Als ich 10 oder 11 Jahre alt war, trennten sich meine Eltern zum ersten Mal. Meine Mutter und ich zogen in eine Plattenbauwohnung in einem Kieler Vorort, mein Vater blieb in Rostock, wo er als Tischler arbeitete. In den ersten Wochen war es für mich schwer, mich in der neuen Schule zurecht zu finden. Ich war mitten im Schuljahr in die Klasse gekommen und es würde eine Weile dauern, bis ich mich in die Klassengemeinschaft eingewöhnen konnte. Bis dahin verbrachte ich nicht nur meine Freizeit, sondern auch viele Schulpausen in der Bibliothek, die wie ein Aprikosenkern in der Mitte des modernen Schulgebäudes saß und Zuflucht bot, rundherum hinter dicken Glasscheiben die wimmelnden Schüler auf Bänken, die Gespräche wie brummende Bienenschwärme.
Durch den Eingang gelangte man direkt an die Theke, hinter der sich nicht nur die Bibliothekarinnen (immer Frauen, immer freundlich) befanden, sondern auch ein riesiges Fenster, das auf einen zugewucherten, fast exotisch wirkenden Garten hinausging, der von außen kaum zugänglich war. Bog man links ab, kam man in einen riesigen Raum voller Regale, die nach Genres, Themen und Altersgruppen angeordnet waren. In dieser Zeit las ich neben den typischen Gruselromanen und Comics vor allem eins: Hundebücher. Keine Romane oder Kurzgeschichten, sondern Sachbücher über Hunderassen, Hundeaufzucht, Hundepsychologie. Ich schleppte reihenweise groß bebilderte Bände nach Hause und las mir durch, welche Rassen besonders geeignet für das Klima in Deutschland waren, wie man einen jungen Hund richtig erzog und wie man testen konnte, ob der Hund jaulte, wenn man tagsüber weg war (die Antwort ist wenig überraschend: man tut so als ob man geht und lauscht dann im Hausflur). Für mich gab es zu dieser Zeit keinen anderen Gedanken als den, einen Hund zu haben, ihn vorbildlich zu erziehen und fortan nicht mehr alleine zu sein.
Die Pointe dieser Geschichte ist kurz und schmerzlos: kurz nach Weihnachten, das ich mit meinen Großeltern und meinem Vater in Rostock verbracht hatte, kehrte ich heim in unsere Plattenbauwohnung und dort, unter einer Kommode, saß eine verängstigte Heimkatze. Der Traum vom Hund war damit vorbei, doch ich kann den besorgten Leserinnen und Lesern versichern: Iphie
war der Anfang einer ungebrochenen Liebe zu Katzen und Katern.
Die Bibliothek ist mein roter Faden, der Umzüge, Interessen, Hausaufgaben, Semesterarbeiten und Wochenendpläne verknüpft, mir die Erinnerung anhand von Stempelsystem und Lochkarten erleichtert und Regal für Regal archiviert, was mich irgendwann einmal beschäftigt hat.
Ob in den vollgestopft und nicht immer sinnvoll strukturierten Räumen der Geisteswissenschaften der Rostocker Universität bis hin zur Containerlösung der Stadtbibliothek Cardiff während das neue Gebäude in der Innenstadt Form annahm. Im Container eine Tür zum nächsten Container. Neben der Tür ein großer Schrank, an dessen Tür ein Zettel: This is a cupboard, not a door.
Die Bibliothek bietet eine Art Flucht nach vorn oder zurück, zwischen zwei Einbänden und über Fachliteratur hinaus. Durch Stempelkarten und Scancodes hinein in die tiefen Decken und bunten Kissen der Kinderbibliothek. Natürlich ist sie auch ein Ort der Anderen, immer auch das. Aber viel häufiger ist sie ein Ort des Eigenen. Der eigenen Welt, der eigenen Ambitionen und der eigenen Hundeträume, die man beäugt, Buchrücken für Buchrücken mustert und dann aufeinander gestapelt an der Theke abgibt, ein Kochbuch, eine Sammlung von Kurzgeschichten und der eine Klassiker, den man schon immer mal lesen wollte. Mindestens ein Buch wird ungelesen verlängert und dann noch mal und dann zurückgegeben. Ein anderes wird später gekauft und verschenkt, da musste ich an Dich denken, Du magst doch die Schweden so gerne.
Und wieder ein anderes wird so schnell gelesen, dass es schon am nächsten Tag gegen ein anderes desselben Autors ausgetauscht wird.
Das was Ihr hier lest, das was ich schreibe, das ist meine Bibliothek. Eine gefühlte Bibliothek. Damals, die Treppen hoch zur Administration, zu viele Bücher, zu spät. Die Angst im Magen und das Taschengeld in der Tasche. Ein halbes Jahr später das Ganze von vorne.
Und noch davor, eine bunte Nacht in einem unbestimmten Alter in einer Kinderbibliothek im Nirgendwo und Der kleine Wassermann
und Jim Knopf
liefen auf Kassette, bis wir einschliefen. Viel später die schmalen Regale der Universitätsbibliothek der Geisteswissenschaften, wie es fast ein Eindringen war, wenn ein anderer Student die kleinen Räume betrat. Und der erste Ausweis in einer neuen Stadt, es wird mit einem vollen Rucksack gefeiert.
Es gibt dieses berühmte Zitat von Borges, Ich habe mir immer vorgestellt, dass das Paradies eine Art Bibliothek sei.
Viel spannender als das, wenn auch zutreffend, ist jedoch seine Idee der unendlichen Bibliothek. Diese ergibt sich auch aus der ständig neuen Kombination des Alten und Bekannten. Besucht man Bibliotheken in Deutschland, so gibt es bald einen Wiedererkennungswert in den Regalen, den Computern, Ausleihsystemen und natürlich dem Ordnungssystem. Doch für jeden Besucher steckt in dieser Gleichheit auch etwas ganz Eigenes, sei es in der ersten oder letzten Erinnerung zwischen den Buchrücken. Und diese Erinnerung ist für den Einzelnen eine Art Heimkehr, für die Bibliothek jedoch die Unendlichkeit der möglichen Erfahrungen und Rezeption ihrer Inhalte, mit jedem Besuch, mit jedem Buch.
Juliane Waack ist Fachredakteurin für Kundenmanagement und Digitalisierung und bloggt privat auf http://fichtenstein.wordpress.com/