Wir sind hier ein Brennpunkt.
Sagt Frau Tiepke von der Stadtteilbibliothek in Berlin Buch. Die Bibliothek ist ein überschaubarer, durchaus gemütlicher Raum zwischen dem Parkdeck und einer Fahrschule am Anfang dessen, was nicht wenig euphemistisch Schloßpassage
genannt wird und nicht mehr als eine Ansammlung gesichtsloser Renditearchitektur der 1990er Jahre ist. In anderer Zeit hätte man schlicht von einem Nahversorgungszentrum gesprochen. Jeder, der aus dem Wohngebiet um die Franz-Schmidt-Straße zum Bahnhof Buch möchte, geht zuerst vorbei am Haus der 1000 kleinen Dinge
in einer ehemaligen Kaufhalle vor der zentral und wie vergessen eine Bronzeplastik von Gerhard Rommel (Mutter mit Kind, 1980) steht, ihr gegenüber das Kaufland, dann die Sparkasse und erreicht schließlich über der Post und nicht zu übersehenen: Die Bibliothek. Das ist ein schöner räumlicher Pluspunkt: Sie liegt auf dem Weg. Denn zum Bahnhof gehen hier viele. Die S-Bahn fährt, wenn sie fährt und nicht wegen Signalstörung auf sich warten lässt, direkt zum Bahnhof Friedrichstraße. In Pankow kann man aber auch schon umsteigen und die Schönhauser Allee hinunter ins Herz des Prenzlauer Bergs fahren. Zum Beispiel zur Bettina-von-Arnim-Bibliothek, deren Raum nicht schöner ist als dieser, auch gefühlt nicht größer, aber wesentlich überlaufener.
Der Prenzlauer Berg, das ist eine andere Welt, wie auch Frau Tiepke unterstreicht, aber nicht unbedingt sehnsüchtig. Berlin Buch ist weniger Bienenkorb. Und es birgt eigene Herausforderungen. Die Idee der Sozialen Bibliotheksarbeit
zum Beispiel ist hier im Prinzip die Perspektive eines großen Teils der Alltagsarbeit, auch wenn man das an dem heißen Freitagnachmittag nicht so spürt. Was man auch nicht direkt spürt, ist das Konfliktpotential in der Nachbarschaft. Jedenfalls direkt in der Passage, die einfach nur an eine der austauschbaren Fußgängerzonen in ostdeutschen Kleinstädten erinnert. Aber es steht im Raum, denn hinter ein paar Zeilen Plattenbauten Richtung Campus und Grenze zum Land Brandenburg steht seit wenigen Jahren ein Flüchtlingsheim und erleichtert es manchen Anwohnern, ihre Wut und Enttäuschung zu kanalisieren. Wer anders aussieht, wird schon einmal offen in der Passage angepöbelt.
Berichtet Frau Triepke. Und ergänzt, dass es sogar ihr selbst schon passiert ist. Man passt schnell ins Fremdbild in dieser Gegend, die sich die Bezirkszugehörigkeit mit einem der linksliberalsten und arriviertesten Wohnviertel der Bundesrepublik teilt. Pankow ist bunt. 18,5 % der Bewohner haben ausländische Wurzeln. Die meisten stammen aus Italien, Polen, Frankreich, den USA und Syrien, wobei die Verteilung je Ortsteil sehr unterschiedlich ist.
Informiert das Bezirksmagazin Pankow in seiner aktuellen Ausgabe. Und umschreibt damit denkbar vorsichtig, was man hier im Stadtbild deutlich sieht: Wer mit ausländischen Wurzeln in Berlin-Buch wohnt, tut dies vor allem im Rahmen der Flüchtlingsunterbringung. Wohlhabende EU-Ausländer und die globale Hipsterkultur steigen spätestens am Bahnhof Pankow aus der stadtauswärts fahrenden S-Bahn.
Schade eigentlich. Der Schloßpark von Buch ist nämlich eine kleine Idylle, nach der man sich am Falkplatz nur sehnen kann. Am Eingang wartet eine freundliche Sandsteinstele, die Mitwelt heißt und vom Bildhauer Karl Blümel stammt. Man hört unentwegt Amselgesang in den Gehölzen am Pankeufer. Auf einer Bank sitzt eine ältere Frau und liest tatsächlich ein Bibliotheksbuch. Dann allerdings kommt ein Stimmungsbruch, denn zwei Bänke weiter sitzen drei junge Männer mit Raspelhaarschnitt in Schwarz und Tarn gekleidet auf der Lehne ihrer Bank, halten je eine Bierflasche fest, hören harte Musik und rufen den Vorrübergehenden ein markiges DEUTSCHLAND!
zu, auf eine Reaktion wartend. Als wäre die Zeit 1993 stehen geblieben. Sie sind jung, sie sind stark. Vielleicht. Kennen sie die Bibliothek? Eigentlich hätte man sie fragen können.
Wir haben hier in der Tat viele Kinder und Jugendliche, die nicht in intakten Verhältnissen leben.
Berichtet Frau Tiepke in der kleinen Kaffeeküche ihrer Bibliothek mit Blick auf den Park. Das prägt den Bezirk durchaus, auch die Bildungsarbeit, auch die Bibliotheksarbeit. Dazu kommen Leute, die aus den sich verteuernden Gegenden der Stadt verdrängt werden.
Und jetzt die Flüchtinge. Sie tut, was sie kann, hat drei Schulklassen am Tag im Haus, denen sie versucht, die Bibliothek als offenen und sicheren Ort nahezubringen. Im Winter kam ein Fußballtrainer mit seiner Jugendmannschaft, weil es zu kalt für Fußball war. Für viele Jugendliche ist das der Erstkontakt mit der Einrichtung, mit der Idee der Bibliothek. Frau Triepke freut sich über jeden der wiederkommt. Noch sind es nicht viele. Sie braucht Zeit. Sie ist erst seit Januar hier. Sie braucht ein Netzwerk. Sie braucht einen Schlüssel zu dem Kiez ihrer Bibliothek. Der Bildungsverbund Buch, die lokale Sozialarbeit, das sind ihre Ansprechpartner. Und das gelingt. Wer sich in solchen Gegenden engagiert, weiß, dass man allein nicht weit kommt. Bewusst kooperiert die Bibliothek nun auch mit dem Flüchtlingsheim. Eine Hürde ist, den dort Wohnenden die Bibliothek überhaupt als Möglichkeit zu vermitteln. Erwartungsgemäß gelingt dies vor allem über die Arbeit mit Kindern. Diese haben auch untereinander die wenigsten Berührungsängste. Ab der fünften Klasse allerdings bleiben sie weg. Die andere zentrale Nutzer_innengruppe sind die Senioren. Die kommen oft aus Tradition und suchen Zerstreuung. Zugleich, wenn auch mitunter implizit, freuen sie sich über die Bibliothek als stabilen sozialen Anlaufpunkt. Wo man erkannt und mit Namen angesprochen wird fühlt man sich ein wenig daheim. Auch hier: Die Bibliothek als offener und sicherer Ort. Dass Frau Tiepke sich Zeit nimmt und mit ihrer älteren Nutzer_innen auch mal länger das Regal durchgeht, um gemeinsam Klappentext für Klappentext auf der Suche nach einem passenden Buch zu sichten, stärkt dieses Vertrauen. Eine Buchhandlung gibt es übrigens nicht mehr in Berlin-Buch. Noch ein Grund für die Bibliothek. Sie versorgt die Menschen. Mit Kontakt und mit Medien. Das motiviert Frau Triepke. Das fordert sie auch erheblich, denn die Sparrunden des Bezirkes hinterließen auch hier auf ganzer Linie Spuren. Der Bestand ist, vorsichtig formuliert, ausbaufähig und aktualisierbar. Für Veranstaltungen und besondere Programme sind die Größen Geld, Personal und nicht zu vergessen der Verwaltungsaufwand alltägliche Hürden. Auf der anderen Seite steht der enorme Bedarf. Man übernimmt hier, wo eine Bibliothek als Baustein der Bildungsarbeit und als Anlaufpunkt für viele tatsächlich alternativlos ist, Verantwortung für die Nachbarschaft und ihre Menschen. Das soziale Klima des Stadtteils braucht die Bibliothek. Und könnte sicher noch viel mehr vertragen. Aber bereits die Tatsache, dass sie von Montag bis Freitag geöffnet ist, ist bereits viel wert.
Dessen wird man sich jedenfalls bewusst, wenn man knapp zwei Kilometer entfernt und südlich des Berliner Rings die Achillesstraße in Karow hinuntergeht, zum Robert-Havemann-Gymnasium, in dessen Gebäude die Stadtplaner dieser etwas künstlichen Neubaunachbarschaft aus den 1990er Jahren die Stadtteilbibliothek integrierten. Vermutlich stellten sie sich einen besonders engen Bezug zur Schule vor, deren Pausenklingel die Bibliothek mitbeschallt. In jedem Fall dürften sie nicht angenommen haben, dass die Türen sich überhaupt nur an zwei Tagen für die Nutzer_innen öffnen. Es fehlt das Personal beziehungsweise eigentlich natürlich wie immer das Geld, um zusätzliche Mitarbeiter_innen einzustellen. Aktuell sind Frau Ketzer und Frau Schmidt nur zu zweit, was jeden Urlaubstag zur Planungsherausforderung werden lässt. Beide Öffnungstage lasten sie meist schon mit der Bewältigung des Leihgeschehens umfassend aus. Denn nachgefragt wird die Bibliothek mit ihrem deutlich größeren Bestand im Vergleich zu Buch durchaus.
Sie würde sicher auch als Ort sehr gut nachgefragt, stände sie öfter offen. Denn der Bibliotheksraum ist wirklich schön, hell und luftig mit breiten Fensterfronten und einer hohen Decke, einen sehr einladenden Veranstaltungsraum gibt es obendrein. Aber mehr als eine Veranstaltung im Jahr zu organisieren, ist so gut wie unmöglich. Hajo Schumacher war neulich da und es war großartig. Berichten Frau Ketzer und Frau Schmidt. Auch sehr gut besucht. Und man glaubt es gern. Wie Buch ist auch Karow Teil von Berlin und auch Teil von Pankow. Seine Einwohnerzahl ist sogar größer als die von Buch. Aber wirklich urban ist der Stadtteil mit Geschäften die Kerstins versunkene Modewelt
und Hundepflege Schnauzbart
heißen, nicht. Ist Buch vom industriellen Wohnungsbau der DDR geprägt, sind es hier Einfamilienhäuser. Karow wirkt wie eine brandenburgische Kleinstadt, sehr suburban. Dass das Neu-Karow genannte Quartier um die Achillesstraße auch zahlreiche Fünfgeschosser aufweist, ändert daran wenig. Es wirkt wie ein Ort auf der grünen Wiese und ist das ja genaugenommen auch. Was man hier tut, wenn man jung ist, lässt sich nicht so leicht ermitteln. Drei Teenager sitzen zwar im Schatten der Bibliothek an diesem sommerlichen Freitagnachmittag, aber sie würden wohl auch nicht hineingehen, wenn diese geöffnet hätte. Die Jugendlichen sind auch hier nicht wirklich für die Bibliotheksnutzung zu begeistern. Kinder dagegen kommen in großer Zahl. Und Senioren. Eine stabile Nutzer_innenmischung für Stadtbibliotheken in dieser Lage und sicher nicht nur im Nordosten Berlins.
Eine zweite Parallele zur Bucher Bibliothek ist die neue Zielgruppe der Geflüchteten. Aber mit anderem Vorzeichen. Wo in Buch Ressentiments schon im Straßenbild erfahrbar werden, bemüht sich die Einwohnerschaft von Karow sehr engagiert um ein friedliches Miteinander. Aus den Unterkünften kommen vor allem Kinder, meist in Begleitung der Väter, fast nie begleitet von Müttern. In der Bibliothek finden sie ein besonderes Regal mit einem kleinen Grundbestand an mehrsprachigen Kinderbüchern. Auch ein Persisch-Deutsches-Wörterbuch liegt bereit. Ein Arabisch-Deutsches wäre natürlich auch gut. Welches die Väter oft mehr benötigten als ihre Kinder. Wie bei anderen Einwanderergenerationen sind nämlich die Kinder häufig die eigentlichen Sprach- und wahrscheinlich auch Integrationsträger ihrer Familien. Sobald sie in der Schule sind, werden sie bilingual. Für die Bibliotheksarbeit ist das eine wichtige Erkenntnis und für die Integrationspolitik eine große Chance, die leider angesichts der angespannten Ressourcenlage bisher bestenfalls punktuell ergriffen werden kann. Sehr schön sind die Medienkoffer des VOEBB mit Bildwörterbüchern, Emil und den Detektiven und einem Stadtführer Berlins. Wenn er, wie in Karow, mit Vermittlung nicht unbedingt durch Bibliothekar_innen aber vielleicht durch Sozialarbeiter_innen in die Flüchtlingsunterkünfte gelangt, lässt sich mit ihm viel machen. Ihn aber einfach nur als Selbstversorgung auszugeben, funktioniert eher nicht, wie Frau Tiepke aus Bucher Erfahrung berichtet. Und insgesamt sind die schönen Koffer angesichts der Herkulesaufgabe, eine sehr große Anzahl von Menschen und darunter auch sehr viele Kinder zu versorgen, die insgesamt mit denkbar minimaler materieller Ausstattung zurecht kommen müssen, nur der berühmte Tropfen auf den heißen Stein. Auch die Bibliotheken wurden von der Entwicklung seit 2015 massiv überrascht. Selbst wo ein Bestand an fremdsprachiger Literatur vorhanden ist, sind in diesen in den allerseltensten Fällen die Muttersprachen der Geflüchteten eingeschlossen. Und sogar wenn man Mittel für eine entsprechende Bestandserweiterung hätte, wäre es schwer, diese systematisch zu leisten, sind doch weder das Angebot auf dem Markt noch Kompetenzen zur Beurteilung und Auswahl der Medien vorhanden. Kleine Bibliotheken könnten darüber fast schon erleichtert sein, denn wie hier in Karow sind sie schon damit sehr herausgefordert, den generellen Bestand aktuell und für die Nutzer_innen relevant zu halten. Die Pankower Sparrunden rissen jahrelang Lücken und dass es jetzt etwas besser wird, bedeutet nicht, plötzlich aus dem Vollen schöpfen zu können. Aber immerhin lässt sich hier und da etwas aufzustocken und austauschen. Für Frau Schmidt und Frau Ketzer heißt es ohnehin, mit sehr wenigen Ressourcen einer steigenden Nachfrage zu begegnen, denn wie in den meisten Ecken Berlins wächst die Bevölkerung auch in Karow. Dazu kommt auch hier ein Stammpublikum und auch hier sehen die Mitarbeiterinnen in dieser Tatsache eine große Stärke im Unterschied zu den Innenstadtbibliotheken mit hohen Durchlauf, aber auch nicht immer extrem besserer Ausstattung.
Eigentlich besitzt Karow das Potential zur Musterbibliothek. Der Bibliotheksraum ist beeindruckend weit. Die Regale schaffen eine Gemütlichkeit, es gibt einen sehr einladenden Kinderbereich und für Gruppenbeschäftigung den separaten Veranstaltungsraum mit kleiner Leinwand und großem Sortiment an Gesellschaftsspielen. Es gibt Arbeitstische und WLAN. Auch ein Computerarbeitsplatz mit Drucker ist vorhanden und wird gern genutzt. Ein zweiter wäre sicher auch nicht unwillkommen. Zugleich ist man mitten im Kiez, kennt sein Publikum beim Namen und Geschmack. Man ist in die lokalen bürgerschaftlichen Aktivitäten eingebunden. Und man hat, wie auch in Buch, zugleich den Anschluss per Bus, Bahn und Bibliothekssystem an die Dynamik der Hauptstadt, jedoch ohne von ihr überschwemmt zu werden.
Und man teilt das große Hoffnungszeichen: Gemeinsam mit Buch und den anderen Pankower Bibliotheken hat man seit recht kurzer Zeit einen neuen, sehr aufgeschlossenen Bibliotheksleiter, der eine immerhin acht Jahre vakante Stelle füllt. Allein die Besetzung an sich wurde als Signal für kommende bessere Zeiten gewertet. Besser bedeutet hier: Mehr Ressourcen, aber auch mehr Plan. Leitbilder sollen für alle Einrichtungen des Bezirkes entwickelt werden. Ideen werden wieder gehört. Dass der Bezirk so floriert wie die Hauptstadt insgesamt könnte neben den negativen Auswirkungen der Gentrifizierung auch Positives bringen. Nämlich eine Finanzlage irgendwo über der schwarzen Null, die die Bereitschaft erhöht, wieder in Bibliotheken zu investieren. In Buch sollen demnächst ein paar tausend Eigentumswohnungen entstehen. Zugleich werden sehr viele der Geflüchteten vermutlich dauerhaft in Berlin bleiben. Die Bevölkerung wächst und mit ihr auch der Bedarf an sehr vielschichtigen Bibliotheksangeboten. Wer mit den Mitarbeiterinnen in Buch und Karow spricht, spürt, dass sie sich sogar darauf freuen. Die Motivation ist nicht das Problem. Aber sie brauchen auch die Ressourcen, um dieses Potential wirklich und tiefgreifend entfalten zu können.
(Berlin, Juni 2017)
Ben Kaden ist Bibliothekswissenschaftler an der Universitätsbibliothek der Humboldt-Universität zu Berlin und Mitherausgeber von LIBREAS