Meiner Erfahrung nach lässt die praktische Arbeit in Öffentlichen Bibliotheken eigene Forschung selten zu. Der Arbeitsalltag in Verbindung mit gefühlt zu vielen Aufgaben und Baustellen für zu wenig Personal verhindert dies und je kleiner die Bibliothek, desto eklatanter wahrscheinlich die Problematik.1 Dass Nicht-Hochschulangehörige häufig nur begrenzt Zugang zu Fachliteratur und Rechercheinstrumenten haben, kommt erschwerend hinzu. Es wäre allerdings falsch, daraus zu schließen, es gäbe keinen Forschungsbedarf.
Aus diesem Grund ist die Praxis gerade auf die wissenschaftliche Forschung angewiesen. Und obwohl gute und relevante Forschung (natürlich!) nicht generell aus der Praxis heraus angestoßen werden muss, kann es doch für beide Seiten gleichermaßen hilfreich sein, wenn sie sich konkret darauf bezieht, Problemstellungen daraus ableitet oder Etabliertes hinterfragt. Es gibt viele Fragestellungen, auf die die Praxis keine befriedigenden Antworten liefern kann, obwohl sie diese für fundierte strategische Entscheidungen und eine tragfähige Zukunftsausrichtung benötigte.
Im Praxisbetrieb von Bibliotheken sind es häufig Projektbeschreibungen und Förderanträge, die eine mangelnde Selbstreflexion im Arbeitsalltag durchbrechen, weil die Antragsstellung ein Zurücktreten auf die Metaebene und außerdem ein immer neues Nachdenken über konkrete Evaluationsmöglichkeiten erzwingt. Generell gehen Forschung und Theoriebildung – mindestens in Ansätzen – dann direkt von der Praxis aus, wenn die wissenschaftliche Forschung die erforderlichen Instrumente nicht bereitstellen kann. Sie erfolgt also eher aus der Not heraus, weil die Wissenschaft selbst die im konkreten Fall benötigte Forschungsarbeit nicht geleistet hat.2
Und tatsächlich sehe ich, ohne jeden repräsentativen Anspruch, rein aus den Fragestellungen, die mein Berufsalltag mir vor die Füße spült, Forschungsbedarf zu vielen Themen.
Ein wesentliches Arbeitsfeld für viele Öffentliche Bibliotheken in Deutschland ist nach wie vor die Zusammenarbeit mit Schulen, zu der die Recherche für meine Masterarbeit 2018 recht wenig wissenschaftliche Literatur ergab. Hierzu wären aufwendige empirische Studien und Befragungen an Schulen, Referendariats-Seminaren, Hochschulen, beteiligten Institutionen (Schulämtern, Ministerien, …) sowie Bibliotheken sehr wünschenswert als Basis neuer theoretischer Erkenntnisse. Obgleich das Thema der systematischen Kooperation von Schulen und Bibliotheken in der Praxis von hoher Relevanz und auch starker Präsenz im Fachaustausch ist (viele Praxisberichte, Fortbildungen et cetera zu diesem Themenfeld), ist mein Eindruck dazu eine Unterrepräsentiertheit in der Forschung.
Auch die konkrete Bedeutung von Öffentlichen Bibliotheken für ihre Kommune oder ihren Stadtteil beziehungsweise ihr direktes Umfeld könnte verstärkt in den Blick genommen werden – unter Aspekten wie Dezentralisierung, Stärkung von Innenstädten/Ortskernen, Bereitstellung von Services wie Informationszugang und Kulturprogrammen vor Ort, Teil der Nahversorgung, Stärkung der Verbundenheit Bürger*innen-Kommune.
Ein weiteres Forschungsfeld könnte die tatsächliche wirtschaftliche Bedeutung von Öffentlichen Bibliotheken für Verlage sein. Diese ist den Akteuren vermutlich häufig nicht bewusst. Kein Wunder, Öffentliche Bibliotheken kaufen in der Regel nicht bei den Verlagen direkt, sondern über den (oft lokalen) Buchhandel, so dass ihre Kaufkraft für Verlage kaum sichtbar wird. Mit einem gut durchdachten Forschungsdesign könnte hier zum Nutzen von Öffentlichen Bibliotheken wie Buchhandel und Verlagswirtschaft gleichermaßen Licht ins Dunkel gebracht werden.
Auch einen differenzierten Blick auf den Wandel von Bibliotheken hielte ich für lohnenswert. Es steht außer Frage, dass es in Öffentlichen Bibliotheken eine große Nachfrage nach elektronischen Beständen sowie Arbeitsplätzen und Aufenthaltsqualität gibt. Doch muss dies nicht zwingend zulasten von physischen Beständen gehen. Warum konkret geht die Ausleihe von physischen Medien zurück? Welche Faktoren spielen dabei eine Rolle? Welche Bestandsgruppen genau betrifft dies (also deutlich feingranularere Feststellungen als ein allgemeiner Rückgang von Buchausleihen oder ein Einbruch der DVD-Ausleihen in Zeiten von Streaming-Angeboten)? Gibt es Unterschiede zwischen kleinen und großen Bibliotheken oder vielleicht zwischen Regionen mit unterschiedlich finanzkräftiger Bevölkerung? Welche Rolle spielt dabei der Bestandsaufbau?
Überhaupt wären die klassischen Themen Bestandsaufbau und Bestandsvermittlung ein sehr ergiebiges, zugleich für die Praxis äußerst nützliches Forschungsfeld. Welche Rolle spielen Standing Order und Approval Plan genau? Welche unterschiedlichen Modelle gibt es? Wie zuverlässig/qualitativ überzeugend sind diese in der Umsetzung? Und hat ein Umstieg dahin von einem individuellen Bestandsaufbau irgendwelche messbare Konsequenzen für Angebote und Akzeptanz der betreffenden Bibliotheken (kommt es zur Stärkung anderer qualitativer Angebote durch frei gewordene Personalkapazitäten? zum Rückgang von Ausleihen? zur Vereinheitlichung von Beständen?)? Inwieweit unterscheiden sich Bestände vergleichbarer Bibliotheken eigentlich generell (beispielsweise bei Zweigstellen eines Bibliotheksnetzes, Bibliotheken vergleichbarer Größe/vergleichbarer Etats oder einer Region)? Welche Bedeutung kommt dem Lektorat/Fachreferendariat zu und wie wandelt sich dessen Rolle im Detail? Öffentliche Bibliotheken werben gerne mit ihrer Beratungsqualität und einem nicht von kommerziellen Interessen geleiteten, sachlich orientierten, niederschwelligen Zugang zu Informationen (im Sinne einfacher Zugänglichkeit, auch guter Auffindbarkeit durch entsprechende Erschließung). Zugleich hat die Deutsche Nationalbibliothek die relevanten Erschließungsleistungen für Öffentliche Bibliotheken vorerst eingestellt3 und in Fachgesprächen erscheint es mir manchmal, als sei meine Bibliothek eine der letzten kommunalen Bibliotheken mit einem klassisch arbeitenden Lektorat. Trügt dieser Eindruck und inwieweit hat das Einfluss auf den Bestandsaufbau, die Nutzung und Akzeptanz der Bestände? Welche Faktoren, die wir in der Praxis vielleicht gar nicht sehen, spielen hier eine Rolle?
Ich wünsche mir, dass diese und weitere aktuelle Themen aus der Berufspraxis systematisch, transparent und möglichst jenseits von ideologischen Grabenkämpfen umfassend betrachtet werden – eine Aufgabe, die die Praxis so nicht leisten kann. Das hat nicht nur mit mangelnden Kapazitäten zu tun, sondern damit, dass die einzelnen Öffentlichen Bibliotheken selbst natürlich immer Teil des Systems, mit individuellen Problemstellungen und Richtungsentscheidungen, und damit auch nicht neutral sind.4
Für die Praxis sehe ich generell einen klaren Gewinn aus relevanter, qualitativ überzeugender Forschung: Sie fördert die Hinterfragung von Glaubenssätzen
und einer das haben wir immer so gemacht
-Haltung, wo es angebracht ist und es gute Gründe dafür gibt. Sie unterstützt die Reflexion der eigenen Arbeitsweise und kann damit gegebenenfalls auch die Position von Öffentlichen Bibliotheken, zum Beispiel gegenüber Mittelgebern, untermauern. Darüber hinaus kann sie geeignete Evaluationsinstrumente für verschiedenste Maßnahmen zur Verfügung stellen und die Rechtfertigung oder Abschaffung bestimmter Services, Vorgehensweisen oder Strukturen stützen, Grundlagen liefern zur Verbesserung von Strategien, im Einzelfall sogar für weitergehende Neuorientierungen. Wenn es der Forschung gelingt, hierfür Argumente durch wissenschaftlich fundierte Ergebnisse zu liefern, so leistet sie einen wertvollen Beitrag zur Objektivierung, erleichtert damit die Überzeugungsarbeit nach innen und außen und ermöglicht es, solche teils tiefgreifende Entscheidungen auf Basis valider Erkenntnisse zu treffen. Damit kann sie ein Gegengewicht zur Verlockung schnelllebiger Trends5 ohne ausreichende empirische Grundlage darstellen und evidenzbasiertes Handeln maßgeblich begünstigen. Forschung für Öffentliche Bibliotheken ist unverzichtbar! Der von praktischen Erwägungen (auch strukturellen, finanziellen oder ähnlichen Zwängen) freie Blick wissenschaftlicher Forschung, der dem Innovationsdruck weniger oder zumindest in anderer Weise unterworfen ist, kann eine unverstelltere Perspektive auf die Arbeit der Praxis ermöglichen.6
Natürlich können auch andere Forschungsbereiche und Disziplinen als die Bibliotheks- und Informationswissenschaft solche für die Praxis wichtigen und wertvollen Forschungsbeiträge liefern (und haben dies bereits getan) – wie die Lesesozialisationsforschung, um nur ein Beispiel aus meinem eigenen Arbeitsbereich zu nennen.
Wissenschaftliche Forschung egal welcher Disziplin muss frei sein und darf ohne jede (zumindest sofort erkennbare) praktische Relevanz sein. Sie kann sich keinesfalls nur auf aus der Praxis generierte Themen und Fragestellungen beziehen. Vielmehr sollen von ihr eigene Impulse ausgehen, die auf der Ebene der praktischen Arbeit vielleicht nie zum Tragen gekommen wären. Wissenschaftliche Forschung und Berufspraxis dürfen und müssen sich aber dennoch aufeinander beziehen und das kann interessant und ergiebig für beide Seiten sein.7 Wichtig für die Wahrnehmung wissenschaftlicher Forschungsergebnisse in der Praxis ist aus meiner Sicht neben einer guten Zugänglichkeit und Recherchierbarkeit auch eine Klarheit der Argumente und der Sprache. Wesentliche Grundlage für einen gelingenden Wissenstransfer in beide Richtungen ist ein enger und lebendiger Austausch zwischen Theorie und Praxis, einschließlich eines Gehörtwerdens von Forschungsbedarfen aus der Praxis, Nutzung von Möglichkeiten der Verifizierung/Falsifizierung von Forschungsergebnissen durch praktische Anwendung von Theorien, Umsetzung überzeugender Vorschläge aus der Forschung in der praktischen Arbeit. Denn viele Ansätze aus der Wissenschaft liefern einerseits innovative Ansätze für die Praxis, benötigen diese jedoch zugleich als Korrektiv. Diese Rückkopplung erhöht die Akzeptanz von Forschungsergebnissen in der Praxis und kann fruchtbar für beide Felder sein.
Literatur
Menzel, S. & Rabe, R. (2005). Das Projekt Bibliothek und Schule
in den Städtischen Bibliotheken Dresden. BIBLIOTHEK Forschung Und Praxis, 29(1). https://doi.org/10.1515/BFUP.2005.74
Wimmer, U. (2015). Es gibt nichts Praktischeres als eine gute Theorie! Ein Plädoyer für mehr Theorie in der Bibliotheksarbeit. O-Bib. Das Offene Bibliotheksjournal / Herausgeber VDB, 2(3), S. 81–88. https://doi.org/10.5282/o-bib/2015H3S81-88
Wimmer, U. (2019). Wo sind die Öffentlichen Bibliotheken in Forschung und Lehre? Eine unbequeme Antwort. In Hauke, P. (Hg.), Öffentliche Bibliothek 2030. Herausforderungen – Konzepte – Visionen, Bad Honnef: Bock+Herchen, 2019, S. 303–310. http://dx.doi.org/10.18452/20169
Die Situation an Hochschulen ist letztlich nicht anders, im Gegensatz zur Bibliothekspraxis gehört die Forschung dort jedoch zu den originären Aufgaben.↩
Z. B. Entwicklung der Leistungsindikatoren
Schülererfassungsgrad
undKlassenerfassungsgrad
zur systematischen Analyse der Zusammenarbeit mit Schulen und Kindertagesstätten in den Städtischen Bibliotheken Dresden (vgl. Menzel & Rabe, 2005)↩Die AG Erschliessung OEB-DNB sucht inzwischen nach einer vertretbaren automatisierten Lösung.↩
Womöglich hätte eine zentrale, übergeordnete Einrichtung wie das DBI (Deutsches Bibliotheksinstitut, 1978-1999) sich mancher dieser Fragestellungen annehmen können.↩
Siehe dazu aktuell: https://bildungundgutesleben.wordpress.com/2020/03/09/der-3-ort-ist-tot-was-lernen-wir-daraus/ (zuletzt abgerufen am 30.03.2020)↩
vgl. Wimmer, 2019, S. 307 f.↩
Vgl. Wimmer, 2015↩
Rebekka Putzke hat einen Magisterabschluss in Germanistik/Literaturwissenschaft, Philosophie und Physik und einen Masterabschluss in Bibliotheks- und Informationswissenschaft. Sie arbeitet nach Jahren als Bibliothekarin mit Schwerpunkt Kinderbibliotheksarbeit sowie Leiterin einer Zweigbibliothek als Lektorin für Kindermedien bei den Städtischen Bibliotheken Dresden.