1 Vorwort
Unter dem Titel dieses Artikels reichte ich im September 2019 meine Bachelorarbeit am Institut für Bibliotheks- und Informationswissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin ein. Das Thema beschäftigte mich schon mein ganzes Studium, seit ich im ersten Semester einen Artikel des französischen Soziologen Denis Merklen über Bibliotheksbrände in Frankreich gelesen hatte. Die Reaktion, die ich von meinen Mitmenschen, ob privat, auf der Arbeit in der Bibliothek, oder im wissenschaftlichen Umfeld der Universität, bekommen habe, wenn ich dieses Thema ansprach, war immer wieder dieselbe. Erstaunen, Unglaube und schnell auch Unmut waren die Reaktionen, wenn ich erzählte, dass Bibliotheken während sozialer Unruhen in Europa angegriffen werden. Und zwar nicht in ferner Vergangenheit, sondern vor fünfzehn, zehn oder sieben Jahren. Niemand schien über diese Ereignisse im Bilde zu sein. Auf eine unbestimmte Art und Weise fühlen sich Menschen persönlich angegriffen, wenn sie erfahren, dass Bibliotheken vorsätzlich zerstört werden. Diese Reaktionen, genauso wie mein eigenes Erstaunen und Ungewahr sein dieser Vorfälle, motivierte mich, mehr darüber heraus zu finden und zu dokumentieren. Die Ergebnisse meiner Forschung, die Schwierigkeiten, mit denen ich zu kämpfen hatte während des Prozesses und die Erkenntnisse, die ich daraus gewonnen habe, werden in diesem Artikel vorgestellt.
2 Einleitung
Seit Beginn des 21. Jahrhunderts hat Europa eine Welle sozialer Unruhen massiven Ausmaßes erlebt (vergleiche Dikeç 2017, S. 2; Moran; Waddington 2016, S. 1; Mayer et al. 2016, S. 3f). Über die wochenlangen Ausschreitungen in den Vorstädten von Frankreich von 2005 wurde ausführlich in der internationalen Presse berichtet. Es gab unzählige Bilder von brennenden Autos. Bilder von Jugendlichen, die sich Straßenschlachten mit der Polizei lieferten. 2008 folgte Griechenland, 2011 England und 2013 passierte es in Schweden. Dies sind die Unruhen, die für diese Arbeit wichtig sind; sie stellen aber keine vollständige Liste dar. Andere kollektive Massenbewegungen fanden statt, allerdings nicht mit der Dimension an Zerstörung. Es ist eine Reaktion meist junger Menschen auf soziale Ungerechtigkeit, Stigmatisierung und Segregation (vergleiche Thörn et al. 2016, S. 8f).
Dass während dieser Unruhen Bibliotheken Ziele von Angriffen wurden, ist kaum bekannt. Die öffentliche Bibliothek als Einrichtung für die Bevölkerung, gleichzeitig aber auch als eine Institution des Staates, hat es mit ihrer Stellung in diesen Konflikten nicht leicht (vergleiche Merklen 2015, S. 539). Trotzdem scheint es abwegig, eine Institution des Wissens, welche allen zugänglich ist, in Brand zu stecken. Es hat den Anschein, als ob sich der Mensch damit nur selbst Schaden zufügt, sich etwas beraubt. Warum passiert es also trotzdem?
Diese und weitere Fragen ergaben die Forschungsfrage: Was führt dazu, dass Bibliotheken zu Angriffszielen während sozialer Unruhen werden?
Um diese komplexe, disziplinübergreifende Frage so gut wie möglich beantworten zu können, mussten die beiden Hauptthemen, die Bibliothek und die sozialen Unruhen, zusammengeführt werden. In Abschnitt 3 wird der aktuelle Forschungsstand erläutert. Im Anschluss gibt Abschnitt 4 eine kurze Übersicht über die sozialen Unruhen in Europa seit 2000. In Abschnitt 5 wird die Methodik vorgestellt, mit der die Vorfälle erarbeitet wurden, um nachfolgend auf die einzelnen Ereignisse einzugehen. Danach wird auf Vorfälle in Südafrika eingegangen, die Ähnlichkeiten mit den europäischen aufweisen (Abschnitt 6). Anschließend folgt die Diskussion (Abschnitt 7), in der die vorgestellten Ereignisse auf Parallelen und Abweichungen untersucht werden. Im abschließenden Fazit (Abschnitt 8) wird zusammenfassend auf die Fragestellung und die Schwierigkeiten eingegangen, die bei dem Versuch der Beantwortung dieser Frage aufgetaucht sind. Darauf folgt ein Ausblick auf zukünftige Forschungsfragen und Problemstellungen.
3 Aktueller Forschungsstand
Wie in der Einleitung bereits erwähnt wurde, weist die bearbeitete Themenstellung eine Lücke in der Bibliotheks- und Informationswissenschaft auf. Der einzige Artikel, der in deutscher Sprache ermittelt werden konnte, trotz intensiver Recherche, ist ein Beitrag von Denis Merklen in der Fachzeitschrift BuB (Forum Bibliothek und Information). In diesem Beitrag fasst er die Ergebnisse aus seiner 20-jährigen, sozialwissenschaftlichen Forschung zu Bibliotheksbränden in Frankreich zusammen (vergleiche Merklen 2015, S. 536–539). Das Thema wurde also in einem Bibliotheks- und Informationswissenschaftlich relevantem Medium vorgestellt, wurde aber nicht von dieser untersucht. In seinem Artikel spricht Merklen das Problem der nicht vorhandenen Debatte über die Bibliotheksangriffe an:
Es gibt Gewalttaten, die eine Flut von Stellungnahmen und große Emotionen hervorrufen. Es gibt andere, über die wird kaum geredet. So weiß ein großer Teil der Öffentlichkeit nichts von den Attacken, die seit einiger Zeit auf Bibliotheken in Frankreich verübt werden.(ebenda S. 536).
Eine Feststellung, die durch meine Nachforschungen bestätigt werden kann. Das allgemeine Schweigen zu dieser Thematik deutet auf eine Überforderung und Reaktionsunfähigkeit hin. Der vorliegende Artikel ist ein Versuch, dies zu überwinden und das Problem sichtbar zu machen, damit ein Diskurs darüber stattfinden kann.
Denis Merklen hat das Phänomen der Bibliotheksbrände über Jahre untersucht und 2013 in einem Buch veröffentlicht. In Pourquoi brûle-t-on des bibliothèques? (zu Deutsch: Warum werden Bibliotheken angezündet?) beleuchtet er einzelne Attacken und die Umstände, in denen sie vorgefallen sind. In Frankreich wurden von 1994 von 2004 74 Brandanschläge auf Bibliotheken gezählt. Die Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit (vergleiche Merklen 2013, S. 40ff). Er konnte die meisten Brände politischen Ereignissen, wie Wahlen, zuordnen. Außerdem stellte er fest, dass in mehreren Fällen die Bibliothek das alleinige Ziel der Attacken war. Keine anderen Gebäude oder Fahrzeuge wurden beschädigt. Bei den Angriffen ging es um reine Sachbeschädigung, sie fanden nie tagsüber oder während der Öffnungszeiten der betroffenen Bibliotheken statt (vergleiche Merklen 2015, S. 536f).
Die Sozialwissenschaft hat sich ausführlich mit dem Gegenstand der sozialen Unruhen in den Großstädten Europas im 21. Jahrhundert auseinandergesetzt. Der allgemeine Tenor lautet, dass die Ursache für diese Art von Massenbewegungen auf das Versagen der Politik und der neoliberalen Demokratie zurückzuführen ist (vergleiche Dikeç 2017, S. 4; Thörn et al. 2016, S. 8f). Die Autor_innen des Buches Urban Uprisings – Challenging Neoliberal Urbanism in Europe (Mayer et al. 2016) sehen ein Problem darin, dass zum einen selten Zusammenhänge zwischen Aufständen und städtebaulichen Ansätze untersucht werden und zum anderen dass die Unterscheidung zwischen sozialen Unruhen und sozialen Bewegungen für die Analyse kollektiven Handelns hinderlich ist (vergleiche ebenda 2016, S. 8). Matthew Moran und David Waddington untersuchen die Vorfälle unter dem Aspekt des Verhaltens von Gruppen. Sie stellen fest, dass in Untersuchungen von Massenverhalten oft mit veralteten und widerlegten Ansätzen gearbeitet wird (vergleiche Moran; Waddington 2016, S. 3). Mustafa Dikeç stellt, in seinem 2017 erschienen Buch Urban Rage. The revolt of the excluded (Dikeç 2017) eine wave of urban anger
(ebenda, S. 2) fest, die seit der Jahrhundertwende zunimmt. Er sagt weiter, dass die Zunahme von urbaner Aufruhr ein Indiz dafür ist, dass die liberale Demokratie daran gescheitert ist, das Problem der Segregation in Angriff zu nehmen (vergleiche ebenda, S. 4). Die sozialen Unruhen, die in Europa in den letzten Jahrzehnten stattgefunden haben, werden in der Wissenschaft als politische Handlungen wahrgenommen. Eine Vorgehensweise um auf Missstände, Ungerechtigkeit und Ungleichheit aufmerksam zu machen.
Es gibt eine deutliche Diskrepanz zwischen der Wissenschaft und der Presse. Um die Ausschreitungen in England als Beispiel zu nehmen: Der Guardian hat eine Fotostrecke der Titelblätter diverser Zeitungen zusammengestellt, die über die Ereignisse berichtet haben. Die Schlagzeilen reichen von Flaming Morons. Thugs and thieves terrorise Britain’s streets
bis zu mob rules
(the Guardian 2011, o.S.).
Ein weiteres relevantes Wissenschaftsgebiet ist die Stadtsoziologie, welche ein Spezialgebiet innerhalb der Sozialwissenschaft ist. Die Stadtsoziologie untersucht Strukturen innerhalb der Städte und ihrer Bevölkerung. Die Problematik der sozialen Unruhen wird oft in Zusammenhang gebracht mit städtebaulichen und deren strukturellen Konzepten. Das stadtpolitische Programm, la politique de la ville, welches entwickelt wurde, um den Problemen in den französischen Vorstädten zu begegnen, ist Gegenstand verschiedener Untersuchungen. Mustafa Dikeç beschäftigt sich in seinem 2007 erschienen Buch Badlands of the Republic: Space, Politics and Urban Policy spezifisch mit der Problematik des stadtpolitischen Programms (vergleiche Dikeç 2007) und auch deutsche Wissenschaftler_innen haben sich damit auseinandergesetzt. In dem im Jahr 2016 erschienenen Buch Fraktale Metropolen. Stadtentwicklung zwischen Devianz, Polarisierung und Hybridisierung gehen sie eingehend auf diese Thematik ein und erläutern deren Schwachpunkte und Auswirkungen (vergleiche Weber; Kühne (Hrsg.) 2016).
4 Soziale Unruhen in europäischen Großstädten des 21. Jahrhunderts
Die hier besprochenen Unruhen (Frankreich, Griechenland, England und Schweden) fanden, mit der Ausnahme von Griechenland, in Vorstädten mit “armer” Bevölkerung statt. Die Jugendarbeitslosigkeit ist hoch, ein großer Anteil der Bevölkerung sind Menschen mit so genanntem Migrationshintergrund oder Ausländer_innen. Dennoch ist die Diversität in den betroffenen Stadtteilen hoch, da sie aus Gruppen verschiedenster Herkunftsländer bestehen (vergleiche Musterd 2005, S. 332). Die Infrastruktur ist meistens schlecht und die Wohnkomplexe weisen Mängel und dringenden Renovationsbedarf auf. Die räumliche Trennung der Bürger_innen von der restlichen Stadt wird oft durch die städtebaulichen Konzepte der Viertel verstärkt (vergleiche Weber 2016, S. 29). Allerdings dürfen auch Vorgänge wie die Gentrifizierung von Stadtteilen nicht vergessen werden, da sie zur städtischen Segregation beitragen (vergleiche Thörn et al. 2016, S. 7).
Hinzu kommt, dass in den betroffenen Stadtteilen die Polizeipräsenz hoch ist. Grundlose Personenkontrollen und rassistisches Verhalten seitens der Polizei sind keine Seltenheit, zum Beispiel die Kontrolle von Menschen auf Grund ihres ausländischen
Aussehens (vergleiche Thörn 2013, S. 54f). So waren die Auslöser, nicht zu verwechseln mit der Ursache, für die Unruhen allesamt Polizeieinsätze mit Todesfolge. Unmittelbar vor jedem der vier vorgestellten Ereignisse kam mindestens ein Mensch durch Eingriff der Polizei ums Leben. In Paris sind zwei Jugendliche gestorben, die vor der Polizei geflüchtet sind. In Athen wurde ein Junge von der Polizei erschossen, weil er zur falschen Zeit am falschen Ort war. In London wurde ein Mann erschossen, weil der Verdacht auf Waffenbesitz bestand. In Stockholm wurde ein Mann während seiner Verhaftung erschossen. Die Aufstände brachen oft nicht unmittelbar nach dem Auslöser aus und wenn, dann flachten sie nach kurzer Zeit wieder ab, erst ein zweites Ereignis, auch im Zusammenhang mit der Polizei, führte zu langanhaltenden (manchmal wochenlangen) Ausschreitungen (vergleiche Mucchielli 2016, S. 136; Sernhede 2014, S. 82; Slater 2016, S. 124).
5 Die Bibliothek als Angriffsziel
5.1 Methodik
Für die Erarbeitung dieses Themas wurden Quellen in schriftlicher Form verwendet. Diese bestehen aus Fachbüchern, Zeitschriftenartikeln, fachrelevanten Webseiten, Zeitungsberichten und dem persönlichen E-Mail-Verkehr mit Expert_innen. Da der Erforschung von Angriffen auf Bibliotheken während sozialer Unruhen des 21. Jahrhunderts bisher kaum Beachtung geschenkt wurde, ging der schriftlichen Arbeit eine intensive Recherche voraus. Um mehr Details zu den einzelnen Bibliotheksangriffen und deren Umstände zu erfahren, wurden Expert_innen in verschiedenen Ländern per E-Mail angeschrieben. Es bestand Kontakt zu Wissenschaftler_innen folgender Länder: England, Griechenland und Schweden, sowie zu Bibliotheksmitarbeiter_innen in England und Schweden. Ferner konnte ein Fotograf in England wichtige, erste Hinweise zu dem Bibliotheksbrand in Salford (Manchester) liefern (persönliche Korrespondenz mit Joel Goodman vom 23.07.19).
Die im nächsten Kapitel besprochenen Vorfälle wurden unter dem Aspekt der Umstände, des Zeitpunkts, der geographischen Lage und der Sichtbarkeit ausgewählt. Die Umstände beziehen sich klar darauf, dass der Angriff auf die Bibliothek während sozialer Unruhen passiert sein muss, um in diese Arbeit Einzug zu erhalten. Für den Zeitpunkt wurde festgelegt, dass nur die Ereignisse aus der jüngeren Vergangenheit berücksichtigt werden. Dies ergab, dass sich die Untersuchung auf Vorfälle ab dem Jahr 2000 konzentriert. Die geographische Lage wurde auf Europa eingeschränkt. Durch die Beispiele ist ersichtlich, dass Angriffe auf Bibliotheken kein Phänomen eines spezifischen Landes sind, sondern gesamteuropäisch auftreten. Während der Recherche wurden auch Fälle von Anschlägen auf Bibliotheken außerhalb Europas entdeckt. Die Sichtbarkeit bezieht sich auf den praktischen Grund der Auffindbarkeit. Es konnte nicht ermittelt werden, ob lokal und ereignisbezogen noch mehr Bibliotheken betroffen waren, wenn darüber nicht in (online) verfügbaren Medien berichtet wurde.
5.2 Die ermittelten Ereignisse
5.2.1 Paris – Frankreich – 2005
Die am besten dokumentierten Anschläge auf Bibliotheken finden sich in Frankreich. Der Soziologe Denis Merklen hat das Phänomen der Bibliotheksbrände über Jahre analysiert. Allein im Jahr 2005 wurden in den Wochen während der Unruhen 34 Bibliotheken angezündet. Allerdings ist dies nur die sichtbarste, die symbolischste und die spektakulärste Manifestation einer konfliktreichen und komplexen Beziehung zwischen den Bibliotheken und ihren Stadtvierteln
(Merklen 2015, S. 537).
Viel öfter kommt es vor, dass in Bibliotheken eingebrochen wird, um diese zu verwüsten, etwas zu stehlen oder dass die Fenster mit Steinen beworfen werden (vergleiche ebenda). Viele Bibliotheken wurden in Frankreich in Mediatheken (Médiathèque) umgerüstet und umbenannt, um einen elitären Graben
zu vermeiden. In den Mediatheken wurden – abgesehen von Büchern – Filme, Musik und das Internet integriert, da diese Medien als populärer
gelten (vergleiche Merklen 2013, S. 26). Für die vorliegende Arbeit wurde eine Bibliothek exemplarisch herausgegriffen, die Médiathèque Gulliver in Saint-Denis. Sie steht für viele weitere Bibliotheken in Frankreich.
Ausgelöst wurden die Unruhen vom November und Dezember 2005 durch einen Vorfall in der Siedlung cité du Chêne pointu, im Ort Clichy-sous-Bois im Nordosten von Paris. Auf der Flucht vor einer der häufigen, willkürlichen Polizeikontrollen versteckten sich drei Jugendliche in einem Umspannwerk. Zwei erlitten dabei tödliche Stromschläge, der Dritte wurde schwer verletzt (vergleiche Dikeç 2006, S. 159). Nachdem die Polizei eine Tränengasgranate in den Eingangsbereich einer Moschee warf (vergleiche Mucchielli 2016, S. 136), gab es über mehrere Wochen Ausschreitungen zwischen jungen Erwachsenen und der Polizei.
Die eingangs erwähnte Médiathèque Gulliver befindet sich in dem Ort Saint-Denis, nördlich von Paris, im Quartier Floréal. Die Bibliothek wurde im Juni 2004 eröffnet. Sie wurde im Rahmen einer Quartierentwicklungsmaßnahme gebaut. Teile der vorhandenen Großwohnsiedlung, die cité de La Saussaie, wurden abgerissen, um Raum zu schaffen für neue, kleinere Häuser, mehr Straßen, Grünflächen und die bereits genannte Bibliothek Médiathèque Gulliver (vergleiche Merklen 2013, S. 154). Nach Abschluss des Projekts konnten viele Mieter_innen nicht zurückkehren, da der Wohnraum weniger und die Mieten teurer geworden waren. Die Bibliothek liegt in der Mitte des Stadtteils. Durch die bunte Fassade hebt sich die Bibliothek deutlich von der sonst grauen Umgebung ab und ergibt einen auffallenden Kontrast zu den restlichen Gebäuden (vergleiche ebenda S. 43).
Im Viertel Floréal, genauso wie in den anderen Nachbarschaften, in denen Bibliotheken angegriffen wurden, leben Menschen und Familien, für die es immer beschwerlicher wird ihre Lebensunterhaltskosten durch Arbeit zu decken und die somit gezwungen sind die Hilfe des Staates in Anspruch zu nehmen. Die Bibliotheken agieren an Orten, die politisch isoliert, sozial vernachlässigt sind und gewalttätige Strukturen aufweisen (vergleiche Merklen 2015, S. 539).
Die Médiathèque Gulliver wurde mehrmals gezielt angegriffen. 2004 wurden die Fenster des Lesesaals zertrümmert, Computerarbeitsplätze zerstört und Geräte entwendet. Knapp ein Jahr später, im Oktober 2005, wurde die mittlerweile ersetzte Ausstattung erneut gestohlen. Nach diesem Zwischenfall wurde in der Bibliothek ein Wachschutz eingesetzt. Das Wachpersonal löschte dann auch den Brand, ausgelöst durch einen Molotow-Cocktail, in der Nacht vom 5. auf den 6. November 2005 (vergleiche Zit. n. Merklen 2013, S. 45).
5.2.2 Athen – Griechenland – 2008
Griechenland erlebte im Dezember 2008 eine Revolte in einem seit der Absetzung des Militärregimes und dem daraus erfolgten Übertritt in die Demokratie 1974 nicht dagewesenen Ausmaß (vergleiche Dikeç 2017, S. 156).
Am Abend des 6. Dezembers 2008 gerieten zwei Polizisten in einen Streit mit Jugendlichen. Einer der Polizeibeamten eröffnete anschließend das Feuer auf eine Gruppe unbeteiligter Jugendlicher und ein 15-jähriger Schüler starb auf der Stelle (vergleiche Kanellopoulos 2012, S. 173). Daraufhin entbrannten landesweite Ausschreitungen, die drei Wochen anhielten.
Die spontanen Ausschreitungen wurden am Tag nach der Tat mit einer Demonstration durch die Stadt fortgesetzt, die in Straßenschlachten mit der Polizei, der Zerstörung von Bankfilialen und öffentlichen Gebäuden endete. Die Ausschreitungen griffen auf Städte in ganz Griechenland über. Viele Schüler_innen beteiligten sich an den Protesten, da sie sich mit dem 15-jährigen Opfer identifizierten. Außerdem wurden Universitäten besetzt, hauptsächlich von Studierenden, linken politischen Gruppen und Anarchist_innen. Es gab auch beteiligte Gruppen, die man als militant bezeichnen kann. In Athen betraf dies die Polytechnic School, the School of Economics und the Law School (vergleiche Kanellopoulos 2012, S. 174f).
Eine Besonderheit dieser sozialen Unruhen war, dass sie klassen- und herkunftsübergreifend Menschen vereinte. Gemeinsame Sorgen wie Arbeitslosigkeit und daraus resultierende Existenzängste brachte Menschen verschiedener Gesellschaftsschichten zusammen und die geteilte Erfahrung von Polizeiwillkür vereinte junge Einheimische mit Immigrant_innen der zweitenGeneration (vergleiche Dikeç 2017, S. 169).
Über den Brand, der die Bibliothek für Europäisches Recht zerstörte, ist in offiziellen Quellen kaum etwas zu finden. Der erste Hinweis fand sich auf Wikipedia in dem Artikel über die Aufstände in Griechenland (vergleiche Wikipedia). Aufgrund dieses Hinweises versuchte ich mehr über den Vorfall heraus zu finden, was erfolglos blieb. Da in der Recherche zu den Unruhen in Griechenland gewisse Autor_innen häufiger auftauchten, wurde versucht mit diesen in Kontakt zu treten. Durch die Korrespondenz mit einem Wissenschaftler, der sich in seiner Forschung intensiv mit den Unruhen in Griechenland auseinandersetzt, konnte Näheres zu der Einrichtung in Erfahrung gebracht werden.
Die niedergebrannte Bibliothek für Europäisches Recht befindet sich in der Nähe zur Juristischen Fakultät (Law School), welche zum Zeitpunkt der Unruhen besetzt war, im Zentrum von Athen. Sie liegt an einer der Hauptstraßen, durch die die meisten Demonstrationen gingen. Hier kommt es öfter zu gewalttätiger Auseinandersetzung zwischen Protestierenden und der Polizei. Die Juristische Fakultät nutzt einige Stockwerke des betroffenen Gebäudes, um die Bibliothek für Europäisches Recht unterzubringen (persönliche Korrespondenz mit Anonymisiert vom 10.09.19). Es konnte nicht erschlossen werden, ob es sich um einen gezielten Angriff auf die Bibliothek handelte oder ob das Gebäude im allgemeinen als Ziel galt. Das ausgerechnet die Bibliothek für Europäisches Recht zum Opfer der Flammen wurde, hat einen hohen Symbolgehalt im Zusammenhang mit den Ursachen der Unruhen, allerdings wären weitere Ausführungen in diese Richtung reine Spekulation. Um Genaueres über die Umstände und Absichten erfahren zu können, müsste man direkt mit den involvierten Personen sprechen, was außerhalb der Möglichkeiten liegt.
5.2.3 Manchester – England – 2011
Anfang August 2011 wurde ein Mann während eines Polizeieinsatzes erschossen. Der 29- Jährige war auf dem Weg nach Hause, in die Broadwater Farm Housing Estate in Tottenham, London. Diese Großwohnsiedung, die hauptsächlich aus Sozialwohnungen besteht, ist seit Ausschreitungen in Mitte der 1980er Jahre stark stigmatisiert (vergleiche Slater 2016, S. 124). Es wurde von Seiten der Polizei vermutet, dass das spätere Opfer eine Waffe trug. Die Umstände, wie es zum Tod des Mannes kam, waren unklar. Die Polizei gab falsche Informationen an die Presse und versäumte es, ein aufklärendes Gespräch mit seiner Familie zu führen.
Dass ein junger, schwarzer Mann von der Polizei getötet wurde, war der Auslöser für die Aufstände, dass sie aber ein solches Ausmaß annahmen, hat noch andere Gründe. Es ist wahrscheinlicher, dass man von der Polizei angehalten und durchsucht wird, wenn man nicht-weiß ist. Die Polizeipraktiken weisen aber noch auf ein anderes Problem hin: Die willkürliche und drastische Machtausübung durch die Polizei betrifft alle Menschen, hauptsächlich Jugendliche, egal welcher Hautfarbe (vergleiche Dikeç 2017, S. 59). Es scheint so, als ob durch diese geteilte, kollektive Erfahrung die Ausweitung der Ausschreitungen möglich war. Eine der betroffenen Städte, nach London, war Manchester.
In Salford, einem Vorort von Manchester, fielen die Proteste vergleichsweise kurz aus. Am Nachmittag und Abend des 9. August 2011 gab es im Zentrum der Ortschaft, rund um ein Shoppingcenter, Ausschreitungen und Plünderungen. Obwohl sich die wirtschaftliche Lage in Salford über die letzten 20 Jahre verbessert hat, ist das betroffene Gebiet von hoher Arbeitslosigkeit, Armut (die Kinderarmut liegt bei fast 75 %) und Ungleichheit gezeichnet. Die Investitionen, die in dieser Gegend getätigt wurden, kamen nicht der Bevölkerung zugute (vergleiche Morrell et al. 2011, S. 19).
Die ersten Hinweise, dass auch bei diesen Ausschreitungen eine Bibliothek betroffen war, fanden sich in einem Zeitungsartikel des Guardian (vergleiche Lewis 2011, o.S.). Weitere Nachforschungen führten mich auf die Webseite des Fotografen Joel Goodman, der die Ausschreitungen dokumentierte (vergleiche Goodman 2013, o.S.). Auf Anfrage konnte er mir den Namen und die Lage der Bibliothek mitteilen (persönliche Korrespondenz mit Joel Goodman vom 23.07.19). Betroffen war die Broadwalk Bibliothek, die zu diesem Zeitpunkt keine aktive Bibliothek mehr war. Durch den Kontakt zu einem Bibliothekar vor Ort konnten einige Details in Erfahrung gebracht werden. Die Bibliothek wurde 2010 geschlossen. Das Gebäude wurde aber weiterhin von den Salford Community Libraries genutzt. Es beherbergte den Kundenservice, die Fernleihe und hier wurden alle neuen Bücher angeliefert, bevor sie in die entsprechenden Bibliotheken gesendet wurden. Außerdem nutzte die Stadt die ehemalige Bibliothek als Archiv für ihre Bücher (persönliche Korrespondenz mit Stephen Keefe vom 09.09.19). Es wird von einem Verlust von tausenden Büchern gesprochen (vergleiche Dadson 2012, S. 5).
Die Bibliothek befand sich in unmittelbarer Nähe zum Shoppingcenter, welches das Hauptziel der Ausschreitungen und Plünderungen war. Es konnte nicht festgestellt werden, ob die Bibliothek ein zufälliges oder bewusstes Ziel war. Von Seiten der Mitarbeiter_innen vor Ort wird die Vermutung geäußert, dass die Bibliothek als Ziel ausgesucht wurde, weil es sich dabei um ein öffentliches (Staats-)Gebäude handelt (persönliche Korrespondenz mit Stephen Keefe vom 09.09.19). Die Broadwalk Library befindet sich nun in einem neuen Gebäude, unweit des alten Standortes und trägt den Namen Pendleton Library. Sie wurde in das sogenannte Gateways Konzept eingegliedert. Dieses Konzept beinhaltet, dass verschiedene Dienstleistungen des Staates an einem Ort zu finden sind (persönliche Korrespondenz mit Stephen Keefe vom 10.09.19).
5.2.4 Stockholm – Schweden – 2013
Die Unruhen in Stockholm wurden durch die Tötung eines Mannes während eines Polizeieinsatzes ausgelöst. Am 13. Mai 2013 wollte die Polizei im Stadtteil Husby einen 69- jährigen Mann in seiner Wohnung festnehmen, da sein Verhalten bedrohlich erschien. Während dieses Einsatzes wurde der Mann erschossen. Anwohner_innen und die ortsansässige soziale Organisation Megafonen versammelten sich und verlangten eine Erklärung sowie eine unabhängige Untersuchung der Ereignisse. Das erste Statement, der Polizei, dass der Mann im Krankenhaus verstarb, stellte sich als Falschinformation heraus. Nachbar_innen konnten mit einem Foto beweisen, dass der Mann tot aus seiner Wohnung gebracht wurde. Die Anwohner_innen sahen das Verhalten der Polizei als von offizieller Seite geduldete Diskriminierung an, welche sich mit ihrem Alltagserleben deckt (vergleiche Sernhede 2014, S. 81f).
Über die nächsten Tage wuchsen die Spannungen, bis, sechs Tage später, Jugendliche anfingen Fahrzeuge anzuzünden. Die Auseinandersetzungen breiteten sich auf andere Viertel in Stockholm und im Laufe der Woche auf weitere Großstädte in Schweden aus (vergleiche ebenda S. 82).
Entscheidend ist dabei, dass die Urbanisierung in ihrer derzeitigen Form eine tiefe rassistische Komponente hat – die Stockholmer Innenstadt ist zu einer durchgehend gentrifizierten Enklave für die weiße Mittel- und Oberklasse geworden, während die ärmsten Vororte zunehmend nicht-weiß sind.(Thörn 2013 S. 51).
Husby ist einer dieser Vororte. Rassismus und Polizeigewalt sind Dauerthemen. So war dann auch die Polizei eines der Hauptziele während der Unruhen. Andere Ziele waren größtenteils Autos und einige Gebäude, die angezündet wurden. Während dieser Zeit wurde auch die Stadtteilbibliothek von Husby attackiert. Sie wurde nicht in Brand gesetzt, allerdings wurden alle Scheiben eingeschlagen. Eine intensive Recherche ergab nur eine Randnotiz in zwei Artikeln, erstaunlicherweise aber mit Fotos der Bibliothek, von Reuters (vergleiche Filkz; Shanley 2013, o.S.) und dasselbe bei BBC (vergleiche Evans 2013, o.S.).
Durch eine Anfrage an Professor Ove Sernhede, der mehrere Publikationen zum Thema der sozialen Unruhen in Schweden veröffentlicht hat, konnte ein Kontakt zu einem anderen Wissenschaftler, Dr. René León Rosales, hergestellt werden. Dieser ist in Stockholm ansässig, kennt den betroffenen Stadtteil Husby gut und hat sich auch mit den Ereignissen und im speziellen der Rolle von sozialen Bewegungen und Jugendorganisationen auseinandergesetzt (vergleiche Ålund; Rosales 2017, S. 123). Mit seiner Hilfe konnte wenigstens in Erfahrung gebracht werden, um welche Bibliothek es sich handelt und wo sie sich genau befindet (persönliche Korrespondenz mit René León Rosales vom 01.08.19). Die Bibliothek ist ein Teil des Bürgerhauses in Husby und wurde laut offizieller Webseite im März 2013, nach der Renovierung der Räumlichkeiten, neu eröffnet (vergleiche Husby bibliotek 2019, o.S.). Ob die Neueröffnung in Zusammenhang mit der Attacke zwei Monate später stand, konnte nicht in Erfahrung gebracht werden. Es wurde auch nicht klar, ob die Attacke dem Bürgerhaus im Allgemeinen galt, oder ob die Bibliothek ein bewusstes Ziel war.
6 Südafrika
Erwähnenswert an dieser Stelle sind die (Brand-)Anschläge während sozialer Unruhen auf Bibliotheken in Südafrika. Parallelen zu den Angriffen in Europa sind nicht von der Hand zu weisen. Von 2009 bis 2013 wurde von einem unabhängigen Politik-Blog 15 Brandanschläge auf Bibliotheken während sozialer Unruhen gezählt. Es wird darauf hingewiesen, dass dies nur die Vorfälle sind, die in den Medien auffindbar waren und es handelt sich nur um die Brandanschläge. Andere Arten von Angriffen, wie Einbruch und Vandalismus, wurden nicht mitgezählt (vergleiche van Onselen 2013, o.S.). Auch hier konstatiert der Autor, wie Denis Merklen in seiner Untersuchung, das auffällige Schweigen von Seiten der Presse und der Regierung (vergleiche ebenda).
Der Autor führt weiter aus, dass die vielen Brandanschläge auf Bibliotheken auf die (fehlgeleitete) Politik zurückzuführen seien. Die politischen Anführer würden Unwissenheit fördern und haben kein Interesse daran, Orte der Ideen und des Wissens zu unterstützen und zu schützen. Systematisch wird die Relevanz von Bibliotheken und Wissenseinrichtungen untergraben (vergleiche ebenda). Die Aussagen von Protestierenden unterscheiden sich auch nicht von denen in Frankreich. Es wird davon gesprochen, dass man von der Regierung gesehen werden möchte und deswegen öffentliche Gebäude anzündet (vergleiche ebenda).
In dem Artikel Burning Libraries for the People: Questions and Challenges for the Library Profession in South Africa spricht der Autor Peter Lor von Post-Apartheid Library Burnings
(Lor 2013, S. 360). Viele der Proteste werden als service delivery protests
(ebenda S. 361) bezeichnet. Lor stellt eine Zusammenfassung der Untersuchungen vor, die zu den Unruhen gemacht wurden. Aus dieser geht hervor, dass die beteiligten Wissenschaftler_innen die gleichen Hintergründe für die Proteste identifiziert haben wie ihre Kolleg_innen in Europa: grundlegende Ursachen wie Arbeitslosigkeit und Armut, schlechte örtliche Regierung, folglich unzureichender Zugang zu Leistungen des Staates und die daraus resultierenden politischen Spannungen (vergleiche ebenda S. 364).
Es wird darauf hingewiesen, dass die Bibliothek als Symbol der Unterdrückung wahrgenommen wird und deshalb die Wut der Protestierenden auf sich zieht (vergleiche ebenda S. 360). Der Artikel untersucht die Auswirkungen der Brände auf das Bibliothekswesen anhand einer Inhaltsanalyse von Aussagen und Kommentaren, die auf der Webseite von LIASA (Library and Information Association of South Africa) gepostet wurden. Es wird hervorgehoben, dass von Verbandseite weder eine zeitnahe, professionelle Stellungnahme zu den Vorfällen abgegeben wurde, noch weitere Untersuchungen angestrebt wurden (vergleiche ebenda S. 365f).
Auch nach 2013 sind Anschläge auf Bibliotheken in Südafrika ein Mittel zur Äußerung von Ungerechtigkeit und Ungleichheit. Während der Studierendenproteste von 2016, gegen die angekündigte Erhöhung von Studiengebühren, wurden weitere Bibliotheken Opfer von Brandstiftung. Die Brände sollen auch den Unmut ausdrücken über die immer noch bestehende Ungleichheit zwischen schwarzen und weißen Studierenden in Südafrika (vergleiche Powell 2016, o.S.).
7 Diskussion
Werden die Attacken auf die Bibliotheken der vier vorgestellten Ereignisse betrachtet, können nur zwei sichere Parallelen gezogen werden. Zum einen der Umstand, dass sie während sozialer Aufstände angegriffen wurden. Das war der Hauptgrund, warum sie in diese Arbeit Einzug erhalten haben. Die zweite Parallele ist das weitgehende Schweigen über die Bibliotheksangriffe in der Öffentlichkeit und der Fachwelt.
Denis Merklen hat dieses Phänomen in Frankreich untersucht. Er hat das Schweigen in verschiedenen Gruppen ausgemacht. Die erste Gruppe, die nach einem Angriff auf eine Bibliothek schweigt, sind die Verursacher_innen selbst. Es gibt keine Stellungnahme oder anderen Kommentar, die den Sinn des Geschehenen erklären würde. Darauf folgt das Schweigen der Politik und der Presse. Ein öffentlicher Diskurs über Angriffe auf Bibliotheken findet nicht statt. Merklen merkt auch an, dass dieser Thematik in den Sozialwissenschaften zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird (vergleiche Merklen 2015, S. 537). Wie schon in dieser Arbeit erwähnt wurde, findet dieses Thema auch innerhalb der internationalen Bibliothekswelt kaum Resonanz. Es scheint, als ob das Unvermögen, auf eine Tat wie diese zu reagieren, auch die Diskussion darüber im Keim erstickt. Es sollte aber ein Diskurs darüber stattfinden, um Erklärungen dafür zu finden, um diesen Vorfällen begegnen und im besten Fall vorbeugend agieren zu können.
Die Untersuchung hat gezeigt, dass Unterschiede zahlreicher sind als Parallelen. Über Merkmale, wie zum Beispiel die Fassade oder das Gebäude an sich, konnten keine Gemeinsamkeiten festgestellt werden. Dies kann im Einzelfall ein Grund sein, warum eine Bibliothek als Ziel ausgesucht wird, es scheint aber keine allgemeingültige Motivation zu sein. Abgesehen von den untersuchten Brandanschlägen in Frankreich konnten auch keine weiteren Aussagen oder Hinweise darauf gefunden werden, dass die Attacken auf Bibliotheken in ihrer Funktion als Wissensinstitution galten. Dies kann allerdings auch den Kapazitäten und dem Umfang dieser Arbeit geschuldet sein. Auf diese Problematik wird im Fazit noch näher eingegangen. Auch dass Bibliotheken gezielt als einziges Gebäude ausgesucht wurden, wie es Merklen in Frankreich feststellte, kann bei den vorliegenden Beispielen, außer bei der Bibliothek in Frankreich, nicht bestätigt werden, da die entsprechenden Aussagen dafür fehlen.
Öffentliche Gebäude, zu denen Bibliotheken zählen, sind oft Ziele der Zerstörung während Ausschreitungen. Die sozialen Unruhen des 21. Jahrhunderts richten sich gegen einen Staat, der darin versagt hat, Teile der Gesellschaft zu unterstützen und gleichberechtigt zu behandeln. Es scheint der Fall zu sein, dass die Bibliothek in einer Konfliktsituation wie dieser zwischen Bürger_innen und dem Staat steht und somit als staatliche und feindliche
Einrichtung angesehen wird. Die Bibliothek als eine öffentliche Einrichtung für die Nachbarschaft, gleichzeitig aber auch Teil des Staates, hat eine herausfordernde Stellung in diesen Konflikten (vergleiche Merklen 2015, S. 537). Demnach würde allerdings der repräsentative Charakter der Bibliothek, als Gebäude und Institution, wieder in den Mittelpunkt rücken.
Die Macht der Nationalstaaten architektonisch zu materialisieren, erscheint nun heute und besonders hierzulande anmaßend. Ein Bibliotheksneubau lässt genau an dieser Stelle einen Spielraum zum Ausdruck der immateriellen Stärke – in Form von Wissen und Kultur.(Goldberg 2015, S. 11).
Dies könnte dazu beitragen, dass die Bibliothek mit ihren Angeboten, trotz ihres öffentlichen Charakters, in den Augen der Protestierenden nicht zugänglich für sie ist. Olaf Eigenbrodt beschäftigt sich in einem Artikel mit der Frage, wie eine Stadt in der Wissensgesellschaft aussieht und welche Bibliotheken sie braucht (vergleiche Eigenbrodt 2007, o.S.). Er äußert sich zu öffentlichen Räumen, zu denen er klar auch die Bibliothek zählt, folgendermaßen:
Solche niedrigschwelligen Angebote wirken zwar einerseits der Segregation entgegen und verschaffen Menschen Zugang zu Informationen und Kommunikationsmöglichkeiten, den sie sonst nicht hätten, sind aber auch immer die Orte, an denen gesellschaftliche Friktionen und Spannungen offensichtlich werden. Zudem muss immer gefragt werden, ob solche Räume nicht im Wesentlichen dem Wunschdenken politisch sozialliberal ausgerichteter Angehöriger der Mittelschicht entspringen. Die Schaffung so genannter soziokultureller Zentren z. B. ist oft genug ein wesentlicher Antrieb der Gentrification, die dann in den benachbarten Wohngebieten stattfindet. Die Angebote dieser Zentren sind häufig nur für diejenigen interessant, die sie gestalten.(vergleiche ebenda).
Die Spannungen, die sich in öffentlichen Räumen, speziell auch Bibliotheken, offenbaren, spricht auch Denis Merklen an. Die Umbenennungen von Bibliotheken zu Mediatheken in Frankreich, um einen elitären Graben
zu vermeiden (vergleiche Merklen 2013, S. 26), deuten darauf hin, dass Bibliotheken von gewissen Gesellschaftsgruppen als nicht zugänglich oder nicht für sie bestimmte Einrichtungen angesehen werden.
Durch die Brandstiftung Schrecken hervorrufen, versuchen, Aufmerksamkeit darauf zu lenken, dass der Lebensraum dieser Viertel auch ein Teil des Lebensraums aller ist, versuchen, etwas von dem(Merklen 2015, S. 538).Heiligenzu treffen, dass die Bibliothek repräsentiert, um verständlich zu machen, dass die Lage ernst ist, darin liegt vielleicht ein Teil des Sinns dieser Akte.
Ein primärer Grund für die Attacken scheint die Sichtbarkeit zu sein. Menschen, die sich übergangen, ignoriert und ungerecht behandelt fühlen, versuchen auf ihre Lage aufmerksam zu machen. Oft sind sozialen Unruhen kollektive Aktionen und Anstrengungen einzelner Gruppen vorausgegangen. Diese wurden von offizieller Seite nicht beachtet oder es wurde nicht angemessen darauf reagiert (vergleiche Sernhede 2014, S. 84f).
Ob (fehlende) Angebote der Bibliothek, nicht oder nur wenig vorhandene Diversität des Bibliothekspersonals und die daraus resultierende Schwierigkeit, sich mit der Institution zu identifizieren, Gründe für einen Bibliotheksangriff sind, konnte in der nötigen Tiefe in dieser Arbeit nicht untersucht werden. Deshalb werden hier auch keine weiteren Vermutungen angestellt. Dennoch sind es die Themen wert, auch im Zusammenhang mit der vorliegenden Thematik weiter untersucht zu werden.
Ebenfalls relevant wäre die Untersuchung der Rolle und Wirkung des Wachpersonals, das häufig in Bibliotheken eingesetzt wird. Eventuell würde die Untersuchung dieser Frage aufschlussreiche Ansätze bezüglich der Offenheit der Bibliothek aus der Perspektive der potentiellen Nutzer_innen ergeben und gegebenenfalls eine weitere Lücke in den Diversitätsbemühungen der Bibliotheken schließen.
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die Analyse der vier hier untersuchten Angriffe auf Bibliotheken während sozialer Unruhen ergeben hat, dass es doch wenige nachweisbare Parallelen zwischen den einzelnen Fällen gibt. Es ist deutlich geworden, dass die Bibliothek als Symbol eine Angriffsfläche bietet und dass die Bibliothek in Ausnahmezuständen nicht als Verbündete, sondern eher als eine Institution der Gegenseite wahrgenommen wird. Der Umstand, dass Ausschreitungen und soziale Bewegungen zugenommen haben, sollte zum Anlass genommen werden, die Rolle der Bibliothek in diesem Szenario eingehend zu untersuchen.
8 Fazit und Ausblick
Der Umstand, dass die Erforschung des vorliegenden Themas quasi noch nicht erfolgt ist, ermöglichte Ereignisse in einen Zusammenhang zu stellen, der so noch nicht vorhanden war. Es bedeutete aber auch, dass kaum eine Möglichkeit darauf bestand, auf geeignete, bereits existierende Forschungsliteratur zurückzugreifen.
Im Laufe des Arbeitsprozesses zeigte sich, dass nicht nur das Fehlen von passender Fachliteratur eine Schwierigkeit darstellt, sondern auch die limitierten Ressourcen. Um mehr und genauere Informationen über die einzelnen Vorfälle zu erfahren, müsste die Möglichkeit bestehen, mit den Akteuren und den betroffenen Bibliotheksmitarbeiter_innen unmittelbar in Kontakt zu treten sowie die Geschehnisse vor Ort im städtischen und gesellschaftlichen Zusammenhang erschließen zu können und dies am besten so zeitnah wie möglich nach einem solchen Ereignis. Beweggründe aus der Entfernung und ohne persönlichen Kontakt zu involvierten Personen zu ermitteln, ist ein schwieriges, wenn nicht sogar unmögliches Unterfangen und liefert keine befriedigenden Erkenntnisse.
Der gesellschaftliche Kontext, in dem sich die Forschungsfrage bewegt, konnte weitestgehend erläutert werden. Die Ursprünge der sozialen Unruhen können, grob gesagt, auf politisches Versagen in Fragen der Gleichbehandlung und ihren Begleiterscheinungen wie Segregation, Rassismus und Stigmatisierung zurückgeführt werden. Die Tatsache, dass Bibliotheken Opfer von Anschlägen während sozialer Unruhen in Europa werden scheint an deren Symbolcharakter sowie ihrem Status als staatliche Institution zu liegen. Hier wäre es in einer weiterführenden Untersuchung interessant zu erforschen, warum dies zum Beispiel in den USA, so weit bekannt, nicht passiert.
Es scheint weitestgehend bewiesen zu sein, dass die Bibliothek selten, aber nicht nie, in ihrer Funktion als Wissensinstitution angegriffen wird. Mit Gewissheit kann dies allerdings erst gesagt werden, wenn die Vorfälle tiefgreifend und umfassend untersucht werden, wie es Denis Merklen in Frankreich vorgemacht hat.
Aus bibliotheks- und informationswissenschaftlicher Perspektive wäre es wünschenswert, wenn diese Thematik Einzug in die aktuelle Debatte sowie Forschung erhält. Könnte es doch hilfreich sein in der Beantwortung von Fragen nach der Dringlichkeit von Diversität in Bibliotheken sowie um die Erarbeitung von Inklusionskonzepten vorantreiben. Die Zusammenarbeit mit Bürger_innen könnte neue Erkenntnisse darüber liefern, was Bibliotheken unternehmen können, um Gesellschaftsgruppen anzusprechen, welche sich bis jetzt von der Welt der Bibliotheken ausgeschlossen fühlen. Es liegt auf der Hand, dass die Bibliotheken nicht die Probleme der sozialen Ungerechtigkeit und deren Ausdruck in Form von Protesten lösen können. Trotzdem könnte die Beschäftigung mit dem Thema helfen, die Bibliothek als Institution aus einer anderen Perspektive zu betrachten und damit potenzielle Hürden zu identifizieren und zu bearbeiten.
Ein weiterer Ansatz von zukünftiger Forschung in dieser Thematik wäre der der Internationalität. Würden Wissenschaftler_innen aus den betroffenen Ländern/ Städten gemeinsam die Vorfälle untersuchen, wären Vergleiche und die Erarbeitung von Studien erfolgsversprechender, als wenn dies dezentralisiert Ortsfremde vornehmen würden. Hinzu kommt die Interdisziplinarität. Gäbe es die Möglichkeit, dieses Thema zusammen mit Sozialwissenschaftler_innen, Stadtsoziolog_innen, Politik- und Kulturwissenschaftler_innen zu erforschen, ergäbe dies ein umfassendes Gesamtbild, welches die aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen widerspiegeln würde, die wiederum die Bibliotheksarbeit beeinflussen könnten.
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