gesichtspunkten und Kriterien der sozialen Gerechtigkeit untersucht und neue Wege werden beschritten. Zudem ist Nachhaltigkeit als Gegenstand von studentischen Arbeiten im Fach Informationswissenschaft keine Seltenheit mehr. Das alles ist ein schöner Erfolg. Aber, ganz ehrlich, ist der Funke wirklich übergesprungen? Verstehen sich die Bibliotheken in der Schweiz tatsächlich bereits als Akteurinnen und Plattformen für die Debatte über Nachhaltigkeit? Und finden sich in den Öffentlichen und Wissenschaftlichen Bibliotheken in der Schweiz auch Angebote, die über den Medienverleih zum Thema, Informationsangebote und Veranstaltungen hinausgehen? Da sind wir realistisch: Einzelne Beispiele sind vorhanden, und es gibt Bibliotheken, die ein ganzheitliches Verständnis von Nachhaltigkeit entwickelt haben und mutig Neues ausprobieren. Aber flächendeckend ist das gewiss noch nicht der Fall. Die SDG-Welle ist noch nicht über die Bibliotheken geschwappt, weiterhin bleibt viel zu tun.

Das hängt nicht zuletzt auch damit zusammen, dass nachhaltige Entwicklung als Prozess zu verstehen ist und nicht wie ein Befehl von oben erteilt werden kann. Nur, wer für sich selbst nachvollzogen hat, warum Nachhaltigkeit DAS Thema des Augenblicks ist, wird andere – Kolleg*innen, Vorgesetzte, Benutzer*innen – dafür begeistern können. Das braucht Zeit, Gespräche, Austausch, Selbstkritik, Reflexion, Lektüre, Inspiration, et cetera.

Bibliosuisse und insbesondere die Kommission Biblio2030 verstehen sich als Gesprächspartner für alle, die sich im Kontext Nachhaltigkeit und Bibliotheken engagieren wollen, die nach Lösungen für ein Problem suchen, das nur gemeinsam angegangen werden kann und die bereit sind, ihre eigenen Handlungsspielräume mutig zu eruieren und beherzt auszuschöpfen.


Heike Ehrlicher und Franziska Baetcke bilden gemeinsam mit Amélie Vallotton Preisig das Präsidium der Kommission Biblio2030 des Schweizer Bibliotheksverbands Bibliosuisse.

Heike Ehrlicher ist stellvertretende Geschäftsführerin von Bibliosuisse (http://www.bibliosuisse.ch/)

Franziska Baetcke ist Direktorin der Stiftung Bibliomedia Schweiz (http://www.bibliomedia.ch/de) und eines von 16 Vorstandsmitgliedern von Bibliosuisse.