Erstabdruck: Zentralblatt für Bibliothekswesen 45 (1928) 8, S. 440–455
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Referent: Geh. Reg.-Rat Prof. Dr. Georg Leidinger – München
Hochgeehrte Festversammlung!
Göttingen ist für den wissenschaftlichen Bibliothekar geweihter Boden. Hier haben wahrhafte Bibliothekare gewaltet, denen Bibliothekswesen und Bibliothekswissenschaft viel zu verdanken haben. Wenn heute die deutschen Bibliothekare zu ihrer Jahresversammlung hier zusammengekommen sind, um sich über die Sorgen und Fragen ihres Berufes zu besprechen, haben sie das Gefühl, dem genius loci verpflichtet zu sein. In diesem Sinne hat der Vorsitzende unseres Vereines an mich die Bitte gerichtet, über einen Gegenstand zu reden, der, wie er jenen Männern am Herzen lag, auch unser aller Interesse in höchstem Grade beanspruchen darf.
Ich habe das Thema meines Vortrages in Frageform gekleidet: Was ist Bibliothekswissenschaft?
Mancher unter Ihnen mag sich darüber gewundert haben. Hätte ich nicht ebensogut sagen können: Über Wesen und Inhalt der Bibliothekswissenschaft
? Gewiß.
Aber gerade die Frage: Was ist denn eigentlich Bibliothekswissenschaft?
ist schon so oft an mich gestellt worden, daß sie mir zeigte, hier liege bei gar Vielen eine Unkenntnis vor, die zu beheben der Mühe lohnen dürfte. Waren es doch nicht etwa nur dem Bibliothekswesen Fernerstehende, die so fragten, sondern sogar Berufsgenossen: diese hatten offenbar über jene ihr eigenes Fach betreffende Frage noch so wenig nachgedacht, daß ihnen eine Antwort darauf nicht ohne weiteres zur Hand war.
In der kurzen Zeit, die zur Verfügung steht, wird es unmöglich sein, das Thema erschöpfend zu behandeln. Wenn ich Ihre Aufmerksamkeit und Geduld nicht allzu lange in Anspruch nehmen soll, werde ich mich darauf beschränken müssen, Ihnen einzelne Gedanken vorzutragen, die mir im Laufe meiner nun mehr als zwanzigjährigen bibliothekarischen Lehrtätigkeit aufgestiegen sind. Nur skizzenhaft kann ich mich äußern.
Was ich vortragen will, sind kaum neue Dinge; das Meiste davon ist schon einmal und öfter gesagt worden. Aber es sind Betrachtungen, die man nicht oft genug vorbringen kann, da sie immer wieder – bald da, bald dort – außer Acht gelassen werden.
Ich darf Sie kurz daran erinnern, daß wir, wenn wir von der Wissenschaft sprechen, einen allgemeinen Begriff vor uns haben, welchem ein sondernder und teilender Begriff, die Wissenschaften untergeordnet ist. Das Ziel der Wissenschaft ist das Wissen, das heißt das Auffassen dessen, was überhaupt der menschlichen Erkenntnis zugänglich ist. Um ihr Ziel zu erreichen und zum Wissen durchzudringen, gruppiert die Wissenschaft die sachlich zusammengehörigen Gegenstände, auf die sich ihre Untersuchungen beziehen. Sie teilt ihr ganzes Gebiet, wie die Philosophie sagt, adäquat, das heißt: eben dem Wesen der Gegenstände angeglichen oder angemessen ein. So entstehen die einzelnen Wissenschaften.
Der englische Schriftsteller George Henry Lewes (1817–1878), der am bekanntesten durch eine Biographie Goethes geworden ist, hat vielleicht die beste Definition des Begriffes Wissenschaft gegeben als: die Systematisierung unserer Erfahrungen. Eine Einzelwissenschaft ist demnach die Systematisierung unserer Erfahrungen auf einem bestimmten Gebiete.
Wir pflegen die großen Gruppen der Naturwissenschaften und der Geisteswissenschaften zu unterscheiden. In neuerer Zeit sind zu letzteren noch einzelne Wissensgebiete getreten, die früher nicht als eigentliche Geisteswissenschaften angesehen worden sind, die aber im Laufe der Zeit sich dazu entwickelt haben.
Es gibt Gebiete menschlicher Tätigkeiten, welche eben dadurch, daß über sie gedacht worden ist, und dadurch, daß das Gedachte in lebendige Worte gefaßt und mündlich oder schriftlich verbreitet worden ist, Wissenschaften hervorgebracht haben. Denken Sie an Finanzwissenschaft, Handelswissenschaft, Verkehrswissenschaft, Theaterwissenschaft, Zeitungswissenschaft, Missionswissenschaft usw. Vor wenigen Jahrzehnten hat man noch nicht gewagt, von diesen Fächern als von Wissenschaften zu reden: man sprach von Finanzlehre, Handelslehre, Verkehrslehre oder Finanzkunde, Handelskunde, Verkehrskunde oder Verkehrswesen, Theaterwesen, Zeitungswesen, Missionswesen usw. Jetzt besitzen diese Fächer als vollberechtigte Wissenschaften Lehrstühle an den Hochschulen.
Hier handelt es sich um Beobachtungen und Erfahrungen über praktische menschliche Arbeit, über kulturelle Tätigkeit, Erfahrungen, die infolge der Denkvorgänge über sie, durch geistige Prüfung und Kritik sich zu Wissenschaften gestalten und ihre Grundlagen auf eine höhere Stufe ihres Wesens emporheben können. Ich möchte sie zusammenfassend als Kulturwissenschaften bezeichnen.
Ich bin der Letzte, der es bestreitet, daß jene Kulturwissenschaften von der eigentlichen philosophischen Wissenschaft sich wesentlich unterscheiden.
Der Begriff des Wortes Wissenschaft ist mit dem Erstehen dieser Wissensgebiete eben verändert, hat sich erweitert oder, wenn man will, verengert.
Aber es geht nicht mehr an, der Pflege dieser Gebiete die Berechtigung, das Wort Wissenschaft für sich zu beanspruchen, nehmen zu wollen.
Zu dieser Art von Wissenschaften gehört auch die Bibliothekswissenschaft.
Am nächsten von den vorhin genannten erst in der Neuzeit in die Erscheinung getretenen Kulturwissenschaften stehen ihr Zeitungswissenschaft und Theaterwissenschaft. So gut sich um das Zeitungswesen die Zeitungswissenschaft bilden konnte und jetzt weiter entwickeln kann, so gut aus dem Theaterwesen die Theaterwissenschaft entsprossen ist und weiterstrebt, ebensogut können die Bibliotheken ein Kulturgebiet sein, das seine eigene Wissenschaft pflegen will. Mit Zeitungs- und Theaterwissenschaft hat die Bibliothekswissenschaft die Eigenschaft gemeinsam, daß sie jung ist und alle Merkmale jungen Wesens an sich trägt. Sie steht, wie ich von vornherein betonen möchte, erst in ihren Anfängen.
Wo eine Büchersammlung vorhanden ist oder entstehen soll, braucht man Menschen, um die Büchermassen, welche die Bibliothek bilden sollen, in überlegter und sinnvoller Weise zu erwerben, sie in noch sinnvollerer Weise aufzustellen und zu ordnen, dann in Ordnung zu halten, Menschen, die ferner darüber nachdenken, wie ihre Benutzung zu ermöglichen ist, wie die Bücher zu verzeichnen oder zu katalogisieren sind, wie dann ihre Benutzung zu überwachen und die Erhaltung zu sichern, wie denn überhaupt die Sammlung so zu verwalten ist, daß sie keinen Schaden leidet, vermehrt wird und in guter Erhaltung bleibt, damit sie ihrer Gegenwart dient und für ferne Zukunft nützen mag. Vor allen Dingen müssen jene Menschen von den Büchern, von ihrem Wesen und Inhalt, etwas verstehen. So stellt sich uns das Bibliothekswesen dar.
Die Summe aller Erfahrungen aber bei dieser Tätigkeit, welche der Mensch im Bibliothekswesen entfaltet, bildet, logisch-philosophisch behandelt, den Inhalt der heutigen Bibliothekswissenschaft, wobei, um sie zur vollen wissenschaftlichen Erkenntnis zu führen, die geschichtliche Betrachtung des Bibliothekswesens der Vergangenheit nicht fehlen darf.
Ich unterscheide also das Bibliothekswesen und die Bibliothekswissenschaft, insoferne das erstere die Grundlage der letzteren bildet.
Die Bibliothekswissenschaft baut ihre Behauptungen und Lehren auf dem Bibliothekswesen auf.
Sie entfaltet (ich gebrauche ungern das folgende Fremdwort, aber es ist sehr bezeichnend) eine abstrahierende Tätigkeit. Sie entnimmt dem Bibliothekswesen Abstraktionen, sie entzieht für sich diesem alles, was gedanklich zu erfassen und zu gestalten ist.
Mag man die Bezeichnung der neuen Kulturwissenschaften auch als einen Konventionsbegriff ächten zu müssen geglaubt haben, als einen Begriff des Übereinkommens, so ist die Konvention eben eine Notwendigkeit, ein Zwang, den das Vorhandensein dieser Wissensgebiete ausübt.
Ich will nicht über die Geschichte der Bibliothekswissenschaft reden, will nicht zeigen, welche Leute der Bibliothekskunde den Weg zur Anerkennung als Lehrfach gebahnt haben. Starke Widerstände galt es zu überwinden, merkwürdigerweise auch aus dem eigenen Fach heraus, aber langsam und stetig ist die Erkenntnis durchgedrungen, daß das Bibliothekswesen von höherer Warte als der des täglichen Dienstes aus überblickt und überdacht werden muß.
Das Bibliothekswesen ist gewissermaßen ein Rohstoff, der erst zur Bibliothekswissenschaft veredelt werden muß. Diese Veredelung erfolgt durch das Denken, welches die durch Beobachtung gemachten Erfahrungen dann erst geistig verarbeitet und ihnen ihre Bedeutung innerhalb des ganzen unserer Erkenntnis zugänglichen Seins anweist, sie würdigt und wertet, vor Über- oder Unterschätzung bewahrt und der richtigen Nutzung zuführt.
Ein Beamter der Münchener Zentralbibliothek, Martin Schrettinger, ist es gewesen, welcher die Bezeichnung Bibliothekswissenschaft (er sagte allerdings fälschlich Bibliothekwissenschaft) zuerst in die Fachliteratur eingeführt hat durch sein 1808 erschienenes Lehrbuch der Bibliothekwissenschaft
.
Schrettinger war jedenfalls einer der tüchtigsten Männer älterer Zeiten gewesen, die je über das gesamte Bibliothekswesen nachgedacht hatten. Aus diesem Nachdenken heraus hatte sich ihm das Gefühl entwickelt, daß die Ergebnisse seiner Denkarbeit wissenschaftlich waren, und dadurch kam er dazu, den Inhalt seiner sich mit dem Bibliothekswesen beschäftigenden Darlegungen als Bibliothekswissenschaft zu bezeichnen. Nicht Stolz oder Überhebung oder Einbildung waren es, die ihn hierbei leiteten. Auch wir Gegenwartsmenschen sind weit entfernt von solchen Eigenschaften. Heute kann die Behauptung, der Name Bibliothekswissenschaft
sei allzu prätentiös und mit Recht bestritten
, die Schrettinger gegenüber gefallen ist, nicht mehr aufrecht erhalten werden.
Zu der auf dem Wege philosophischer Methode erfolgenden Behandlung einer Wissenschaft muß sich notwendigerweise, soll eine völlige Erkenntnis ihres Wesens sich erschließen, auch die geschichtliche Betrachtung ihrer Entwickelung gesellen. Gerade die Historie einer Wissenschaft von jener Art, die sich, wie ich darlegte, auf eine bestimmte menschliche Tätigkeit gründet, läßt schließlich erkennen, wie lange jene Tätigkeit gebraucht hat, um sich zur Wissenschaft zu entfalten, läßt erkennen, in welchem Umfange sie in der Gegenwart Wissenschaft geworden ist, wie weit sie berechtigt ist, sich solche zu nennen, und welche Wege sie einschlagen muß, um sich ferner zu entwickeln, weiterzuschreiten und zu höherer Ausbildung und bis zur Vollkommenheit zu gelangen. Ist doch jede Einrichtung der Gegenwart, wie ja auch jeder Mensch, bedingt und abhängig von zahllosen Einflüssen der Vergangenheit.
Gerade das Bibliothekswesen aber ist ja nicht eine Erscheinung nur der neueren Zeiten, wie etwa das die Grundlage der Zeitungswissenschaft bildende Zeitungswesen, sondern reicht in graue Vorzeit zurück. Und seine Geschichte ist verbunden mit der Geschichte der höchsten geistigen Interessen der gesamten Kulturmenschheit.
Eine Einzelwissenschaft zeigt ihren Inhalt und auch die Höhe ihres Standes am besten dort, wo sie gelehrt werden muß, wo ihr Inhalt nicht bloß gefühlt wird, sondern Anderen in klaren Darlegungen geoffenbart werden muß. Die Kenntnis von allen Einzelheiten, welche man zur Anlage und Verwaltung von Büchersammlungen nötig hat, die Kenntnis des Bibliothekswesens, wird zur Wissenschaft erst durch die Lehre.
An unseren großen Bibliotheken ist diese Lehre entstanden und gepflegt worden, sie gehört aber jetzt in den Rahmen der Universität, der universitas litterarum. Sie hat ein Recht darauf, dort vorgetragen zu werden.
Für den höheren Beamten unserer Bibliotheken genügt heutzutage die bloße Ausbildung im praktischen Betrieb nicht mehr. Er muß die großen Zusammenhänge seines Berufes, in die das Bibliothekswesen nun einmal hineingestellt ist, kennen lernen, muß von den Erscheinungen wissen, die ihm erst die Berechtigung geben, sich über unteren und mittleren Beamtengruppen als eine zu höherer geistiger Tätigkeit verpflichtete Persönlichkeit zu fühlen und von allen den Wissensgebieten einen Überblick zu erhalten, die für seinen Beruf in Frage kommen. Er muß von den Quellen erfahren, aus denen er eine zu immer höherer Vollkommenheit sich steigernde Ergänzung seiner praktischen Kenntnisse schöpfen kann. Hierzu gelangt er am besten durch den Besuch entsprechender bibliothekswissenschaftlicher Vorlesungen, durch die Ausbildung in bibliothekswissenschaftlichen Kursen und Instituten.
Der Lehrbetrieb der Bibliothekswissenschaft an den Hochschulen hat zu einem großen Teil durch Vorlesungen zu erfolgen (hierüber brauche ich wohl kaum Worte zu verlieren), zu einem wichtigen Teil aber auch durch übungsmäßigen Unterricht in bibliothekswissenschaftlichen Instituten. Solche besitzen wir überhaupt noch nicht oder höchstens in rudimentären Ansätzen an den größeren Bibliotheken, an denen überhaupt Unterricht im höheren Bibliothekswesen erteilt wird.1
Die Grundlage solcher bibliothekswissenschaftlicher Institute wären Handbibliotheken, in welchen die wichtigste bibliothekarische Literatur zusammengestellt ist. Hier müßten alle Werke zu finden sein, die für sämtliche Zweige der Bibliothekswissenschaft notwendig sind. Für unsere Münchener Bibliothekskurse besteht eine solche Handbibliothek, die sich mit leichter Mühe noch weiter ausbauen ließe und zweifellos das Handwerkszeug für ein bibliothekswissenschaftliches Institut darbietet.
Ähnliche bibliothekswissenschaftliche Handbibliotheken müßten an allen Orten geschaffen werden, die für bibliothekswissenschaftlichen Betrieb überhaupt in Betracht kommen.
Denn ich bin nicht der Meinung, daß nun an jeder Universität die Bibliothekswissenschaft vertreten sein müßte. An den kleineren Universitäten mit ihrem bescheidenen Bibliotheksbetrieb kann die gesamte bibliothekswissenschaftliche Literatur unmöglich angeschafft werden; dort mögen die Bibliotheksanwärter in der Praxis soweit ausgebildet werden, als es je nach den örtlichen Verhältnissen möglich ist. Darnach müssen sie jedoch zur Vermehrung ihrer Kenntnisse an größere Bibliotheken kommen, an denen ihr Gesichtskreis sich erweitern soll.
Nur in Verbindung mit größeren Bibliotheken wird Bibliothekswissenschaft gedeihen. Und auch da nur, wenn entsprechende Persönlichkeiten vorhanden sind, welche eine wahrhaft wissenschaftliche Auffassung ihres Berufes haben.
Denn die Pflege der Bibliothekswissenschaft ist in erster Linie eine Persönlichkeitsfrage.
Ein Bibliotheksdirektor, dem Bücher nichts anderes sind als Objekte der Statistik, wird geringen bibliothekswissenschaftlichen Sinn haben und demgemäß auch nicht entsprechend auf seine Beamten, besonders nicht auf die erst auszubildenden Anwärter einwirken können. Ihm einen bibliothekswissenschaftlichen Lehrauftrag zu geben, ist verfehlt.
Wenn Bibliothekswissenschaft richtig betrieben werden soll, so erfordert sie die volle Arbeitskraft eines Mannes. Man wird aus dieser Behauptung in bezug auf den Betrieb der Bibliothekswissenschaft an den Universitäten eine nächste und notwendige Folgerung ziehen müssen: diese lautet dahin, daß an Universitäten, an welchen Bibliothekswissenschaft gelehrt werden soll, eine ordentliche Professur dafür vorhanden sein müßte.
Zur Zeit ist die einzige in Deutschland vorhandene ordentliche Professur nicht besetzt, wir haben allenthalben nur Honorarprofessuren, an denen viel geleistet wird, aber der richtige Zustand ist das nicht.
Bibliothekswissenschaft muß vom Nebenamt zum Hauptamt fortschreiten.
Wenn ich eben gesagt habe, die volle und gesamte Arbeitskraft eines Mannes sei dazu nötig, um Bibliothekswissenschaft richtig zu treiben, die Vertretung dieses Wissenschaftsgebietes fülle also das Tätigkeitsfeld eines Mannes vollständig aus, so gehe ich sogar noch weiter für den Fall, daß Bibliothekswissenschaft nun einmal in den Unterrichtsrahmen einer Universität hineingestellt und aufgenommen ist.
Und ich sage: ein Mann allein vermag die Bibliothekswissenschaft im ganzen nicht zu beherrschen und zu vertreten, da sie bereits viel zu umfangreich geworden ist. Der ordentliche Professor wird noch Helfer heranziehen müssen, sofern und soweit er an dem betreffenden Orte sie erlangen kann.
Daß Professuren für Bibliothekswissenschaft eine hohe Bedeutung für die Kultur haben werden, wird wohl niemand bestreiten. Wenn wir unsere deutschen Verhältnisse betrachten, möchte man daher zunächst den Wunsch aussprechen, daß in allen Städten, in denen sowohl eine große Bibliothek – die notwendige Voraussetzung für gedeihlichen Betrieb der Bibliothekswissenschaft – wie eine große Universität vorhanden ist, eine ordentliche Professur für unser Fach errichtet werden möge.
Die Errichtung von Professuren für Bibliothekswissenschaft ist aber nicht bloß für Deutschland zu wünschen, sondern muß eine internationale Forderung sein und muß sich allmählich in allen Ländern geltend machen, die den Stand ihrer Kultur durch das Vorhandensein öffentlicher Büchersammlungen dartun. Es gibt noch genug Staaten, denen nennenswerte Bibliotheken fehlen oder deren Bibliothekswesen auf sehr niedriger Stufe steht. Bis das Bibliothekswesen in diesen wissenschaftlich behandelt werden kann, dazu wird oft noch lange Zeit verfließen. Aber in den großen Kulturstaaten, besonders solchen mit alten Büchersammlungen, wird Betrieb und Ausbildung der Bibliothekswissenschaft nicht ausbleiben.
Ansätze dazu sind hier und dort vorhanden; doch will ich darauf hier zunächst nicht eingehen.
Dringend nötig hätten wir ein Büchlein, das ich als Ratgeber für das Studium der Bibliothekswissenschaft
bezeichnen möchte. Es müßte eigentlich alle Semester neu erscheinen, müßte ersehen lassen, was im Inland und im Ausland an bibliothekswissenschaftlichen Vorlesungen und Übungen geboten wird, so daß diejenigen, die nach einer höheren Ausbildung im Bibliothekswesen streben, die Möglichkeit hätten, ihre Studien entsprechend einzurichten, sich einen Studienplan zurechtzulegen.
Sollte nicht der Verein Deutscher Bibliothekare in der Lage sein, einen solchen Ratgeber
ins Leben zu rufen, selbst wenn er nicht selbständig als Büchlein, sondern als Zusammenstellung im Zentralblatt für Bibliothekswesen erscheinen würde, aber regelmäßig, in sachgemäßen Zeiträumen?
Notwendig ist, daß Bibliothekswissenschaft als Promotions- bzw. Prüfungsfach anerkannt wird. Leider haben bisher die zopfigen Promotionsordnungen der philosophischen Fakultäten das Vordringen der Bibliothekswissenschaft verhindert und bibliothekswissenschaftliche Arbeiten, die von den zur Zeit lehrenden Honorarprofessoren in die Wege geleitet werden, müssen unter der Flagge anderer Wissenschaften (Geschichte, Literaturgeschichte, Kunstgeschichte, Philologie usw.) segeln.
Sie werden öfter den Ausdruck Bibliothekswissenschaften lesen können. Diejenigen, welche ihn gebrauchen, sind der Meinung, daß bei der wissenschaftlichen Behandlung des Bibliothekswesens verschiedene Wissenschaften Stoff liefern, wie z. B. Paläographie, Literaturgeschichte, Sprachwissenschaft, Architekturwissenschaft, Rechtswissenschaft usw. Dies ist ja bis zu einem gewissen Grade richtig.
Aber es werden bei der Erhebung des Bibliothekswesens zu einer dieses wissenschaftlich erfassenden Betrachtung doch nur einzelne Teile jener Wissenschaften übernommen, dann aber in ihrer ganz besonderen Beziehung zu bibliothekarischen Dingen umgearbeitet und schließlich alle zusammengefaßt, so daß aus dem Vielerlei und der Mannigfaltigkeit eine Einheit wird. Diese jedoch dürfen wir dann mit voller Berechtigung Bibliothekswissenschaft nennen, wie ich es denn auch tue. So halte ich den Ausdruck Bibliothekswissenschaften
für überflüssig.
Bibliothekswissenschaft behandelt in allen ihren Teilen zunächst das Bibliothekswesen unseres deutschen Vaterlandes, dieses genommen, soweit die deutsche Zunge klingt, soweit auf diesem Gebiete Bücher gesammelt werden. Darüber hinaus verfolgt sie aber die bibliothekarischen Verhältnisse in allen Kulturländern der Welt, gibt sich also über den nationalen Inhalt hinaus einen internationalen.
Damit arbeitet sie wieder der nationalen bibliothekarischen Leistung anderer Länder und Völker in die Hand.
Bibliothekswissenschaft (wie ich sie betrieben wissen möchte) zerfällt in vier große Teile (man kann die Einteilung auch anders treffen):
Buchkunde.
Literaturkunde.
Die Lehre vom Bibliothekswesen der Vergangenheit (Geschichte des Bibliothekswesens).
Die Lehre vom Bibliothekswesen der Gegenwart, soweit es wissenschaftlich erfaßt werden kann.
Die erste große Hauptabteilung der Bibliothekswissenschaft ist die Buchkunde.
Ich scheide sie für die bibliothekswissenschaftliche Behandlung in zwei große Unterabteilungen, wobei ich von vornherein bemerken möchte, daß ich – entgegen der Meinung von Anderen – keiner von beiden (eben vom Standpunkte der Bibliothekswissenschaft aus) irgend einen Vorzug vor der andern einräumen möchte. Beide sollen vielmehr als völlig gleichberechtigt im Bibliothekswesen gelten:
Die Kenntnis des alten Buches, des Buches der Vergangenheit;
Die Kenntnis des neuen Buches, des Buches der Gegenwart.
Die erste Unterabteilung umfaßt die Kenntnis vom Buch aller vergangenen Zeiten.
Hier könnte man eine Einschränkung machen durch den Zusatz: soweit es in Bibliotheken aufbewahrt wird. Dieser Zusatz mag infolge praktischer Äußerlichkeiten Manchem als angebracht erscheinen. Das Buch der Assyrer und Babylonier z. B., das auf Tontafeln, Tonzylindern usw. überliefert ist, wird meist in Museen aufbewahrt, und die Kenntnis von ihm wird uns durch die Assyriologie überliefert und erläutert.
Nichtsdestoweniger gehört die Kunde von ihm zur Bibliothekswissenschaft, und diese hat eben aus der Assyriologie alles herüberzuholen, was das assyrische und babylonische Buch betrifft
Ähnlich steht es mit dem älteren ägyptischen Buch, soweit es in der Schrift der Hieroglyphen und demotisch geschrieben ist. Die Kenntnis dieser Schriftarten wird man dem Bibliothekar nicht zumuten; seine Stellung diesen Spezialitäten gegenüber wird sich darauf beschränken können, die Ergebnisse der Ägyptologie in Bezug auf das Gebiet in sein Wissensgebiet herüberzuholen.
Und so steht er auch späteren Spezialgebieten und besonders der orientalischen und exotischen Bucherzeugung gegenüber. Mexikanische Bilderhandschriften oder alte chinesische Holztafeldrucke lassen wir uns durch die entsprechenden Spezialwissenschaften erklären, und wir nehmen von dort alles in unsere Bibliothekswissenschaft herüber, was geeignet ist, die Kenntnis vom Buch jeder Art uns zu überliefern und insbesondere buchtechnische und buchkünstlerische Zusammenhänge begreifen zu lassen und zu erläutern oder uns Aufschlüsse über die Geschichte der Schrift zu geben.
Zur Bibliothekswissenschaft gehören alle diese Dinge. Eine Frage ist nur, ob es einem Einzelnen möglich sein wird, sie sich anzueignen oder sie zu beherrschen, bzw. wie weit das Jemand können wird.
Wir dürfen jedoch folgende Behauptung aufstellen:
Alle buchkundlichen Kenntnisse, die sich auf unserer höheren Bildung, insbesondere der humanistischen, aufbauen lassen, sollte der wissenschaftliche Bibliothekar sich aneignen.
Kein Bibliothekar sollte insbesondere eine Kenntnis oder Fertigkeit, zu der bei ihm in der Mittelschule der Grund gelegt wurde oder die er auf der Hochschule sich anzueignen Gelegenheit hatte, verfallen lassen, wie es so häufig vorkommt, sondern sie stets im Zusammenhänge mit seiner bibliothekarischen Berufstätigkeit weiterpflegen.
Wie häufig sind Bibliotheksvorstände gar nicht richtig unterrichtet über die Kenntnisse, die ihre Untergebenen besitzen. Wenn es auch auf der einen Seite Aufgabe der Vorgesetzten sein mag, sich auf irgend eine Weise zu vergewissern, über welche Talente und Fähigkeiten ihre Beamten verfügen, so ist es doch umgekehrt Pflicht der Beamten – schon in ihrem eigensten Interesse – ihren Vorgesetzten Behörden mitzuteilen, anzudeuten oder merken zu lassen, was sie können, damit sie darnach verwendet werden.
Auf der sprachlichen Grundlage, welche unsere Mittelschulen uns mitgeben, ist dem wissenschaftlichen Bibliothekar schon weitgehende Buchkunde möglich. Das ganze ehemalige Gebiet des griechischen Buches vermag er zu übersehen (unsere Vorbedingungen für den höheren Bibliotheksdienst verlangen mit Recht von denjenigen, welche Griechisch nicht können, das Nachlernen dieser Sprache und die Ablegung einer Prüfung daraus). Vom griechischen Kulturkreis abgesehen ist dem akademisch gebildeten Bibliothekar das große Gebiet des lateinischen Buches und des Buches der lateinischen Tochtersprachen beherrschbar.
Von der Vorgeschichte der deutschen Sprache bringt er auch so viel Kenntnisse mit, daß er das alte deutsche Buch würdigen kann.
Wenn auch Harnack der Meinung war, ein Bibliothekar brauche sich nicht um Handschriftenkunde zu kümmern, nur eine gewisse Anzahl von Bibliothekaren müsse sie gründlich kennen, so bin ich anderer Meinung.
Gewiß, Volksbibliothekare und solche an Bildungsbibliotheken brauchen nichts davon zu wissen.
Aber es sollte keinen Bibliothekar an einer wissenschaftlichen Bibliothek geben, der nicht wenigstens einen übersichtlichen Kurs über Handschriftenkunde mitgemacht hat.
Handschriftenkunde ist eben die geschichtliche Grundlage der wissenschaftlichen Buchkunde, und diese letztere sollte jeder wissenschaftliche Bibliothekar im allgemeinen beherrschen.
Jede größere und kleinere wissenschaftliche Bibliothek besitzt heute mehr oder minder umfangreiche Handschriftensammlungen. An den größeren Bibliotheken gibt es eigene Handschriftenabteilungen, und es wird darauf gesehen, daß in diesen Beamte amtieren, die von Handschriftenkunde etwas verstehen.
Schon bei diesen Handschriftenabteilungen liegt zur Zeit noch vieles im Argen, was die Kenntnisse der Beamten anlangt, und es wird zu wenig Zeit vorgesehen, um einen richtig geschulten und mit wirklich notwendigen Kenntnissen versehenen Nachwuchs heranzubilden.
Wie steht es aber in dieser Hinsicht an kleineren wissenschaftlichen Bibliotheken? Oft tieftraurig und jammervoll. Es gibt solche, in denen der Vorstand zittert, wenn einmal eine Anfrage über eine zur dortigen Sammlung gehörige Handschrift einläuft.
Neben der Handschriftenkunde sind dem Bibliothekar notwendig Kenntnisse über die alte Druckgeschichte, die Geschichte der Erfindung der Buchdruckerkunst und der damit zusammenhängenden Fragen, besonders jener über die Blockbücher; es folgt dann Inkunabelkunde, Kenntnis vom Wert und der Bedeutung besonderer Stücke der älteren Literatur und schließlich Vertrautheit mit den Gepflogenheiten des Altbuchhandels, des sog. Antiquariates. Gerade hier eignet sich vieles hervorragend zur mündlichen Überlieferung.
Zum Hauptinhalt der modernen Bibliothekswissenschaft gehört dann die Buchkunde der Gegenwart, die Kenntnis vom Buchwesen der Gegenwart.
Hier muß ich eine Einschränkung machen, indem ich sage: Die Kenntnis vom Buchwesen der Gegenwart, soweit es mit dem Bibliothekswesen zusammenhängt.
Denn Buchkunde hat ein anderes Gesicht, je nachdem sie dem Buchdrucker, dem Buchverleger, dem Buchhändler, dem Buchliebhaber und schließlich dem Bibliothekar gegenübertritt.
Von gewisser Seite aus, namentlich von Kreisen des Buchdruckes und des Buchhandels her, sind Bestrebungen im Gange, um die Buchkunde in den Kreis der Gegenstände zu bringen, welche an den Universitäten behandelt werden.
Da die Bibliothekswissenschaft ihre Grundlagen in der Bibliothek hat und diese wieder aus einzelnen Büchern sich zusammensetzt, ist es selbstverständlich, daß Alles, was unter den Begriff Buchkunde fällt, denen geläufig sein muß, welche das Bibliothekswesen betreiben, und damit erst recht denen, welche die Bibliothekswissenschaft pflegen.
Wenn man Buchkunde im weitesten Sinne als die Kenntnis vom Buch, vom geschriebenen und gedruckten Buch und allem, was mit ihm zusammenhängt, bezeichnet hat, so ist es klar, daß diese Buchkunde ein Teil der Bibliothekswissenschaft ist und demgemäß in deren Rahmen zu behandeln ist.
Die Interessen des Bibliothekars der Buchkunde gegenüber gehen aber weiter als die des Buchdruckers und des Buchhändlers, nehmen das Buch von höheren Gesichtspunkten aus als jene.
Demgemäß ist die Buchkunde des Bibliothekars, wenn sie auch sachlich sich auf die gleichen Tatsachen stützt wie die Buchkunde des Buchdruckers und des Buchhändlers, doch anders zu behandeln als jene der letzteren Interessenten. Insbesondere wird die Bibliothekswissenschaft die geschichtlichen Teile der Buchkunde viel tiefgründiger und eingehender vorzunehmen haben.
Und wer demnach Buchkunde an den Hochschulen behandelt wissen will, der unterstütze alle Bestrebungen, welche geeignet sind, die Bibliothekswissenschaft an den Hochschulen fördern zu helfen.
Ich meine Buchkunde hier immer vom höchsten möglichen Standpunkte aus unter Zurückstellung der technischen Einzelheiten, deren allgemeine Kenntnis aber doch auch zu Grunde liegen muß.
Insbesondere muß der Bibliothekar auch die kommerzielle Seite der Buchkunde (wieder vom höchst möglichen Standpunkte aus) kennen lernen.
Hier handelt es sich z.B. darum: was muß der Bibliothekar vom Buchhandel wissen? Durchaus nicht die gesamte Buchhandelslehre, aber doch einen gewissen Überblick über diese, die sich zerteilt in die Lehre vom Verlagsbuchhandel, vom Selbstverlag, von Buchgemeinschaften usw. Vorauszuschicken und am besten hier einzufügen wäre ein kurzer Überblick über die Geschichte des Buchhandels, wenn man das nicht schon bei der alten Buchkunde, von der ich vorhin sprach, behandeln will.
Nach der Kenntnisnahme vom Wesen des Buchhandels an sich kommt eines der schwierigsten, aber auch interessantesten und für das Bibliothekswesen wichtigsten Kapitel, die Lehre von dem Verhältnis des Bibliothekswesens zum Buchhandel.
Unter die Kenntnis vom Buchwesen der Gegenwart, soweit die Bibliothekswissenschaft sie behandeln muß, fällt auch die Kenntnis vom Zeitungs- und Zeitschriftenwesen, also ein Teil der neuerstandenen und wie die Bibliothekswissenschaft in ihrer ersten Entwickelung begriffenen Zeitungswissenschaft. Der wissenschaftliche Bibliothekar wird die Aufgabe haben, die Leistungen der letzteren aufmerksam zu verfolgen und aus ihr herüberzuholen, was er für sich brauchen kann. Ergebnisse von drüben wird er für seine Zwecke zu bearbeiten haben.
Es ist ja von vornherein ein großer Unterschied zwischen Zeitungswissenschaft und Bibliothekswissenschaft in ihrer Stellung der Zeitung gegenüber. Die erstere schenkt ihre Aufmerksamkeit vor allem dem Entstehen der Zeitung, die Bibliothekswissenschaft aber hat es mit dem fertigen Zeitungsblatt als Sammlungsobjekt zu tun.
Beiden Wissenschaften gemeinsam ist höchstens die Kenntnis von Bedeutung, Einfluß und Wirkung der Zeitungen und Zeitschriften.
Notwendig wird also auf gewissen Gebieten, von denen ich eben gesprochen habe, ein Zusammenarbeiten dieser Wissenschaften sein.
Von Seite der Bibliothekswissenschaft wird hier zur Zeit kaum etwas versäumt, wohl aber begehen einzelne Vertreter der Zeitungswissenschaft Fehler darin, daß sie die Bedeutung der Sammeltätigkeit der Bibliotheken, die schon in frühen Zeiten die hier vorhandenen Aufgaben erkannt und an einzelnen Stellen musterhaft durchgeführt haben, beinahe übersehen zu können glauben, wodurch sie sich ins Unrecht setzen und ihre eigene Grundlage schädigen.
Neben die große I. Abteilung der Bibliothekswissenschaft, die Buchkunde, die sich mit dem Buch als Objekt beschäftigte, tritt nunmehr die II. große Abteilung der für den Bibliothekar notwendigen Kenntnisse, die Literaturkunde, die von dem Inhalt der Bücher ausgeht. Hat unsere I. Abteilung die Kenntnis vom Wesen des einzelnen Buches vermittelt, so will die II. Abteilung, die Literaturkunde, über die inhaltlich zusammengehörigen Bücher unterrichten.
Von der Mittelschule und der Hochschule bringt auf diesem Gebiete Jeder, welcher sich dem Bibliothekarberufe widmet, ausgedehnte Kenntnisse mit. Die Bibliothekswissenschaft hat nur dafür zu sorgen, daß diese weiter ausgebaut werden. Sie sagt zunächst dem Einzelnen, daß er ein um so brauchbarerer Bibliothekar sein wird, je mehr er Bücher kennen gelernt haben wird, je bessere Auskunft er über diese zu geben imstande sein wird, überhaupt ein je kenntnisreicherer Mensch er ist.
Hängt diese Eigenschaft im Bibliothekswesen aber besonders von einem guten Gedächtnis ab, so wird der bibliothekarische Betrieb doch nicht allein auf dieses und seine Leistungen sich verlassen, sondern er hat sich für die bibliothekarische Literaturkunde mechanische Hilfsmittel geschaffen in den Bücherverzeichnissen jeglicher Art und besonders in den über einzelne Wissensfächer systematisch angelegten Bücherverzeichnissen, die man als Bibliographien bezeichnet.
Im bibliothekarischen Betrieb kann mit ihrer Hilfe gewissermaßen auf das Gedächtnis des Bibliothekars in bezug auf die Büchertitel der einzelnen Fächer verzichtet werden; es wird von ihm nun aber andererseits verlangt, daß er die in der Gegenwart auf eine beträchtliche Zahl angewachsenen Bibliographien kennt.
Diese Hilfsmittel werden in der Gegenwart immer mehr vollendet. Schon gibt es eine Bibliographie der Bibliographien. Und der schon ziemlich alte Spruch: Ein Bibliothekar braucht keinen Büchertitel zu merken, aber er muß wissen, wo er ihn findet, wird immer wahrer.
Nichtsdestoweniger wird ein tüchtiger und richtiger Bibliothekar seinen Stolz darein setzen, sowohl möglichst viele Büchertitel im Kopfe zu haben, als auch über den Inhalt von möglichst vielen Büchern Auskunft geben zu können. Er wird sich also zum lebendigen Gefäß bibliothekarischer Literaturkunde ausbilden, so daß man ihm nicht den Spruch entgegenzuhalten braucht, den ein Freund von mir – oft allerdings paradox – zu verwenden pflegte: Mehr lesen!
Auch muß im Kopfe des Bibliothekars die Literaturkunde geordnet sich vorfinden, damit er nicht Gefahr läuft, wie der alte Professor Johann Nepomuk Sepp als umgestürzter Bücherkasten
bezeichnet zu werden.
Neben der Kenntnis der Bibliographien ist von dem wissenschaftlichen Bibliothekar zu verlangen, daß er über den Inhalt und die Abgrenzung der einzelnen Wissenschaften unterrichtet ist insbesondere auch über die wissenschaftlichen Vereinigungen und Organisationen sowohl des eigenen Landes, wie auch wenigstens über die bedeutendsten des Auslandes.
Die III. sehr umfangreiche Abteilung der Bibliothekswissenschaft ist der Geschichte des Bibliothekswesens gewidmet. Hierüber Einzelheiten zu sagen, ist in diesem Rahmen wohl unnötig.
Der IV. und letzte Teil der Bibliothekswissenschaft umfaßt die wissenschaftliche Behandlung des Bibliothekswesens der Gegenwart. Er setzt sich aus vier Unterabteilungen zusammen, die behandeln sollen:
Alle Fragen, die sich mit dem Wesen von Bibliotheken im allgemeinen, sowie mit der Übersicht, Einteilung und Abgrenzung der Bibliotheken befassen.
Die Lehre von den Bibliotheksbauten.
Die Lehre von den Bibliotheksbeständen, und zwar
von ihrer Erwerbung,
ihrer Aufstellung, Ordnung, Einteilung,
ihrer Katalogisierung (wobei Sprach- und Transkriptionskunde einschlägig ist),
ihrer Schützung, Erhaltung und Benützung.
Die Lehre von der Bibliotheksverwaltung, darunter
Finanzfragen,
Personalfragen,
Statistik usw.
Zu diesem IV. Hauptteil und seinen Unterabteilungen nur noch einige kurze Bemerkungen.
Bibliothekswissenschaft beschäftigt sich mit allen Arten von Bibliotheken der Gegenwart. Sie zieht in den Kreis ihrer Betrachtung also nicht nur die wissenschaftliche Bibliothek, sondern auch die Bildungsbibliothek und die Volksbibliothek, andererseits nicht nur die öffentliche Bibliothek, sondern auch die Privatbibliothek, die Bibliophilensammlung, die Fachbibliotheken, die Lesehallen usw. bis herab zur Kinderlesehalle.
Der Beamte der wissenschaftlichen Bibliothek soll alle Fragen der Bibliothekswissenschaft kennen. Den Beamten der Volksbibliothek brauchen in der Regel nur die Fragen zu interessieren, welche eben die Volksbüchereien betreffen.
Von der größten Wichtigkeit ist das Zusammengehen der Bibliothekswissenschaft mit der Architekturwissenschaft auf dem Gebiete der Lehre von den Bibliotheksbauten. Schon für die Geschichte der Bibliotheksbauten kann die Bibliothekswissenschaft die Mitarbeit der Architekturgeschichte, die an den technischen Hochschulen zur Zeit in einem erfreulichen Aufblühen sich befindet, nicht entbehren. Bei der Betrachtung der Lehre vom modernen Bibliotheksbau aber müssen Bibliothekar und Architekt einträchtig zusammenarbeiten, wie das die grundlegende Forderung für die Herstellung der Bibliotheksbauten selbst ist. Wie viel Unheil wäre vermieden worden, wenn diese Forderung stets beachtet worden wäre.
Über die Wichtigkeit der Bibliotheksverwaltungslehre brauche ich wohl kein Wort zu verlieren.
Die Überlieferung der Erfahrungen auf diesem bibliothekarischen Gebiet immer wieder an das kommende Geschlecht dünkt mich die wichtigste Aufgabe der Bibliothekswissenschaft zu sein.
Hier erstehen ihr unendliche Aufgaben. Auf die Einzelheiten hier einzugehen, ist in dieser Stunde unmöglich.
Jedenfalls: die Bibliothekswissenschaft ist vorhanden und sie marschiert. Von hervorragender Bedeutung ist, daß sie ihr Veröffentlichungsorgan hat. Eigentlich ist es ja schon vorhanden, leider aber zeugt es gegen sie durch seinen Titel. Ich bin der festen Meinung, daß aus unserem Zentralblatt für Bibliothekswesen
eines schönen Tages notwendigerweise ein Zentralblatt für Bibliothekswissenschaft
werden muß. Es braucht dazu ja kaum eine innere Umänderung vorzunehmen. Dziatzkos »Sammlung bibliothekswissenschaftlicher Arbeiten" hat längst den Weg gewiesen.
Fassen wir zusammen, so erkennen wir, daß die Aufgaben der Bibliothekswissenschaft schon so ungeheuer groß sind, daß ihre gleichmäßige Bearbeitung noch lange nicht möglich sein wird. Aber es ist schon viel gewonnen, wenn der Tummelplatz der jungen Wissenschaft zunächst einmal abgesteckt und diese Abgrenzung anerkannt wird. Die Hauptsache ist, daß man Bibliothekswissenschaft als eine Einheit gelten läßt. Wie viel der Einzelne von ihr alsdann zu bearbeiten und zu beherrschen imstande sein wird, hängt von seinen Kräften ab. Immer aber muß – so hat Harnack einmal sehr richtig bemerkt – das Ganze aus dem Teil, der bearbeitet und vorgetragen wird, hervorleuchten.
Sehr verehrte Herren Kollegen! Dem deutschen Bibliothekar haftet seit langem ein Grundfehler an: er ist immer viel zu bescheiden.
Er sagt immer nur: Aliis inserviendo consumor
und verzehrt sich tatsächlich im steten Dienste für Andere. Er hat gar keine Zeit, um recht an sich zu denken. Er vergißt gewöhnlich, daß er Kulturleistungen vollbringt, für die er ganz andere Aufmerksamkeit verlangen darf, als er bisher getan hat, für die er auch anderen Lohn fordern muß als den ihm bisher meist zugemessenen.
Er muß mehr Zeit gewinnen, um über sich und seinen Beruf nachzudenken und aus diesem Nachdenken Entschlüsse für die Gestaltung des Bibliothekswesens zu fassen. Das heißt: er muß Bibliothekswissenschaft treiben.
Sehen Sie doch um sich, welche Ansprüche die Zeitungswissenschaft erhebt, mit welch gewaltigem Lärm sie ihre Bestrebungen bekannt macht. Nun will ich die Bibliothekswissenschaft durchaus nicht zur bloßen Nachahmung dieses Vorgehens aufforde[r]n, aber etwas mehr muß der wissenschaftliche Bibliothekar doch die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich und seine Leistungen lenken, als es bisher geschehen ist. Und hierzu kann die Bibliothekswissenschaft zweifellos helfen.
Der wichtigste Erfolg aber, den die Pflege der Bibliothekswissenschaft bringen muß, ist die höhere Erziehung unserer bibliothekarischen Jugend. Wenn es sich um die Besetzung wichtiger Stellen handelt, dürfen nicht mehr wirklich oder angeblich Leute fehlen, die dorthin berufen werden können, die dann auch das sittliche Recht haben und es verfolgen können, dorthin zu gelangen.
Sie alle, hochverehrte Herren Kollegen, sind berufen, an dem Ausbau und der Festigung der Bibliothekswissenschaft mitzuhelfen. Noch liegt das Kindlein in der Wiege. Noch stehen wir in der Inkunabelzeit der Bibliothekswissenschaft. Fritz Milkau ist der Name, der zunächst führen wird. Sein Handbuch der Bibliothekswissenschaft ist im Entstehen und wird eine erste Grundlage bilden. Helfen aber auch außerdem Sie Alle mit, daß das Kindlein Bibliothekswissenschaft großgezogen wird, wächst, blüht und gedeiht zum Besten unseres schönen Berufes!
Während des Druckes dieses Vortrages kommt die erfreuliche Nachricht von der Errichtung des bibliothekswissenschaftlichen Instituts an der Universität Berlin.↩
Dr. Georg Leidinger, Leiter der Handschriftenabteilung der Bayerischen Staatsbibliothek, später stellvertretender Generaldirektor derselben Bibliothek. Ab 1922 Honorarprofessor für Bibliothekswissenschaften (Universität Müchen). († 1945)