Im Rahmen meiner Bachelorarbeit an der Hochschule für Technik und Wirtschaft (HTW) Chur – heute Fachhochschule Graubünden – führte ich im Jahr 2019 eine Untersuchung von Sprachlernabteilungen in öffentlichen Bibliotheken von vier Schweizer Städten durch. Am Beispiel der untersuchten Sprachlernabteilungen zeigen sich sehr deutlich die Chancen, aber auch Mängel und Problemstellungen des Miteinanders zwischen den öffentlichen Bibliotheken und Lehre und Forschung an Universitäten und Fachhochschulen. Diese Arbeit befindet sich aktuell im Publikationsprozess und wird unter dem Titel «Nutzung der Sprachlernabteilungen in öffentlichen Bibliotheken» veröffentlicht. Die durch diese Forschungszusammenarbeit gewonnenen Erkenntnisse werden im folgenden Artikel reflektiert und vorgestellt.
Forschungslücke bei einem populären Bibliotheksangebot
Zahlreiche öffentliche Bibliotheken in der Schweiz verfügen über Sprachlernabteilungen beziehungsweise Bibliotheksbestände zum Erlernen von Sprachen. In ihrem Bestreben als öffentliche Bibliotheken, ihren Benutzerinnen und Benutzern den Zugang zu gedruckter und/oder gespeicherter Information zu bieten und ihrer Weiterbildung, Leseförderung und Unterhaltung zu dienen (Büchereiverband Österreichs o. J.), investieren die Verantwortlichen der Bibliotheken viel Leidenschaft und zahlreiche Ressourcen in den Erwerb und die Pflege eines geeigneten Bestands sowie den Aufbau sinnvoller ergänzender Angebote.
Die Evaluation des Aufwandes und der Ergebnisse dieser Bemühungen bleibt jedoch bis heute eine offene Frage, für die sich für den gesamten deutschsprachigen Raum in der bisherigen Forschungslandschaft keine Antwort findet. Es herrscht ein akuter Mangel an Fachliteratur. Dies erstaunt insofern, als dass hier in nicht unwesentlichem Ausmass öffentliche Gelder investiert werden – gemäss Erfahrungen im Rahmen der durchgeführten Studie allem Anschein nach ohne jegliche systematische Analyse, ob, von wem und wie oft die Angebote denn genutzt werden und wie effizient das Lernen mit den bereitgestellten Angeboten ist.
Es zeigt sich eine klare Lücke zwischen der Praxis, welche Sprachlernabteilungen trotz fehlender Wirksamkeits- und Interessensnachweise unbeirrt finanziell fördert und pflegt, und der Forschung, welche diesem Phänomen bislang keinerlei Aufmerksamkeit gewidmet hat und die öffentlichen Bibliotheken daher auch nicht mit den dringend erforderlichen Erkenntnissen zu Nutzen und Optimierungsmöglichkeiten zu versorgen vermag.
Die Zusammenarbeit mit den Bibliotheken
Mit der Mission, meinen Beitrag zur Schliessung dieser Lücke zu leisten, begann ich mit meiner Arbeit. Ich kontaktierte vier Bibliotheken in der deutschsprachigen Schweiz mit der Bitte, dieses Forschungsanliegen zu unterstützen. Alle vier sagten postwendend zu, weshalb davon ausgegangen werden kann, dass die Unterstützungsbereitschaft der Praxis für wissenschaftliche Forschung insgesamt hoch ist.
Die Motive für die Zusagen dürften jedoch unterschiedlich gewesen sein, was spätestens bei der Anwendung der gewonnenen Ergebnisse einen höchst entscheidenden Faktor darstellt. Manche Bibliotheken sagten zu aus aufrichtigem Interesse an wissenschaftlichem Feedback zu diesem Thema sowie um einen Vergleich ihrer Angebote zu anderen Bibliotheken zu erhalten. Andere dagegen erweckten eher den Eindruck, dass sie ausschliesslich deshalb teilnahmen, um mich als Forscher bei meinem Vorhaben zu unterstützen. Dabei handelt es sich um ein Phänomen, welches wohl in verschiedenen Forschungsfeldern auftreten dürfte. Womöglich zeigt es sich jedoch bei Bibliotheken, die sich vermutlich in ihrer tiefsten Natur als Dienstleisterinnen von Forschung und Bildung verstehen, noch verstärkt.
In der Situation als externe, nicht mit den Organisationsstrukturen vertraute Person und überdies noch in gewisser Weise als «Bittsteller», wie es bei Abschlussarbeiten häufig vorkommen dürfte, war es mir nicht möglich, zielgerichtet geeignete Ansprechpartner zu verlangen. Meine Anfrage habe ich an die für die Abteilung zuständigen Personen und, sofern diese nicht bekannt waren, an allgemeine «Info»-Mailadressen geschickt. Die Bibliotheken wiesen mir daraufhin aus ihrer Sicht geeignete Ansprechpersonen zu. Infolge der Unterschiede in der betrieblichen Organisation waren dies bei drei der vier Bibliotheken die für die Abteilung und deren Bestand zuständige Person – unter Umständen mit verschiedenen Stellenbezeichnungen und -fokussen –, in einem Fall jedoch eine übergeordnete Führungsperson. Erfahrung, Wissen, Interesse und Fokus dieser Personen unterschieden sich stark, was eine standardisierte, generalisierbare Forschung erschwert.
Auch beim inhaltlichen Umfang der Unterstützung zeigten sich grosse Unterschiede bei den verschiedenen beitragenden Bibliotheken, sowohl im «Können» als auch im «Wollen». Die Auskunftspersonen mit unterschiedlichem Erfahrungsschatz führten natürlich zu unterschiedlicher Qualität und Tiefe bei den im Rahmen der Studie durchgeführten Interviews – wenngleich ausnahmslos alle im Rahmen ihrer Möglichkeiten zweifellos sehr offen und unterstützend Auskunft gaben. Darüber hinaus verfügten die Bibliotheken auch sonst über sehr unterschiedliche Datenressourcen, welche sie teilweise zu teilen bereit waren oder dies in manchen Fällen aber auch verweigerten. Nur eine einzelne Bibliothek vermochte systematische Ausleihdaten zur Abteilung zur Verfügung zu stellen. Andere verweigerten dies aus Gründen der Vertraulichkeit oder verfügen nach eigener Aussage auf Abteilungsebene nicht über solches Datenmaterial. Somit konnte für solche aufschlussreichen quantitativen statistischen Auswertungen leider nur das Material einer einzigen Bibliothek genutzt werden, was in sich nicht repräsentativ ist. Insgesamt gab es ein geringes Bewusstsein für die Notwendigkeit von sorgfältigen und systematischen Datenerhebungen und -auswertungen.
Die zur Studie gehörende passive, teilstrukturierte Beobachtung nach Skibar (2017, S. 1–2) bewilligten alle Bibliotheken ohne Vorbehalte, sie hatten lediglich unterschiedliche Anforderungen an die Transparentmachung gegenüber ihren KundInnen. Keine der Bibliotheken war bereit, die im Rahmen der Studie durchgeführte Nutzungsumfrage bei ihren BesucherInnen aktiv zu unterstützen. Teilweise war das Auslegen von Flugblättern erlaubt, bei anderen Bibliotheken nicht einmal dies. Alle Bibliotheken lehnten ab, ihrerseits NutzerInnen anzusprechen und auf die Studie hinzuweisen. Sie erlaubten dem Forscher zwar, Personen vor Ort selbst direkt anzusprechen. Dieses Vorgehen ohne offizielle Unterstützung der Bibliothek führte allerdings zu einer gewissen Skepsis der NutzerInnen im Hinblick auf die Seriosität der Studie. Infolgedessen weigerten sich viele, an der Studie teilzunehmen. Es existierte gemäss Auskunft der AnsprechpartnerInnen nur eine einzige andere Nutzungserhebung bei KundInnen öffentlicher Bibliotheken, und dies nur zu einer bestimmten Bibliothek. Dabei handelte es sich um eine durch die Stadtbibliothek durchgeführte repräsentative Umfrage. Leider konnte mir die Bibliothek darauf keinen Zugriff gewähren.
Die öffentliche Bibliothek im Spannungsfeld der Politik
Die geschilderte Entscheidung der teilnehmenden öffentlichen Bibliotheken, die Akquise von Umfrageteilnehmenden nicht aktiv zu unterstützen, ist aber absolut verständlich mit Blick auf ihre Eigenschaft als öffentliche Institution. Aufgrund ihres Status als öffentliche Bibliotheken stehen sie im Fokus der Politik, müssen mit deren Entwicklungen und Spannungen umgehen und repräsentieren zudem Staat, Kanton und/oder Gemeinde. Das schafft das Vertrauen ihrer NutzerInnen beziehungsweise KundInnen, bringt jedoch deshalb auch eine grosse Verantwortung mit sich. Sie verfügen daher nicht über Freiheiten, welche beispielsweise Unternehmen in der Privatwirtschaft für sich in Anspruch nehmen können. Jede Zu- oder Absage, jede unterstützende Massnahme oder Umsetzung von Forschung muss gewissen Grundsätzen an Neutralität und Gleichbehandlung, aber auch der allgemeinen Stimmung in der Bevölkerung folgen. Gerät sie aus irgendwelchen Gründen in die Kritik drohen Proteste aus der Bevölkerung und unter Umständen strenge Massnahmen und Forderungen seitens unter Druck geratener Politiker. In gewisser Weise haben öffentliche Bibliotheken daher eingeschränktere Freiheiten als dies bei privatrechtlichen Institutionen der Fall sein dürfte, auch bei der Zusammenarbeit mit ForscherInnen. Auch bei Themen wie Vertraulichkeit und Datenschutz dürften die Konsequenzen bei Verfehlungen – seien diese tatsächlich oder nur von der Öffentlichkeit so wahrgenommen – aufgrund des öffentlichen Auftrags direkter und spürbarer sein als bei unabhängigen Unternehmen.
Ein weiterer Hinderungsgrund zur Unterstützung und vor allem Umsetzung von Forschung könnte an einer weiteren Eigenheit des in der Schweiz als «Service Public» bekannten Auftrags liegen: Die Gewährleistung eines Angebots «für alle». Im Personenverkehr äussert sich dies darin, dass auch schwach bewohnte Gebiete, deren Erschliessung sich zahlenmässig eigentlich nicht rechnet, angebunden werden müssen. In der Praxis des Bibliothekswesens dürfte es wohl bedeuten, dass das Budget sehr häufig gewünschter beziehungsweise benötigter Bücher, zum Beispiel Wörterbüchern Tigrinisch-Deutsch im Sprachlernalltag, trotz entsprechender Forschungsergebnisse zugunsten seltener benötigter Sprachen zurückgestellt werden muss. Warum also Forschung fördern, die man aufgrund von Widersprüchen mit dem öffentlichen Auftrag im Alltag ohnehin nicht anwenden kann?
Andererseits wäre es sicherlich zu einfach zu behaupten, dass die Bibliotheken den Wendungen der Politik machtlos ausgeliefert sind. In einer immer mehr von Daten gesteuerten Welt liegt es an ihnen, der Politik mithilfe der entsprechenden Datenbasis auch im Sinne eines Bottom-up-Ansatzes selbstbewusst deutlich zu machen, was von der Bevölkerung gebraucht und gewünscht wird und wie die Prioritäten zu setzen sind. Allzu oft werden die Top-down-Forderungen und Entscheidungen von PolitikerInnen schliesslich aufgrund subjektiv wahrgenommener Bevölkerungsstimmungen oder besonders eindringlicher Presseschlagzeilen geleitet. Dazu benötigen die Bibliotheken jedoch Ressourcen, welche nach meinem Eindruck zunächst aufgebaut werden müssen. Es braucht Expertise, Zukunftsorientierung und Optimierungswille bei Mitarbeitenden, geeignete elektronische Tools zur Erfassung der Daten, um den Bibliotheken gegenüber den politischen Entscheidungsträgern eine Stimme zu verleihen.
Hier können Fachhochschulen und Universitäten einen entscheidenden Beitrag leisten. Sie verfügen über exakt dieses Wissen und diese Kompetenzen und sollten die öffentlichen Bibliotheken damit unterstützen. Dies kann zum Beispiel durch die Vermittlung entsprechend geschulter Fachkräfte, Schulungsangebote für Mitarbeitende oder schlicht und einfach die verstärkte Durchführung von Forschungsarbeiten mit anschliessend zur Verfügung gestellten, verständlich aufbereiteten Management Summaries geschehen. An die Stelle der bisherigen eher einseitigen Dienstleistungsbeziehung muss ein fruchtbarer gegenseitiger Austausch treten. Bibliotheken nachhaltig zu fördern und entwickeln sollte nebst dem Eigeninteresse der Bibliothek schliesslich auch im ureigensten Interesse der Wissenschaft liegen, zieht sie doch nicht zuletzt aus gut ausgestatteten und professionellen Bibliotheken das Wissen und damit ihre Existenzgrundlage.
Basis für erfolgreiches gemeinsames Wachsen in der Zukunft
Die geschilderten Erfahrungen führen mich zu einigen Schlussfolgerungen zu dem, was es braucht, damit öffentliche Bibliotheken und Wissenschaft gemeinsam wachsen können.
Eine professionellere, detailliertere und systematische Datenerhebung (zum Beispiel in Form von elektronischen Erfassungen von Ausleihen auf Abteilungsebene, aber auch von Nutzungsumfragen bei KundInnen) durch die Bibliotheken, welche diese zu wissenschaftlichen Zwecken in anonymisierter Form auch zu teilen befugt ist, führt zu einer zuverlässigeren und umfassenderen Datenbasis für die wissenschaftlichen Studien, die in diesem Gebiet durchgeführt werden. Diese Basis zu schaffen ist klar eine Aufgabe für die einzelnen Bibliotheken, wobei treibende Kräfte aus der Forschung beim Festlegen relevanter Daten und beim Austausch zwischen Bibliotheken natürlich eine entscheidende Rolle einnehmen können und sollen. Die Bibliotheken können auch selbstständig gewisse Analysen der von ihnen erhobenen Daten vornehmen, um ihr Angebot laufend zu optimieren. Solche Analysen sind in sich keine Wissenschaft und erfüllen auch nicht deren Zwecke, geben aber wichtige Hinweise auf interessante Forschungsgebiete und relevante Themenfelder.
Die Rolle der Wissenschaft sehe ich daher insbesondere in bibliotheksübergreifenden, generalisierenden Analysen. Natürlich ist hier eine enge Abstimmung mit der Bibliothekspraxis erforderlich, um praxisrelevante Fragestellungen zu identifizieren. Andererseits muss die Praxis ihrerseits natürlich auch proaktiv Hilfe suchen, damit populäre Trends wie Sprachlernabteilungen nicht jahrelang ohne jegliche Evaluation oder Überprüfung mit öffentlichen Mitteln gefördert werden.
Natürlich sind nicht alle Vorschläge und erst recht nicht von allen Bibliotheken umsetzbar, beispielsweise aus finanziellen oder auch anderen organisationsspezifischen Gründen. Hier ist sowohl von Seiten der Wissenschaft als auch von Bibliotheken eine gewisse Kreativität gefragt, um massgeschneiderte und realitätsnahe Lösungen zu gestalten und anzubieten. Kooperationen mit Organisationen verschiedenster Art können Bibliotheken helfen, trotz beschränktem Budget wissenschaftliche Erkenntnisse umzusetzen.
Auch die Schaffung einer Austauschplattform sowohl zwischen Forschung und Bibliotheken, als auch zwischen den verschiedenen Bibliotheken scheint mir zentral. Eine solche kann gewährleisten, dass zwischen den Bibliotheken eine wohlkoordinierte Datenbasis aufgebaut wird, welche den Wissenschaftlern Generalisierbarkeit und den Bibliotheken Vergleiche und eine individuelle Einordnung erlaubt. Gleichzeitig können aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse auf diesem Weg an die Bibliotheken übermittelt werden. Damit gewinnen die öffentlichen Bibliotheken idealerweise eine mächtigere Stimme gegenüber der Politik und können die künftige, sie betreffende Forschungs- und Finanzierungsagenda sowie übergreifende Projekte stärker selbst bestimmen. Die Wissenschaft ihrerseits kann dadurch nur gewinnen, ist sie doch selbst in höchstem Masse von guten und starken Bibliotheken abhängig.
Quellen
Büchereiverband Österreichs (o. J.): Definition ÖB. Abgerufen von https://www.bvoe.at/inhalt/definition_oeb [29.02.2020].
Skibar, Elisabeth (2017): Qualitative und quantitative Beobachtung. Abgerufen von http://www2.lernplattform.schule.at/ahs-vwa/pluginfile.php/2982/mod_page/content/141/Qualitative%20und%20quantitative%20Beobachtung_AKT.pdf [15.06.2020].
Mahmoud Hemila studierte Informations- und Bibliothekswissenschaft an der Al Azhar Universität in Kairo, Ägypten, sowie Informationswissenschaft an der Fachhochschule Graubünden, Schweiz. Heute ist er für die Bibliothek der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) in Zürich tätig und beschäftigt sich als Mitglied des Teams Forschungsdatenmanagement und Datenerhalt mit digitalem Datenerhalt.