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doi:10.18452/21539 (edoc HU Berlin)

Zur Beziehung von Forschung und Öffentlichen Bibliotheken


Zitiervorschlag
Karsten Schuldt, "Zur Beziehung von Forschung und Öffentlichen Bibliotheken". LIBREAS. Library Ideas, 37 ().


0. Vorbemerkung

Ich soll Forschung für Öffentliche Bibliotheken betreiben. Angestellt als Bibliothekswissenschaftler an einer Fachhochschule ist dies, neben der Lehre, die explizite Hauptaufgabe meines Arbeitsalltags. Kantonales Hochschulgesetz, aber auch das Rektorat und der Hochschulrat meiner Hochschule schreiben dabei explizit Angewandte Forschung vor. Praxisorientiert. Innovativ. All das. Ich arbeite auch schon eine ganze Reihe Jahre so, in kleinen oder grossen Projekten, mit Texten, durch die Betreuung von Praktika und studentischen Abschlussarbeiten, mit Weiterbildungsangeboten, Vorträgen und theoretischen Reflexionen. Manchmal auch mit kritischen Anmerkungen.

Das alles ist Teil meines Lebens. Aber es ist ein irritierender, demotivierender Teil, der mich oft ans Hinschmeissen denken lässt. Es ist nämlich der Teil meines Lebens, der mir oft am Sinnlosesten erscheint. Wieso, das ist Thema dieses Textes.

Auf den ersten Blick scheint es nämlich so, als würden Bibliotheken alle Forschung, die sie nutzen könnten – nicht nur meine, darum geht es mir nicht –, die in den letzten Jahren auch mehr und mehr als Open Access vorliegt, willfährig ignorieren und statt dessen den oft unfundierten, teilweise grotesk falschen Behauptungen meinungsstarker Einzelner folgen. Wozu dann aber überhaupt Forschen, wenn das bessere, fundiertere Argument oft ignoriert wird? Ich weiss nicht, wie die Kolleg*innen an anderen Fachhochschulen diese zum Teil persönlich frustrierende Situation meistern. Ich habe mir Hobbys zugelegt, flüchte zum Teil in Themen und Fragestellungen, die tatsächlich explizit fern der Bibliothekspraxis sind. Vor allem aber versuche ich, die Situation selber als Untersuchungsgegenstand zu nehmen und dabei zu abstrahieren. Weg vom Persönlichen, hin zum Strukturellen. Wie in diesem Text.

Weil, um hier schon eine Antwort vorwegzugreifen, die Situation (das Problem?) eine strukturelle ist. Eine, die angegangen werden kann, aber vor allem von Seiten der Bibliotheken. Dazu muss die Struktur wohl benannt werden. Die Forschung macht schon viel richtig. Sie muss vielleicht von der Praxisorientierung loskommen, aber das ist eine politische Frage, die nicht zwischen Forschung und Bibliothekswesen alleine geregelt werden kann.

1. Das Problem

Nicht oft wird sich heutzutage darüber Gedanken gemacht, wie Forschung für Öffentliche Bibliotheken sein soll, welche Themen, Probleme und Fragen sie bearbeiten und was sie, knapp gesagt, Bibliotheken vermitteln soll. Wenn sich aber Bibliotheken oder Bibliothekar*innen dazu äussern– und in meiner Position höre ich manchmal, wohl öfter als andere, davon –, geht es eigentlich immer in eine Richtung: Die Forschung, so die Forderung, solle den Bibliotheken Richtlinien, Vorschläge, im Mindesten Hinweise dazu liefern, wie sie Probleme, die die Bibliotheken sehen, lösen und wie sie, die Bibliotheken, in Zukunft werden sollen. Es geht immer wieder darum, dass die Forschung Lösungen liefern soll.

Die geforderten Lösungen sollen oft bestimmte Bedingungen erfüllen:

  1. Lösungen sollen umsetzbar sein. Möglichst genau und direkt. Pfannenfertig, wie man in der Schweiz sagt.

  2. Gleichzeitig nicht zu konkret. Bibliotheken wollen sich auch nicht vorschreiben lassen, was sie tun sollen, sondern selber entscheiden.

  3. Die Lösungen sollen positiv sein. Der Nachweis, dass bestimmte Vorstellungen, die Bibliotheken entwickeln, oder Hoffnungen, die sie an bestimmte Veränderungen binden, nicht zutreffen, ist nicht gewünscht.1

Selbstverständlich ist das widersprüchlich. Wenn man davon ausgeht, dass Forschung immer die systematische Gewinnung von neuem Wissen ist, kann der dritte Punkt oft gar nicht erfüllt werden. Der erste und zweite Punkt lässt sich eigentlich auch nicht gleichzeitig erfüllen.

Und dennoch, schaut man sich an, was an Fachhochschulen im DACH-Raum an Projekten für Bibliotheken durchgeführt wird – nicht nur, aber selbstverständlich auch durch mich – und vor allem, was für Forschungen in Abschlussarbeiten oder Seminaren unternommen werden, sieht man immer und immer wieder, dass versucht wird, diese Ansprüche irgendwie zu erfüllen. Immer und immer wieder wird die Praxisorientierung hochgehalten. Immer und immer wieder werden Lösungen für wahrgenommene Probleme und Herausforderungen erarbeitet.2 Das Studium in jeder Hochschule wird immer und immer wieder an den wahrgenommenen Interessen der Bibliotheken ausgerichtet, mit jeder Reform des Studiums neu. Viele Projekte beinhalten ein Arbeitspaket, in welchem die jeweiligen Ergebnisse zu Bibliotheken gebracht werden, um dort noch einmal besprochen zu werden, damit sie auch wirklich für die Praxis genutzt werden können. So viele Handreichungen, To-Do-Listen, Hand- und Praxisbücher werden publiziert – teilweise alleine, teilweise als Teil von Arbeiten, beispielsweise am Ende zahlloser Bachelor- und Masterthesen –, dass es teilweise so scheint, als gäbe es keine anderen Publikationsformen mehr. Und immer mehr davon erscheint, wie schon gesagt, als Open Access.

Die Erfahrung ist aber, dass diese Ergebnisse von der Praxis nicht genutzt werden, zumindest nicht so, wie es zu erwarten wäre. (Vielmehr tauchen solche Themen manchmal nach einigen Jahren ganz unvermittelt auf, oft in unerwarteten Anfragen.) Die Erfahrung ist eigentlich immer ähnlich:

  1. In den meisten Fällen wird die Forschung von Öffentlichen Bibliotheken schlichtweg ignoriert. So oft tauchen Fragen auf, die schon lange mit einer Handreichung, Bachelorarbeit und so weiter beantwortet worden sind, dass es schwer fällt, an das zufällige Übergehen dieser Publikationen zu glauben. Es scheint eher ein systematisches Nicht-Wahrnehmen zu sein.

  2. Wenn sie doch wahrgenommen wird, wird oft der Eindruck vermittelt, die Forschung sei zu komplex, zu lang, zu schwierig dargestellt. Die genauen Formulierungen sind verschieden und werden unterschiedlich höflich vorgetragen. Aber immer wieder wird mehr oder minder konstatiert, dass niemand die Zeit hätte, all das zu lesen, zu verstehen und so weiter. Das trifft ganz unterschiedliche Formen von Publikationen: Kurze Artikel, Handreichungen, Blogposts, Monographien. Das scheint selten mit dem Inhalt oder der Form der Präsentation zu tun zu haben.

  3. Hinzu kommt eine teilweise offensiv vorgetragene Haltung, der Forschung vorzuwerfen, nicht in der Praxis anwendbar zu sein. Sie sei zu weit von der Realität entfernt, wäre nicht direkt genug umzusetzen, würde über Dinge reden, die mit der tatsächlichen Bibliotheksarbeit wenig oder nichts zu tun hätten. Auch hier ist oft nicht ersichtlich, ob der tatsächliche Inhalt der jeweiligen Forschung einen Einfluss auf diese Haltung hat oder ob sie nicht einfach grundsätzlich ist.

Schaut man sich diese Situation aus einem gedachten Aussenpunkt an, scheint das Problem, wenn es überhaupt eines gibt, nicht unbedingt bei der Forschung oder dem Anspruch der Praxisorientierung zu liegen.3 Es scheint eher so, als wären Praxis und Forschung zwei getrennte Welten. Dabei ist klar: Forschung kann Wissen generieren, aber nicht umsetzen. Das müssen immer andere machen, im hier diskutierten Fall die Bibliotheken selber. Dazu muss dieses Wissen wahrgenommen werden. (Und das heisst meist zu lesen, weil Forschung trotz allen Ansätzen, andere Publikationsformen wie Software oder Daten wertzuschätzen, sich weiterhin hauptsächlich schriftlich ausdrückt.)

Dieser Text soll, ist, die oben genannte Betrachtungsweise des Verhältnisses von Forschung und Öffentlichen Bibliotheken einmal umzudrehen. Anstatt zu fordern, dass Forschung dieses oder jenes tun solle, wird hier gefragt, welche Voraussetzungen es auf der Seite Öffentlicher Bibliotheken geben müsste, um die Forschung, die es schon gibt, zu nutzen.4

Vignette eins

Praktikumsbesuch in einer Öffentlichen Bibliothek in der Schweiz. Aufgabe des Studierenden, den ich von Seiten meiner Fachhochschule aus betreue, ist es, den Umbau des Bestandes in einem Teil der Bibliothek vorzubereiten. Es gilt, einen Plan zu machen: Welche Medien sollen wohin? Welche sollen bleiben, wo sie sind? Welche vielleicht ganz deakquisiert werden? Der Plan wird von der Gruppe Kolleg*innen erarbeitet, die für die betreffende Etage zuständig ist. Der Umbau ist Teil eines Strategieprozesses für die ganze Bibliothek. Der Studierende soll den Blick von Aussen liefern. Die Entscheidungen aber werden im Team getroffen.

Auf meinen Hinweis im Gespräch vor dem Praktikum hin hat der Studierende Bibliotheken mit ähnlichen Projekten herausgesucht und diese gefragt, wie sie vorgegangen sind. Das gab eine gewisse Wissensbasis aus Erfahrungen und Überlegungen aus anderen Einrichtungen.

Ich stelle jetzt aus Interesse die Frage auf welcher Basis in der Bibliothek sonst Entscheidungen über den Bestandesaufbau getroffen werden. Dies bringt den Studenten und die ihn betreuende Bibliothekarin etwas ins Schlingern. Offenbar sind die Quellen sonst vor allem interne Diskussionen und Vorstellungen der beteiligten Kolleg*innen. Sonst wenig. Keine Empirie, keine Rezeption der existierenden Forschung, keine Theorie, keine Erfahrungen aus anderen Bibliotheken. Kein Wunder, dass die – sicherlich mit Engagement erarbeiteten – Ergebnisse sich am Ende sehr im erwartbaren Rahmen halten.

Ich stelle solche Fragen heute vorsichtiger. Meine Erfahrung ist, dass Bibliotheken in Situationen, in denen ich es sinnvoll fände, den vorhandenen Forschungs- und Erfahrungsstand zu recherchieren, oft nicht fragen, ob es solch eine Forschung und solche Erfahrungen überhaupt gibt.

2. Wie treffen Bibliotheken Entscheidungen?

Wie und wann könnten Bibliotheken Ergebnisse aus der Forschung sinnvoll nutzen? Wohl vor allem dann, wenn Entscheidungen getroffen werden: Darüber, welche Angebote abgeschafft, beibehalten oder neu eingerichtet werden. Dann, wenn Abläufe überprüft oder verändert werden. Und dann, wenn strategische Ausrichtungen festgeschrieben werden, beispielsweise in Strategieprozessen oder bei Neu- und Umbauten. In solchen nicht alltäglich aber doch regelmässig auftauchenden Situationen könnten Bibliotheken sinnvoll das Wissen nutzen, welches von der Forschung (und sei es in Abschlussarbeiten) produziert wurde, um bessere Entscheidungen zu treffen, um auf schon vorhandenem Wissen aufzubauen und um nicht nochmal die Fehler zu wiederholen, die andere schon gemacht haben.

Wie aber treffen Bibliotheken solche Entscheidungen? Das ist erstaunlich schwierig festzustellen. Es gibt praktisch keine direkten Einblicke in konkrete Entscheidungsprozesse. Sie sind praktisch nie Thema von Studien oder Fachpublikationen. Sicherlich gibt es eine ganze Reihe von Publikationen, die unter dem Schlagwort Bibliotheksmanagement diskutieren, wie solche Entscheidungsprozesse sein sollten. Aber auch diese basieren in der Regel nicht auf Analysen der tatsächlichen Entscheidungsprozesse, sondern machen vor allem Aussagen darüber, wie sie sein könnten.5 Festzustellen ist zudem, dass derzeit eine ganze Reihe von Entscheidungsmethoden, die eine breite Beteiligung von Bibliothekar*innen unterschiedlicher Ebenen einer Bibliothek ermöglichen, relativ grosse Begeisterung hervorzurufen scheinen, sowohl in der Literatur als auch in der Praxis. Es scheint dabei oft so, als sei diese Beteiligung etwas Neues, und als wären bislang Entscheidungen nicht unter Beteiligung des Personals getroffen worden. Das ist vielleicht ein Hinweis darauf, wer sonst Entscheidungen trifft: Die Bibliotheksleitungen, nicht das Bibliothekspersonal.

Ansonsten kommen die meisten Hinweise dazu, wie die Entscheidungsprozesse in Bibliotheken aufgestellt sind, vor allem von Kolleg*innen, die von diesen enttäuscht sind. Diese Bemerkungen – fast nie dokumentierbar gemacht, also nicht in Artikeln, Blopgposts, bei öffentlichen Auftritten; sondern unter der Hand, bei persönlichen Treffen, auf den Fluren von Konferenzen, während individueller Kommunikation, ganz selten einmal auf privaten Social Media-Accounts, dafür aber recht oft – sind erwartungsgemäss zynisch und überspitzt. Deshalb sollte man sie aber nicht als unbrauchbar verwerfen, sondern sie vorsichtig interpretieren. Nicht nur gibt es sonst ja nur wenig andere, indirekte Einblicke. Solche Anmerkungen würden nicht gemacht werden, wenn das Thema für die Kolleg*innen irrelevant wäre. Gleichzeitig ist klar, dass die Situation nicht so schlecht und schon gar nicht überall so ist, wie es aus diesen Anmerkungen spricht.6

Aber nehmen wir einmal zusammen, was wir aus solchen Anmerkungen und indirekten Beobachtungen schliessen können, dann scheinen sich Entscheidungen in Bibliotheken durch folgende Kriterien auszuzeichnen:

  1. Viele Entscheidungen werden intern in kleinen Gruppen, oft bei der Bibliotheksleitung, getroffen. In kleinen Bibliotheken scheint das oft zu heissen, dass tatsächlich alle Kolleg*innen einbezogen werden, aber ab einer bestimmten Grösse differenziert sich das. Viele Klagen beziehen sich darauf, dass sich Kolleg*innen aus Entscheidungen ausgeschlossen fühlen; verstärkt dann, wenn externe Berater*innen in die Entscheidungsprozesse einbezogen werden.

  2. Bibliotheken beziehen noch recht oft andere Bibliotheken und deren Lösungen für bestimmte Probleme in die eigenen Entscheidungen mit ein, aber in einer recht spezifischen Form: Selten scheint nach den tatsächlichen Erfahrungen oder Überlegungen von anderen Bibliotheken gefragt zu werden. Vielmehr überwiegt der Modus der Anregung. Diese und ähnliche Worte werden oft benutzt, wenn Bibliothekar*innen beschreiben, was sie von anderen Bibliotheken erwarten. Es geht um Ideen, Vorschläge, Best Practice, nicht um nachvollziehbare und überprüfbare Fakten.7 (Zudem: Von Bibliotheken werden umgekehrt überwiegend datenarme und positive Darstellungen publiziert, die dann für Entscheidungsprozesse anderer Bibliotheken herangezogen werden, obwohl sie offensichtlich nicht das ganze Bild zeigen.)

  3. Viele Entscheidungen, gerade in grösseren Bibliotheken, scheinen von einer kleinen Anzahl meinungsstarker Einzelpersonen geprägt zu sein, die immer wieder als Berater*innen herangezogen werden. Ihr Einfluss wird wohl als positiv wahrgenommenen, sonst würden sie nicht immer wieder für solche Beratungsaufträge ausgewählt werden. Erstaunlich ist jedoch, dass Bibliotheken kaum die Aussagen dieser Berater*innen hinterfragen oder mehr Fakten oder Daten einzufordern scheinen – und dass sie zum Teil selbst dann auf sie zurückgreifen, wenn sie sie kritisch sehen. Das scheinen Hinweise darauf zu sein, dass die Aufgabe der Berater*innen nicht ist, Fakten oder geprüftes Wissen in die Bibliothek zu bringen, sondern dass sie vielleicht andere Funktionen übernehmen.

  4. Hingegen scheint systematisch erhobenes Wissen - das eine bessere Basis für Entscheidungen wäre - bei den meisten Entscheidungsprozessen wenig Beachtung zu finden. Bibliotheken selber sammeln kaum systematisch Erfahrungen aus ähnlichen Bibliotheken. Gerade dieses Wissen ist es aber, welches in der Forschung erhoben wird.8

  5. Auffällig ist in den letzten Jahren auch die Begeisterung für spezifische Methoden für die Entscheidungsfindung, die regelmässig als neu oder innovativ beschrieben werden – obwohl sie ja eigentlich irgendwann nicht mehr neu sind –, welche recht losgelöst vom eigentlichen Thema – und der Kritik an ihnen, die es meist in den Wissensfeldern, aus denen die Methoden stammen, gibt – als Weg zu Entscheidungen dargestellt werden. (Aktuell wieder einmal solche, die als partizipativ beschrieben werden.) Dies ist ein No-Go in der Wissenschaft. Die Methode ist ein Werkzeug, dass zur Frage passen muss; nicht andersherum. In Bibliotheken scheint das nicht zu gelten.

Diese Punkte kennzeichnen eine Struktur, die schwer zu beweisen ist, die aber viele tatsächlich getroffene Entscheidungen in Bibliotheken besser erklärt, als die einfach Annahme, dass Bibliotheken immer nach der bestmöglichen, faktisch untermauerten Lösung suchen würden.

Schaut man sich an, welche Entscheidungen in Bibliotheken tatsächlich getroffen werden, beispielsweise wie und welche neue Bibliotheksgebäude gebaut oder alte umgebaut werden, welche neuen Angebote geschaffen werden und was in Bibliotheksstrategien und Jahresberichten geschrieben wird, fallen – unter dem Blickwinkel, ob und wie Forschung hier eine Rollen spielen könnte – drei Dinge auf, die sich mit dieser Struktur erklären lassen:

  1. Viele Entscheidung scheinen – auch wenn man direkt danach fragt – aus Überzeugungen, Hoffnungen, Wünschen, Interessen, internen Traditionen im Haus heraus getroffen werden. , Fast nie wird auf eine Datenbasis verwiesen, die einer kritischen Überprüfung standhalten würde. Viele Entscheidungen könnten auch, oft besser oder anders, auf Basis vorhandener Forschung getroffen werden, werden es aber offenbar nicht. Zumindest ist das fast nie sichtbar. Bibliotheksstrategien verweisen in der Regel auch nicht darauf, dass sie auf vorhandenes Wissen aufbauten. Dies scheint im Bibliothekswesen – im Gegensatz zur Forschung – akzeptabel zu sein.

  2. Auffällig ist dagegen , dass viele Entscheidungen entgegen vorhandenem Wissen getroffen werden. Das mag nicht auffallen, wenn dieses Wissen im Entscheidungsprozess nicht aktiv gesucht wird, aber es ist tatsächlich nicht selten, dass Bibliotheken sich beispielsweise in neuen Angeboten versuchen oder Umbauten des Raumes mit bestimmten Überzeugungen angehen, bei denen – nicht unbedingt immer in der Bibliothekswissenschaft, aber oft in anderen Disziplinen – ausreichend Wissen vorliegt, welches Grenzen dieser neuen Angebote und Hoffnungen schnell erkennen lässt. Bibliotheken investieren trotzdem die jeweils notwendigen Ressourcen.

  3. Mit einer längeren Perspektive fällt auf, dass sich über die Jahrzehnte Diskurse, Themen, die als Probleme oder Gefahren für Bibliotheken beschrieben werden und auch die jeweils vorgeschlagenen Lösungen wiederholen. Es scheint oft, als würden Bibliotheken nicht aus dem Verlauf von Diskussionen und Entwicklungen lernen, sondern immer wieder zu ähnlichen Punkten zurückkehren, ähnliche Vermutungen äussern, ähnliche Situationen als Krise wahrnehmen, ähnliche Hoffnungen entwickeln und dann wieder ähnliche Lösungen versuchen – nur teilweise unter neuem Namen.

Vignette zwei

Ein grösseres Netz von Öffentlichen Bibliotheken in Deutschland hat eine Projektförderung erhalten. Der Leiter dieses Netzes, so erzählt er mir, hat jetzt die Aufgabe, herauszufinden, wie Programmierworkshops für eine spezifische Zielgruppe in der Bibliothek gestaltet werden können, auch damit diese Gruppe früh mit dem Programmieren in Kontakt kommt und dann in Zukunft mehr Personen dieser Zielgruppe selber programmieren und darauf eine Karriere aufbauen. Dieser Leiter ist weithin dafür bekannt, grosses Engagement zu zeigen. Es ist also nicht so, als würde das zynisch klingen. Ich nehme ihm sofort ab, dass er es ernst meint.

Und trotzdem – oder genau deshalb – bin ich irritiert. Programmierworkshops, auch für spezifische Zielgruppen, sind keine neue Sache. Wie sie funktionieren können, ist immer und immer wieder untersucht worden. Nicht seit Jahren, sondern seit Jahrzehnten ist dies Thema erziehungswissenschaftlicher Forschung und Praxis in verschiedenen Einrichtungen: In Schulen, in Jugendclubs und anderswo. Es gibt ungezählte Konzepte, Modelle und auch Forschung zu dieser Frage. Programmierworkshops in Bibliotheken sind immer wieder Thema studentischer Abschlussarbeiten. Auch da ist viel Vorarbeit geleistet worden. Aber so, wie mir dieser Leiter es erzählt, steht er ganz am Anfang. Wie kann das sein? Wie hat er einen Projektantrag schreiben können, ohne die vorhandene Forschung einzubeziehen? Wie konnte so ein Antrag erfolgreich sein? Hat niemand recherchiert, ob dieser überhaupt irgendwie untermauert ist? Bin ich zu sehr vom Schreiben wissenschaftlicher Anträge geprägt, dass mir das absonderlich vorkommt?

Schlimmer noch scheint mir seine Anmerkung, mit diesem Projekt solle die spezifische Zielgruppe gefördert werden. Auch das ist wirklich keine neue Idee. Praktisch in allen technisch-wissenschaftlichen Bereichen laufen seit Jahrzehnten Programme, um unterschiedliche unterrepräsentierte Gruppen an den jeweiligen Bereiche heranzuführen – und seit Jahrzehnten funktioniert das nicht (sonst wären sie ja nicht mehr notwendig). Das Problem ist, wie auch schon oft in der betreffenden Forschung diskutiert, nicht, das Menschen aus solchen Gruppen zu wenig Interesse am Programmieren oder Physik oder Ähnlichem hätten. Das Problem sind die sexistischen, rassistischen und ähnlichen ausschliessenden Strukturen und Kulturen in diesen Bereichen, die sexistisches, rassistisches und anderes ausschliessendes Denken und Verhalten befördern und dazu führen, dass über die Jahre und Karrierestufen immer mehr Angehörige unterrepräsentierter Gruppen diese Bereiche wieder verlassen. Das ist vorliegendes und einfach zu findendes Wissen. Wie sollte das bei diesem Projekt anders sein? Warum scheint der Leiter dieses Bibliothekssystems das nicht wahrzunehmen? Wie gesagt: Wäre er zynisch, würde ich vermuten, er wollte einfach nur das Projektgeld für seine Bibliotheken. Aber ich denke, es ist etwas anders: Er scheint dieses Wissen nicht zu nutzen. Das scheint ihm – und anderen, die solche Projektanträge akzeptieren – nicht in den Sinn zu kommen.

3. Können Bibliotheken Wissen aus der Forschung integrieren?

In diesem Text denke ich nicht das erste Mal über den Zusammenhang von Forschung und Öffentlichen Bibliotheken nach. Alles, was hier eher abstrakt dargestellt wurde, könnte ich mit vielen, vielen Beispielen untermauern. Es soll aber nicht der Eindruck entstehen, es ginge mir um diese einzelnen, konkreten Beispiele oder darum, die jeweils neusten Trends oder gar bestimmte Einzelpersonen zu kritisieren.9 Auf einem meiner Schreibtische liegt die allererste Version eines Buches zum Thema (das vielleicht, wie andere Bücher auch, nie über diesen Status hinauskommen wird). Eine Frage, auf die ich dabei immer wieder gestossen bin – und wegen der ich das vorhergehende Kapitel wichtig finde – ist diese: Gibt es überhaupt einen Ort, einen Moment, einen Punkt, an dem Bibliotheken die vorliegende Forschung integrieren können? Ich würde diese Frage hiermit gerne dem Bibliothekswesen vorlegen. Wie und wann wären Bibliotheken aufgestellt, um innerhalb ihrer Entscheidungsprozesse von dem Wissen, welches in der Forschung produziert wird, zu profitieren?

Grundsätzlich scheinen nämlich im Alltag und auch in Projekten in Öffentlichen Bibliotheken dafür gar keine Zeit und keine anderen Ressourcen vorgesehen zu sein. Das schliesst nicht aus, dass einzelne Kolleg*innen Anstrengungen unternehmen, Forschungen zu sichten, wahrzunehmen, aus ihr zu lernen. Aber solange Entscheidungsprozesse strukturell so organisiert sind, wie oben geschildert, würde sich erklären, warum Forschung und Bibliothekspraxis nicht zusammenkommen, egal wie praxisnah die Forschung zu sein versucht.

Dass die Bibliotheken im Allgemeinen Entscheidungen nicht so treffen, dass sie jeweils strukturiert erarbeitetes und damit abgesichertes Wissen nutzen, sondern vor allem Anregungen für eigene Entscheidungsprozesse suchen, die sie intern verarbeiten können, führt dann auch dazu, dass Bibliotheken von Forschung teilweise Dinge erwarten, die diese gar nicht liefern kann.

Forschung liefert systematisch erarbeitetes Wissen in Form von Empirie, Modellen, Tests von Annahmen, Theorie und teilweise auch, indem Fragen durchdacht werden. Nicht immer gut, aber grundsätzlich öffentlich und transparent (also dargestellt in einer Weise, die das Entstehen des Wissen nachvollziehbar und wiederholbar macht) und prinzipiell nicht im luftleeren Raum, sondern auf der Basis schon vorhandenen Wissens. Diese Wissen ermöglicht Aussagen über die Realität.

Gefordert wird hingegen oft, dass Forschung Aussagen über die Zukunft macht, Lösungen für Probleme (die die Bibliotheken als Probleme wahrnehmen) liefert und Trends benennt. Oder anders: Forschung soll das liefern, was man wohl auch von Berater*innen erwartet oder was man sucht, wenn man bei anderen Bibliotheken nach Anregungen schaut. Forschung wird so in die vorhandene Struktur, wie Bibliotheken Wissen wahrnehmen, eingefügt. Aber das ist nicht das, was Forschung kann.

Vignette drei

Eine Öffentliche Bibliothek, mit der meine Fachhochschule ein überaus gutes Verhältnis hat, die Kolleg*innen zum Studieren zu uns schicken, Praktika für unsere Studierenden anbieten und auch sonst regelmässigen Kontakt hält und Interesse zeigt, liess uns vor einigen Jahren Interviews mit Nutzenden durchführen. Es ging, im Rahmen eines grösseren Strategieprozesses, darum, zu erfahren, wie diese die konkrete Bibliothek und ihre Angebote wahrnehmen. Eine Standardfrage, dann auch mit recht erwartbaren Ergebnissen.

Was auffiel – auch in ähnlichen Projekten in anderen schweizerischen Bibliotheken – war, dass die befragten Jugendlichen vor allem ein Interesse daran hatten, die Bibliothek als Rückzugsort zu benutzen – nicht einmal so sehr als Jugendliche, die von Erwachsenen in Ruhe gelassen werden wollen, sondern individuell, als Personen, die von anderen Personen in Ruhe gelassen sein wollten, – um dort vor allem gedruckte Bücher auszuborgen und zu lesen. Solche, die sie sich selber aussuchen, nicht Lehrpersonen oder ähnliche Autoritäten. Alles andere – DVDs, Musik, E-Books, ein möglicher Makerspace – war ihnen egal. Die Ergebnisse waren sehr eindeutig.

Ein paar Jahre später ein Besuch in dieser Bibliothek. Mir wird unter anderem der Plan für die neue Jugendabteilung vorgelegt: Wenig Bücher, mehr elektronische Medien, ein Makerspace, mehr offene Fläche. Oder, anders ausgedrückt: Das, was andere Bibliotheken auch machen. Aber das Gegenteil davon, was sich die befragten jugendlichen Nutzer*innen vorstellten. Das ist kein Einzelfall. Bibliotheken begeistern sich oft für bestimmte Entwicklungen, auch wenn die Empirie oder Theorie noch mehr dagegen sprichen, als in diesem Fall, wo immerhin die Hoffnung besteht, so andere Jugendliche zu erreichen als die damals Befragten. Was erstaunt, ist, dass diese Bibliothek die Ergebnisse von Projekten, die sie selber finanziert hat, offensichtlich ignoriert.

4. Könnte es anders sein?

Nehmen wir an, meine Beschreibung stimmt, dann wäre es eine Erklärung für die Situation, in der sich Forschung in Bezug auf die Bibliothekspraxis befindet. Das zu benennen kann schon helfen, Erwartungen und Hoffnungen realistischer zu gestalten.

Aber die interessantere Frage ist ja, ob es anders sein könnte und anders sein sollte. Selbstverständlich ist das erst einmal eine müssige Frage: Alles könnte immer anders sein. Alle Institutionen könnten anders funktionieren, alle Strukturen könnten andere Strukturen sein. Die Frage ist, warum sie so sind, wie sie sind.

Aber wie wahrscheinlich wäre es überhaupt, dass Bibliotheken eine andere Struktur für ihre Entscheidungen entwickeln können?

Die Antwort darauf scheint mir nicht eindeutig zu sein. Das Öffentliche Bibliothekswesen in der DDR beispielsweise deutet eher darauf hin, dass diese Struktur zu Öffentlichen Bibliotheken gehört. Dies mag überraschen, war es doch ein Bibliothekswesen in einem anderen politischen und gesellschaftlichen System als die Bibliothekswesen im DACH-Raum heute. Es gab Direktiven und andere verbindliche Vorgaben. Die Bibliotheken wurden als zusammenhängendes Netz verstanden, auf das zentral eingewirkt werden konnte. Es gab mit dem Zentralinstitut für Bibliothekswesen eine Institution, welche explizit praxisorientierte Forschung – selbstverständlich im politischen Rahmen der DDR, also beispielsweise mit regelmässiger Auswertung jeweils aktueller politischer Dokumente – betrieb. Zahlreiche Studien zur Nutzung von Bibliotheken, zur Rationalisierung von Bibliotheksarbeit, zur Planung verschiedener Bibliothekstypen wurden von diesem durchgeführt und publiziert.10 Viele Formulare, die für die Planung von Bibliotheksarbeit genutzt werden sollten, wurden erstellt. Und trotzdem es diese Einrichtung gab und obgleich die Bibliotheken in der DDR einer zentralen Führung unterstanden, sind die Publikationen des Instituts durchzogen von einem gewissen, immer wieder durchscheinenden, Defätismus. Immer wieder wird darauf verwiesen, dass die vorhandenen Formulare auch benutzt werden müssten, dass bestimmte Probleme schon in früheren Publikationen geklärt worden seinen und das die Bibliotheken dieses Wissen im Alltag nutzen müssten. Oder anders, auf das Thema dieses Textes bezogen: Selbst unter diesen spezifischen Umständen, die eigentlich die Nutzung des – trotz aller ideologischen Verrenkungen – systematisch erstellten Wissens befördern müssten, nutzten die Bibliotheken es offenbar nicht. Zumindest nicht so wie erwartet. Vielleicht ist es also Teil der Identität Öffentliche Bibliotheken solches Wissen nicht nutzen, zumindest nicht direkt?

Für eine ähnliche Konstellation, die von Schulen (und Kindergärten) und Erziehungswissenschaft, gibt es einige Untersuchungen. Wie nutzen Schulen die Ergebnisse der erziehungswissenschaftlichen Forschung? Man würde auch hier erwarten, dass sie dieses in ihr pädagogisches Handeln integrieren. Schliesslich werden (im Vergleich zur Bibliothekswissenschaft) für die Erziehungswissenschaft relativ viele Ressourcen aufgewendet, um Modelle zu erstellen und zu Testen, pädagogische und didaktische Interventionen zu gestalten und deren Wirkung zu bestimmen und so weiter. Schulen könnten sich immer weiter verändern, bei der Masse und Vielgestaltigkeit von erziehungswissenschaftlicher Literatur auch in verschiedene, selbstbestimmte Richtungen. Aber was die Forschung zum Transfer von Wissen aus der Erziehungswissenschaft in die Schulpraxis immer wieder zeigt, ist, dass nur eine kleine Zahl von Schulen diese wahrnehmen und zur eigenen Entwicklung zu nutzen. Ein Grossteil entwickelt sich auf anderer Basis, also eigenen Hoffnungen, Annahmen, Vermutungen. Das Wissen aus der Erziehungswissenschaft kommt wenn, dann eher über den Umweg der Kultusministerien beziehungsweise Erziehungsdirektionen in die Schulen. Diese haben Strukturen entwickelt, das in den Erziehungswissenschaften produzierte Wissen wahrzunehmen und umzusetzen. Und gleichzeitig haben sie die Macht, Richtlinien zu erlassen (oder anzuregen, dass die Politik sie erlässt).11 Dabei ist auch die Erziehungswissenschaft nicht praxisfern, sondern unternimmt aktiv Schritte, ihre Ergebnisse zu popularisieren, beispielsweise mit den regelmässig publizierten Nationalen Bildungsplänen.

Insoweit befinden sich Bibliotheken vielleicht bei der Struktur ihrer Entscheidungsprozesse im Einklang mit anderen Einrichtungen.12 Das hiesse noch nicht, dass es so sein muss, wie es ist. Aber es wäre ein Hinweis darauf, dass es so wie es ist nicht ungewöhnlich ist und auch nicht spezifisch für Bibliotheken.

Gleichzeitig gibt es aber Felder, in denen es normal ist – oder zumindest zur professionellen Identität gehört, egal wie es von einzelnen Vertreter*innen umgesetzt wird –, bei Entscheidungen das vorhandene Wissen wahrzunehmen und einzubeziehen. In Verwaltungen und Ministerien wird dies angestrebt, und wie gerade erwähnt beispielsweise in Kultusministerien auch umgesetzt. In vielen Berufen, die mit Planung und Umsetzung von Umweltschutz zu tun haben, ist es Normalität, auf wissenschaftliches Wissen zurückzugreifen. Für die Medizin geht man davon aus, dass sich das Personal ebenso kontinuierlich à jour hält. In diesen und anderen Berufsfeldern ist es normal, dass Arbeitszeit für die Recherchen, das Lesen und Verarbeiten von wissenschaftlicher Literatur verwendet, Tagungen besucht und selber zum Diskurs beigetragen wird. Warum sollte das im Bibliothekswesen nicht möglich sein?

Die Antwort auf die Frage, ob die Situation auch anders sein könnte, lautet also wohl: Ja, aber dann würden sich Bibliotheken recht massiv verändern.13

Vignette vier

Es gibt eine kleine, in den letzten Jahren aber sogar steigende, Anzahl von Institutionen, bei denen Bibliotheken Geld für Entwicklungsprojekte beantragen können. Die Summen, die ausgeschüttet werden, die Zeiträume, die rechtlichen Strukturen der Institutionen sind unterschiedlich. Die Ziele und Ausschreibungstexte hingegen sind recht gleichförmig. Es geht immer wieder darum, dass Bibliotheken lokale Projekte durchführen sollen, die gleichzeitig innovativ sein und dafür sorgen sollen, dass sie sich mehr in ihre Gemeinde integrieren sowie neue Rollen übernehmen. Immer muss dafür ein Antrag für das jeweilige Projekt eingereiht werden.

Ich bin ganz gut platziert, um entweder direkten Kontakt zu diesen Einrichtungen zu haben oder unter der Hand aus ihnen zu hören. Alle Institutionen haben das gleiche Problem, nämlich ihr Geld loszuwerden. Es gibt viel weniger Eingaben, als sie sich erhoffen. Fast nie können aus den Anträgen die Besten ausgesucht werden, weil es gar nicht genügend für eine solche Wahl gibt. Form und Inhalt der eingereichten Anträge entsprechen auch selten den Vorstellungen der Ausschreibenden. Offenbar fällt es Bibliotheken schwer, Projekte zu entwerfen und diese dann auch zu beschreiben – was für Forschende wie mich, die das ständig tun, erstaunlich ist; was aber auch erstaunlich ist, weil in vielen Bibliotheken Kolleg*innen arbeiten, die an Fachhochschulen und Universitäten studiert und dort zumindest in den letzten Jahren auch mit Projektmanagement vertraut gemacht wurden. Es fällt Bibliotheken zudem schwer, explizit neue Projekte zu entwerfen, also erst wahrzunehmen, was es schon gibt und dann davon ausgehend etwas Eigenes, Neues zu entwerfen. Viele Eingaben heben stattdessen offenbar darauf ab, etwas, was es in anderen Bibliotheken schon gibt, noch einmal, nur halt lokal, umzusetzen.

Die mittelgebenden Institutionen behelfen sich: Mit Beratung der Bibliotheken, mit Neu- und Umdefinition von Vorgaben, mit Auflagen bei Projekten und anderem. Für mich – der nicht das Problem hat, Geld sinnvoll verteilen zu müssen – scheint aber, dass das Problem strukturell ist. Es gäbe so viel Wissen, auf das Bibliotheken zurückgreifen könnten, um wirklich neue Projekte zu entwerfen oder aber zumindest zu zeigen, warum ihre Projekte funktionieren würden. Es gibt so viele Kompetenzen in Bibliotheken, wie man ein Projekt entwirft, aufgleist und durchführt. Das ist seit Jahren Unterrichtsstoff im Studium. Bibliotheken nutzen diese Kompetenzen nicht – quer durch die jeweils um Geld angegangenen Fördereinrichtungen, quer durch den DACH-Raum (immer mit einzelnen Ausnahmen). Das ist eine Struktur.

5. Was könnte anders sein?

Dieser Text beschreibt eine Situation, die zumindest, wenn man davon ausgeht, dass die Aufgaben zwischen Forschung zum Bibliothekswesen auf der einen Seite und dem Bibliothekswesen auf der anderen Seite, sinnvoll verteilt sein sollten, negativ erscheint. Das ist sie aber nicht unbedingt. Das wissenschaftliches Wissen nicht von den Einrichtungen genutzt wird, die davon profitieren könnten, mag für das Funktionieren dieser Einrichtungen, aber auch für die Wissenschaft als eigenständiges Feld notwendig sein. Die Situation scheint wohl aus zwei Gründen eher negativ: Zum einen, weil die Forschung gerade an Fachhochschulen immer wieder dem Modus anwendungsbezogener, praxisorientierter Forschung unterworfen werden soll, was an sich immer schwierig ist, aber kontraproduktiv wird, wenn die Praxis keine Strukturen hat, um das in diesem Modus produzierte Wissen überhaupt wahrzunehmen. Zum anderen, weil in den Fällen in denen die Bibliothekspraxis sich einmal äussert, vor allem Forderungen in die Richtung der Forschung gestellt werden, die diese oft schon erfüllt.

Es hat aber auch Vorteile, wenn diese beiden Ebenen – Forschung und Praxis – getrennt voneinander existieren und funktionieren. (Nur so, zum Beispiel, kann in der Forschung überhaupt abstrakt gedacht werden.)

In diesem Text habe ich anders über diese Situation nachzudenken versucht. Es scheint klar zu sein, dass Bibliotheken sich eine ganze Reihe von Möglichkeiten vergeben, wenn sie ihre Entscheidungsstrukturen so lassen, wie sie sind. Sie verbrauchen Ressourcen für Projekte und Entscheidungsprozesse, bei denen mit ein wenig mehr Recherche klar wäre, dass sie nicht die angestrebten Ziele erreichen werden. Sie verbrauchen unnötig Ressourcen, weil sie immer wieder zu ähnlichen Problemen und Lösungen zurückkehren und nicht auf den schon einmal gemachten Erfahrungen aufbauen. Die Beschreibung einer Situation macht es möglich, über diese nachzudenken und zu entscheiden, ob sie verändert werden soll. Aber diese Veränderung, wenn sie gewünscht wird, müssten Bibliotheken selber durchführen.

Was wäre zu verändern?

  1. Bibliotheken müssen aktiv das Wahrnehmen von wissenschaftlichen Wissen in ihre Entscheidungsprozesse integrieren, ansonsten wird sich diese Struktur nicht verändern. Mindestens an den Punkten von Entscheidungen, in denen systematisch erhobenes Wissen eine sinnvolle Basis bieten würde, muss es normal werden, nach diesem zu suchen, es zu rezipieren und auch zu verwenden. Das bedeutet ganz konkret, Zeit aufzuwenden, um zu recherchieren, zu lesen, zu verstehen und auszuwerten. Und es bedeutet manchmal auch, eigene Wahrnehmungen gegenzuchecken, Hoffnungen aufzugeben oder – viel eher – zu erkennen, wenn man das machen will, was andere auch schon gemacht haben, und dann zu versuchen, auf deren Erfahrungen aufbauend weiterzugehen.

  2. Dafür müsste es im professionellen Verständnis als Bibliothekar*in integriert werden, dieses Wissen wahrzunehmen und dafür Ressourcen einzusetzen, vor allem Zeit zum Lesen und Nachdenken. Wie Ressourcen, auch Arbeitszeit, verplant und was als Arbeit wertgeschätzt oder als sinnlos verworfen wird, ist immer eine politische Frage. Der Hinweis, man hätte dafür keine Zeit, ist immer ein Hinweis, dass diese Tätigkeit oder dieses Thema nicht als relevant angesehen wird. Das sagt immer etwas über das jeweilige Verständnis davon aus, was als professionell gilt, und über die Institution, an der man tätig ist. Aber gleichzeitig, beziehungsweise gerade deshalb, kann es immer auch geändert werden. Es ist kein unhintergehbares Argument. Professionen und Institutionen ändern sich. (Zumal in unserem Fall der Einsatz von Ressourcen für die Nutzung von Wissen aus der Forschung sich in besseren, andere Ressourcen einsparenden oder effektiver einsetzenden Entscheidungen niederschlagen würde.)

  3. Bibliotheken müssten wohl ein realistischeres Verständnis davon entwickeln, was Forschung eigentlich macht und was für Wissen in ihr erarbeitet wird. (Am einfachsten geht das, indem eigene Forschung durchgeführt wird, wozu bibliothekarisches Personal mit Hochschulausbildung sehr wohl in der Lage ist.) Das würde auch ermöglichen, dass die unterschiedlichen Wissensformen angemessen bewertet würden: Forschung als systematisches Wissen. Anregungen meinungsstarker Einzelpersonen als informierte Einzelpositionen. Eigene Beobachtungen und Hoffnung als lokales Wissen. Methoden als Methoden, nicht als Lösungen. Positionen, die hinter auffällig vielen rhetorischen Mitteln versteckt werden, als argumentative schwache Positionen. Und so weiter.

  4. Dann liesse sich auch ein neues Verständnis von Forschung und Bibliotheken entwickeln. Ansonsten bleibt es wohl bei der beschriebenen Situation, solange sich nicht anderes massiv ändert. (Beispielsweise die Struktur der Gesellschaft, aber wie gesagt scheint die Struktur der zu heute sehr anderen Gesellschaft in der DDR nicht zu einer anderen Beziehung von Forschung und Bibliothekspraxis geführt zu haben.)

Vignette fünf

Ich wurde Experte für Makerspaces, weil ein Kollege es vor Jahren einfach behauptete. (Vielen Dank an den Kollegen nochmal. Er weiss, was er getan hat.) Seitdem habe ich einige Jahre über Makerspaces geforscht. Habe alles, was mir in Deutsch, Englisch und Französisch zum Thema unterkam, gelesen (und das zum Beispiel in zwei Sammelrezensionen dargestellt). Ich habe in einem Projekt geholfen, dass die Stiftung Bibliomedia Schweiz jetzt in der Deutschschweiz für Gemeinde- und Schulbibliotheken mobile Makerspace-Toolkits anbietet. Ein Vorprojekt dazu, das ich vor einigen Jahren leitete, wurde von anderen Bibliotheken als Vorbild für ihre Makerspace-Projekte genutzt. Ich habe Bachelorarbeiten zum Thema betreut und habe Anfragen abgelehnt, in Jurys über Makerspace-Projekte zu sitzen. Ich würde also sagen, dass ich, auch im Vergleich zu anderen, die über das Thema reden, recht viel zu Makerspaces in Bibliotheken weiss.

Eine Sache, auf die ich auf dieser Basis (und der wenigen Daten, die wir über die Nutzung von Makerspaces in Bibliotheken haben), immer wieder hinweise, wenn man mich fragt, ist die, dass sich Jugendliche für diese Makerspaces nicht interessieren. Das bestätigt sich immer wieder. Von Ausnahmen abgesehen, bricht das Interesse an all den Angeboten, die Bibliotheken in diesem Bereich machen, zwischen 12 und 15 Jahren – also der Zeit, wenn Kinder zu Jugendlichen werden – ab. Massiv. In Bibliotheken finden sich wohl immer wieder Jugendliche, die gerne helfen, Makerspaces mit zu betreuen. Aber als Angebot, um Jugendliche anzusprechen, eignen sie sich nicht. (Das ist auch nicht erstaunlich, sondern hat sich bei anderen Angeboten, die in den letzten Jahrzehnten für Jugendliche gemacht wurden, auch immer wieder gezeigt.) Ich weiss nicht, wie oft ich das schon dargestellt habe. Ich weiss auch nicht, wie man das bei den Makerspaces und ähnlichen Angeboten, die es ja in ausreichender Zahl gibt und die man besuchen kann, um selber nachzuschauen, übersehen kann.

Ich erhalte weiterhin – wenn auch abnehmend – Anfragen zu Makerspaces. Soll Hinweise dazu geben, wie man sie aufbauen kann. Soll Konzepte bewerten. Und so weiter. Praktisch jedesmal ist die Idee der fragenden Bibliotheken, dass man mit den jeweiligen Makerspaces Jugendliche ansprechen würde. Es werden dazu teilweise elaborierte Vorstellungen entwickelt, die sich alle nicht bewahrheiten werden. Die interessante Frage ist: Warum fragt man mich das überhaupt? Auf die Idee, dass ich etwas zum Thema wüsste, kommt man doch nur, weil man Beiträge von mir zum Thema wahrgenommen hat. Aber nicht den Inhalt? Das passiert auch bei anderen Themen immer wieder, Makerspaces sind nur ein sehr eindeutiges Beispiel. Ich, als Forschender, käme nicht auf die Idee, jemand etwas zu fragen und nicht vorher deren / dessen Beiträge zu lesen. Bibliotheken schon? Wenn ja, dann ist das strukturell.


  1. Etwas, was mich immer wieder tief zugrunde irritiert, ist das Beharren von Bibliotheken darauf, Ressourcen in Projekte, neue Angebote und so weiter zu stecken, wenn eigentlich klar zu sehen ist, dass diese dadurch verschwendet werden. Ich weiss nie, woher die einzelnen Bibliotheken das Selbstbewusstsein nehmen, dass sie es besser könnten als all die Bibliotheken (und anderen Einrichtungen) vor ihnen, die oft mit den gleichen oder ähnlichen Ideen schon gescheitert sind.↩︎

  2. Darunter leidet alle andere notwendige Arbeit, um die Bibliothekswissenschaft als Wissenschaft weiter zu bringen: Theoriearbeit, Methodenentwicklung, kohärente Forschungsprogramme sind so nicht möglich. Aber das soll hier nicht Thema sein.↩︎

  3. Auch wenn man einzelne Forschungsprojekte, -fragen, -ansätze sehr wohl kritisieren kann; aber dann vor allem an Kriterien von Forschung selber, kaum dafür, praxisfern zu sein.↩︎

  4. Diese Überlegungen gehen von Forschung direkt über und für Bibliotheken aus. Selbstverständlich liegen auch in anderen Disziplinen Ergebnisse vor, die für Bibliotheken relevant sind, beispielsweise in der Pädagogik oder der Soziologie.↩︎

  5. Manchmal fliesst in diese Texte das Wissen der Autor*innen um die Entscheidungsprozesse in den jeweils eigenen Bibliotheken ein, aber solche sind schwerlich verallgemeinerbar.↩︎

  6. Die Frage der Reproduzierbarkeit ist damit selbstverständlich nicht beantwortet. Ich gehe hier ein wenig davon aus, dass meiner Darstellung einfach gefolgt wird – wovon ich eigentlich immer abrate. Aber alle mit Kontakten im Bibliothekswesen können die Reproduktion selber angehen, indem sie im eigenen Rahmen Kolleg*innen ausserhalb der Leitungsebene aus verschiedenen Bibliotheken befragen. Es würde mich wundern, wenn deren Kommentare erheblich anders wären.↩︎

  7. So lässt sich vielleicht erklären, wieso in Bibliotheken bestimmte Konzepte weiter als zukunftsträchtig gelten, beispielsweise in den veröffentlichten Bibliotheksstrategien und Jahresberichten, die sich in anderen Bibliotheken schon als wenig wirksam gezeigt haben oder gar schon wieder eingestellt wurden.↩︎

  8. Damit ist selbstverständlich nicht gesagt, dass solches Wissen perfekt wäre. Aber das soll in diesem Text auch nicht Thema sein.↩︎

  9. Und falls sich Einzelpersonen oder -institutionen in den Vignetten wiederzuentdecken glauben, können sie beruhigt sein. So oder so ähnlich hat es sich öfter abgespielt, bevor es hier zur Vignette wurde. Die Vignetten sind anonymisiert und inhaltlich leicht verschoben. Wer meint, erkannt worden zu sein, kann sich sicher sein: Die Situation ist mir mehr als einmal begegnet. Niemand ist selber gemeint, sondern immer die Struktur. (Dies liesse sich auch umdrehen: Ich bin mir sicher, dass andere Personen, wenn zufällig sie auf meine Position gelangt wären, ähnlich denken und argumentieren würden wie ich.)↩︎

  10. Vergleiche die Reihe Theorie und Praxis der Bibliotheksarbeit, 1969-1989.↩︎

  11. Und auch das ist nicht einfach, wie diejenigen, welche die Einführung des Lehrplan 21 in der Schweiz und Liechtenstein in den letzten Jahren verfolgt haben, wissen.↩︎

  12. Wie ist zum Beispiel das Verhältnis von Museen und Museumsforschung, von Archiv und Archivwissenschaft? Das wäre eine interessante Anschlussfrage.↩︎

  13. Aber auch das hätte ein Vorbild im Bibliothekswesen. Die Transformation von der literaturorientierten zur nutzer*innenorientierten Bibliothek – von der Theke zur Freihand – in den 1960er verschob auch massiv Strukturen, Denkweisen und die gesamte bibliothekarische Arbeit. Es ist also möglich, dass sich Bibliotheken grundlegend ändern.↩︎


Karsten Schuldt, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Schweizerisches Institut für Informationswissenschaft, FH Graubünden. Lebt in Berlin, Chur und Lausanne. Hobbys unter anderem Tee trinken und zeitgenössische Lyrik lesen, Streetart finden und Musemsbesuche, Rätoromanisch lernen und eine unvernünftig intensive Begeisterungen für Keramik und das Fürstentum Liechtenstein.