> > > LIBREAS. Library Ideas # 35

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Ein Nachruf auf Professor Walther Umstätter

(* 12. Juni 1941 in Ploiești, Königreich Rumänien; † 6. März 2019 in Altlandsberg)


Zitiervorschlag
Ben Kaden, "Ein Nachruf auf Professor Walther Umstätter. (* 12. Juni 1941 in Ploiești, Königreich Rumänien; † 6. März 2019 in Altlandsberg)". LIBREAS. Library Ideas, 35 ().


Prof. Dr. Walter Umstätter
Prof. Dr. Walter Umstätter

Es war eine einzige Frage, die entschied, ob mein Kommilitone Tuisko oder ich die Stelle als studentischer Mitarbeiter am Lehrstuhl von Professor Umstätter bekommen sollte. Wir waren drei oder vier Semester am Institut, was für uns Magister-Studierende wenig bedeutete, denn wir studierten ohnehin alles Mögliche, ziemlich ahnungslos, querbeet und wenig davon an der Universität. In der Rückschau bereut man diese Ziellosigkeit ein wenig, eigentlich sogar sehr, denn um die Jahrtausendwende konnte die Humboldt-Universität mit einem unglaublichen intellektuellen Potential aufwarten, einer ganz eigentümlichen Ost-West-Mischung mit einem hohen Anteil an Akteuren, deren Nebeneinander oft genauso zusammengewürfelt wirkte, wie es eben auch war. Daraus resultierten Dissonanzen und zugleich viele Freiräume. Wie die Stadt so die Universität, bemüht um Konsolidierung, darin jedoch, als wäre sie ständig überfordert. Das Institut für Bibliothekswissenschaft war dahingehend keine Ausnahme und unsere eigenen Biografien alters- und naturgemäß zumindest in dieser Linie sowieso im Takt. Eigentlich wollten fast alle, die man am Institut traf, etwas Anderes machen. Auch ich wollte nie Bibliothekswissenschaft studieren, aber in aller Ratlosigkeit nach einem abgebrochenen Semester Amerikanistik im wintergrauen Potsdam-Golm und dem Zivildienst schien es eine gemütliche Option im Immatrikulationsbüro Unter den Linden. Zur Orientierung, bis sich herausstellt, was eigentlich werden soll. Das erste Semester wurde, wie es sich traf, sowieso weitgehend verstreikt.

Im zweiten Semester gab es eine Vorlesung zur Einführung in die Bibliothekswissenschaft bei Professor Umstätter, deren Gegenstand sehr wenig mit Bibliotheken zu tun hatte und sehr viel mit einer überraschend drastischen Dekonstruktion von Fachinformationsprogrammen und einem einführenden Handbuch in die Grundlagen der praktischen Information und Dokumentation. Als Einführungsvorlesung denkbar untauglich war es eine beeindruckende methodische Schule, darin die Botschaft zirkelnd, dass kritisches, zerlegendes Denken die Essenz von Wissenschaft sein kann. Professor Umstätter erschien als Autorität, konzentriert auf die Sache, deutlich weniger nahbar, zugleich deutlich weniger autoritär als Andere. Er hatte ein Buch aktualisiert, aber eigentlich neu geschrieben, gemeinsam mit Gisela Ewert. Das Lehrbuch der Bibliotheksverwaltung. Nach dem zweiten Semester der bibliothekswissenschaftlichen Konfusion, als einzig eine verpasste Frist den Fachwechsel verhindert hatte, ging ich in den Semesterferien in ein kleine, längst nicht mehr existierende Buchhandlung und bestellte es, über 60 Mark teuer, zur Verwunderung des Händlers und auch zu meiner eigenen. Wenn schon noch ein Semester, dann wollte ich es doch ernst nehmen. Ich las erst selektiv, dann systematisch und mit dem Beginn des dritten Semesters wusste ich, was man in Berlin unter Bibliothekswissenschaft verstehen konnte.

Die Bibliothek ist eine Einrichtung, die unter archivarischen, ökonomischen und synoptischen Gesichtspunkten publizierte Information für die Benutzer sammelt, ordnet und verfügbar macht.

Auf dieser Definition konnte man aufbauen, verstehen und Ansätze finden. Es gab nun also einen Grundstock, der sich als sehr hilfreich erwies, wenn man einerseits die Breite, die das Studium selbst bot – man besuchte, heute unvorstellbar, erst ein Seminar zur Geschichte der Kinderbuchillustration und danach eines zur gefühlt höheren Mathematik – irgendwie auf einen Bezugspunkt zusammenführen wollte und mehr noch die Breite, die die Dynamik des fachlichen Ansatzes von Professor Umstätter bot. Sputnik-Schock, Semiotik und Szientometrie, dazu Kybernetik und die ewig kontroverse Frage nach der Unterscheidung zwischen Daten, Information und Wissen. Die Situation an der Humboldt-Universität ermöglichte ihm in der Lehre, seinen Herzensthemen erstaunlich frei in einer höchst idiosynkratischen Mischung und nur mit begrenzter Rücksicht auf die Verständnishorizonte und auch Interessen zahlreicher Studierender zu entfalten. Seine Seminare waren eine Herausforderung, doch wer durchhielt, nahm Bleibendes mit, was durchaus positiv gemeint ist. Er verstand die grundsätzliche Bedeutung des Digitalen für die Bibliotheken und für die Gesellschaft früher als die Meisten, wusste das auch und verzweifelte nicht selten daran, wie wenig seine Impulse, Vorschläge und Ideen aufgegriffen wurden. Derek de Solla Price war ein Leitstern, Eugene Garfield ein anderer. Der eine, weil er Wissenschaft als System durchschaubar und quasi berechenbar gemacht hatte, der andere, weil er es verstand, aus diesem Wissen ein wissenschaftsgestaltendes Geschäftsmodell zu generieren.

Eine Community fand er eher in der Gesellschaft für Wissenschaftsforschung als im Bibliothekswesen, was ihn, wie für dieses Fach fast traditionell prägend, zwischen den Stühlen platzierte. Durchaus weithin geschätzt fand er sich in der Forschung sehr oft in Zusammenhängen, die ihm weniger Raum ließen für das, was ihm wichtig war. Ursprünglich kam er aus der Biologie mit dem Schwerpunkt Pflanzenphysiologie und hin und wieder schlug sich das in der Frage Haben Pflanzen Wissen? nieder, mit der er Studierende zum Nachdenken motivieren wollte, denen allerdings häufig zahlreiche Zwischenschritte und bisweilen auch das Interesse fehlte, um zu verstehen, worin diese Frage wurzelte und warum sie sich mit der biogenetischen Evolutionsstrategie befassen sollten, wo es eigentlich um Fragen der Dokumentation ging. Der von ihm intensiv gepflegte Rekurs auf die Informationstheorie von Claude Shannon und Warren Weaver hätte mehr Entgegenkommen benötigt, um akzeptiert zu werden.

Während die lange Zeit als Zukunftskonzept verhandelte Dokumentation sonderbarerweise als Konzept verblasste, gewann die Bibliometrie seit den 1990ern auch im Bibliothekswesen an Bedeutung, aber wenn, dann als möglichst leicht anwendbares Werkzeug der Wissenschaftsmessung. Auch das also keine Basis für eine wissenschaftliche Profilbildung mit größerem Echo. Insgesamt blieb sie im Schatten anderer Trendthemen vorwiegend betriebswirtschaftlicher Art und die Bibliothekspraxis forderte von der Bibliothekswissenschaft entsprechende Lösungen. Gleichzeitig war das Fach zu klein und darin zusätzlich zu disparat, blieb das Bibliothekswesen zu sehr an konkreten Lösungen und zu wenig an Theorie interessiert, um Professor Umstätter tatsächlich die wissenschaftliche Entfaltungsfläche zu bieten, die er spürbar suchte und eigentlich auch verdient hätte. Ab 2002 ging es in der Dorotheenstraße ohnehin fast nur noch darum, die Löschung des Fachs aus der deutschen Wissenschaftslandschaft zu verhindern. Die eigentliche Forschung wurde zum Nebenschauplatz.

Aber auch unabhängig davon blieb oft der Eindruck, ihm fehlten Gesprächspartner*innen, mit denen er seine Ideen und Theorien wirklich diskutieren, spiegeln, aktualisieren und verfeinern konnte. Sie klangen nicht selten zunächst irritierend, waren jedoch an vielen Stellen erstaunlich ihrer Zeit voraus, hier und da vielleicht eher noch neben ihr.

Obwohl er vermutlich der einzige Professor am Institut während der 1990er und 2000er Jahre war, der tatsächlich eine Generation von Nachwuchswissenschaftler*innen wirklich wissenschaftlich prägen und damit eine Art bibliothekswissenschaftliche Schule hätte begründen können, gelang dies nur indirekt und in sehr kleinem Umfang. Er bemühte sich beeindruckend, ausdauernd und unglaublich unterstützend um die bei ihm Promovierenden. Wo er spürte, dass jemand für ein Thema, für die Wissenschaft als Wissenschaft brannte, gab er alle Unterstützung, auch wenn als Ergebnis etwas stand, was nicht auf seiner Linie lag. Er setzte Impulse sowohl thematischer als auch methodischer und methodologischer Art gerade dort, wo man sich von ihm abzugrenzen versuchte. Leider war die Bibliothekswissenschaft keine Disziplin für wissenschaftliche Karrieren und auch wenn unter den von ihm betreuten Promotionen und Abschlussarbeiten eine Reihe exzellenter, genuin bibliothekswissenschaftlicher Studien waren, eröffnete sich kaum jemandem unter diesen Autor*innen eine Perspektive in der bibliothekswissenschaftlichen Forschung.

Ich vermag nicht zu sagen, ob er das bedauerte und ich bin mir auch gar nicht sicher, ob er meine Einschätzungen teilen würde. Ich durfte ihn ein paar Jahre begleiten, in denen sich sehr viel am Institut und naturgemäß auch für mich persönlich verschob und veränderte. Ich habe eine differenzierte Position zur Informationstheorie entwickelt und mich viel Semiotik befasst. Ideen der Dokumentation und der Anspruch von Synopse und Vermittlung sind zentral in meinen Überlegungen zum Phänomen der Bibliotheken. Wir waren uns in Vielem, auch Grundsätzlichem uneins, aber er hat meinen Blick auf die Wissenschaft und die Auswahl der Themen, mit denen ich mich befasste und immer noch befasse, maßgeblich beeinflusst. Was ich also sicher sagen kann, ist, dass er zumindest mich, aber vermutlich tatsächlich alle, die bei ihm lernten, so oder so prägte und dass alle, die durchhielten und sich bei ihm mit einer Arbeit qualifizierten, sehr viel von ihm mitnehmen und verinnerlichen konnten. Man trifft in der Regel nicht allzu viele Menschen im Leben, die solche Spuren hinterlassen. Und für jede dieser Begegnungen sollte man zutiefst dankbar sein. Ich bin Professor Umstätter sehr dankbar, angefangen bei der Einladung zum Vorstellungsgespräch für die Stelle eines studentischen Mitarbeiters. Seine Frage war: Können Sie sich vorstellen, auch nach Ihrem Studium in der Bibliothekswissenschaft zu bleiben? Ich blieb und vermutlich nur aus diesem Grund.

(Berlin, 17.04.2019)


Ben Kaden ist Bibliothekswissenschaftler und Mitherausgeber von LIBREAS. Er war von 2001 bis 2006 studentischer Mitarbeiter bei Professor Walther Umstätter.