Ganze elf Jahre und einiges an Zufällen brauchte es, bis wir von LIBREAS. Library Ideas unsere Vorgängerpublikation entdecken konnten. Dabei weist der Worldcat Dale E. Shaffers 1977 im Eigenverlag erschienene Handreichung A Handbook of Library Ideas als Original sogar in zwei Bibliotheken nach: in der British Library und in der Harold B. Lee Library der Brigham Young University. Ein weiteres Exemplar gibt es in jedem Fall in im Harold Washington Library Center der Chicago Public Library, denn dieses ist der Glücksfund, welcher uns wiederum eine Ausgabe auf den Schreibtisch bringt. Dort fand nämlich Marc Fisher, Initiator und Betreiber der wunderbaren Ephemera-Sammelstelle PUBLIC COLLECTORS (siehe www.publiccollectors.org) ein Exemplar und publizierte es pünktlich zum 40. Jahrestages seines Erscheinens als Reprint in seiner Reihe Library Excavations
.
I
Der 2009 verstorbene Dale Eugene Shaffer erhielt dadurch zugleich eine Art postume Würdigung. Während seiner Karriere hatte er sich auf das Beraten von Bibliotheken spezialisiert, was sich heute vor allem in seiner eindrucksvollen Publikationsliste zeigt, die außerdem noch mehr als zwei Dutzend Bücher Regionalgeschichte zu seiner Heimatstadt Salem, Ohio umfasst. Begonnen hatte die akademische Laufbahn des am 17. April 1929 in eben diesem Salem geborenen Dale E. Shaffer mit einem Bachelor in Betriebswirtschaft, den er um einen Master in Library Science an der Kent State University ergänzte. Weiter ging es zunächst in einem erwerbsbiografischen Patchwork-Modus, wie man ihn auch heute mit einem Abschluss in Bibliothekswissenschaft gut kennt: ein Jahr (1956–1957) bei General Electric, danach Dozent für Wirtschaft am Bethany College in West Virginia, ab 1960 ein Jahr Technical Research Librarian in der Schulverwaltung von South Bend, Indiana. Im frühen 1963 begann er als Bibliothekar des Glenville State College in West Virginia, wie die Ausgabe der College-Zeitung Glenville Mercury vom 13.02.1963 auf der Titelseite unter einer Bildleiste zur Wahl des Campus Cover Girl berichtete und außerdem alle Beteiligten auflistete, die ihn bei Reorganisation und Betrieb der Bibliothek unterstützten und die hier ruhig mal für eine Sekunde kurzen Aufschimmerns aus dem Schatten der Vergangenheit geholt werden können:
Thirteen students are working in the library during second semester. David Gillespie, Janice Underwood, Marie Jewell, Helen Cunningham, Sandy Williams, Louis Friel and Greta James work at the circulation desk. Virginia Gallaher is typist and Carl Paxton helps with the processing of books. Ron Hill and Paul Taylor do general work. Mrs. Dorothy Peterson is assistant librarian and Miss Mary Susan Brown is in charge of circulation.(Janet Long: GSC Librarian begins Work. IN: The Glenville Mercury, 13.02.1963, S. 1/4)
Dies also als kurzer Einblick in die Personalausstattung einer US-College Bibliothek der 1960er Jahre. Nicht viel später wechselte Dale E. Shaffer zur Capital University in Columbus, Ohio und organisierte selbige ebenfalls gründlich um und neu. Später baute er das Bibliothekssystem des neu gegründeten Ocean County College in Toms River, New Jersey auf. Im Jahr 1968 veröffentlichte er unter dem schönen Titel The maturity of librarianship as a profession (Metuchen, N. J. : Scarecrow Press) das erste von zahlreichen Büchern, in denen er seine Erfahrungen zur Bibliotheksentwicklung aufarbeitete. In seinem Erstling legte er vor allem dar, dass die Bibliotheksarbeit zwar eine Reihe von spezifischen Fertigkeiten und Anforderungen mit sich bringt, jedoch noch keinesfalls den Reifegrad erreicht hat, den ein Tätigkeitsfeld benötigt, damit man von einem Beruf beziehungsweise einer Profession sprechen kann. Nach dem in seinem Ansatz verfolgten Entwicklungsmodell war das Bibliothekswesen erst in der Präadoleszenz. Das setzte schon ein gewisses Ausrufezeichen, vor allem in der nordamerikanischen Bibliothekswelt, und bereitete den Weg für sein weiteres Beratungs- und Publikationsprogramm.
II
Mit seinen Bemühungen zur Evaluierbarkeit des Professionalisierungsgrads der Bibliotheksarbeit muss sich glücklicherweise nicht beschäftigen, wer nur in der schmalen Nebenpublikation zu den Library Ideas blättert. Diese wirkt so freundlich wie spleenig und verzeichnet, so das Vorwort, einige tatsächlich beobachtete novel and non-traditional approaches
. Handlungsanleitungen liefert der Autor nicht, sondern bewusst nur sufficient information to trigger action
. Zugleich würdigt, fast feiert er creative librarians
, also diejenigen, welche, wie man heute phrasieren würde, out of the box
zu denken fähig sind. Konsequenterweise eröffnet er mit den Grundanforderungen an, so eine ad-hoc-Übersetzung, Kreativbibliothekar_innen. Zwölf sind es, von grundsätzlicher Neugier, Willen zur Vorstellungskraft, Sensibilität, Abstraktionsvermögen, Unabhängigkeit, Ausdauer und Mut. Interessant und als schöne Variation zu stereotypen Vorstellungen ist der Punkt Nummer 9 – Challenged by Disorder:
He [der Kreativbibliothekar] thrives on chaos and disorganization, considering it a problem to be solved.
Die Unordnung ist das Material, an dem sich die Ordnungskraft entfaltet.
Die 156 Ideen in alphabetischen Folge zeigen heute unter anderem eindrücklich, wie alt all das ist, was heute unter dem Label Makerspaces diskutiert wird. Genau genommen ist der Grundansatz noch deutlich älter, wie man bei der Idee Nummer 140 – Tool-Lending Pool – lernt:
Tool lending was originally established by Rotarians during the shortages of World War II. Now, power tools can be borrowed from some libraries for three days; hand tools for a week. Included are tachometersm strobe lights, and various items for automobile tuneups.(S. 35)
Und plötzlich erkennt man, dass auch Baumärkte und Bibliotheken ihr Serviceprofil einander annähern können.
Für Zoohandlungen gilt dies hoffentlich nicht und man wünscht sich, dass Beispiel Animal Lending
(Libraries now loan small, caged animals free of charge for one or two weeks.
, 3) für immer perdu ist. Baby Welcome Cards (7), die man oft von Fußball-Fanclubs kennt, gibt es dagegen hier und da. Die Idee wurde sogar, wie eine Google-Recherche sofort offenbart, auch schon mal zum Welcome Baby Brunch erweitert.
Manches aus dem Ideenpool wirkt naturgemäß reichlich antiquiert oder abseitig, beispielsweise die Idee, Standwaagen einzuführen (Weight control is of convenient way for students to keep track of it.
, 9), auch wenn man sich nicht ohne Melancholie daran erinnert, wie die Münz-Personen-Waagen im Berliner U-Bahnsystem mit dem unermüdlichen Rentner, der sie lange über ihre öffentliche Notwendigkeit hinaus pflegte und betrieb, 2011 verschwanden.1
Das zur Gewichtsprüfkultur gegenläufige Programm verbirgt sich hinter einem Hamburgers for Overdues
-Programm (59):
Rather than spend money on mailing overdue notices to patrons, one library is offering free hamburger coupons to those who return library materials. It is done in cooperation with a large fast-food-chain, which also tends to benefit from the idea. […] For promotional purposes, the food chain also offers free hamburgers to children who fulfill the library’s summer reading requirements.
Auch abgesehen davon, dass dieses Programm vegetarischen und veganen Ernährungsmodellen wenig Rechnung trägt, wirkt der Lies-Dich-Dick
-Ansatz nicht ganz ausgereift. Aber als Grundidee für gesundheitsfördende oder -neutrale Goodies kann man diese Public-Private-PR-Partnerschaft möglicherweise sogar etwas länger bedenken.
Bedenkenswert ist bei anderen Programmen vor allem die Bezeichnung: Books for Crooks
(16) klingt heute eher wie eine, mäßige, Saturday-Night-Live-Sketch-Idee und wenn man dazu liest, wie der Scope über Gefangenbüchereien ausgedehnt wurde, wird es noch befremdlicher: Bookracks were even set up in taverns.
Das heutige Pendant zu dieser Art Outreach wäre per Klischee wahrscheinlich der Gang zu einem Ort für Internationale Sportwetten.
In vielen gastronomischen Lokalen in Berlin wie unter anderem der sehr passend benannten Böse Buben Bar sammeln sich dagegen Bücher auch ohne Zutun der Öffentlichen Bibliotheken und zwar erfahrungsgemäß in deutlich größerer Anzahl als die Angehörigen des Gangsterwesens.
Unter dieser Buch-und-Schnaps-Idee findet sich dagegen etwas mit sogar wachsendem Potential erwähnt: Books with Meals-on-Wheels
(17), was genau das besagt, was der Name sagt: Bibliotheksbücher werden mit dem Essen auf Rädern ausgeliefert und abgeholt. Für alternde Gesellschaften ist das durchaus überlegenswert. Ähnliches findet sich unter Idee 63 – Home-Bound-Library-Delivery – und man sollte bei der Gelegenheit anmerken, dass angesichts der demografischen Entwicklung bestimmte Formen der Sozialen Bibliotheksarbeit keineswegs als überholt gelten müssen – oder sollten (siehe auch Idee 105 – Nursing home library).
Erwartungsgemäß kann man an der Ideensammlung schließlich Formen des Medienwandels gut nachvollziehen und sowohl als Avantgarde wie auch als Sackgasse. Sehr wegweisend wirkt die Idee Nummer 30 namens Computerized Book Circulation, die ein vernetztes System zwischen Haupt- und Zweigbibliotheken zur übergreifenden Recherche, Reservierung und Ausleihverwaltung vorschlägt inklusive telephonischer Bestellung. Und überhaupt wusste Dale E. Shaffer: Computers have great potential in libraries because of their ability to store information and cough it up on demand.
(Idee 95 – Micro-Computers) Das ist eindeutig ein Treffer.
Ganz aus der Mode, jedenfalls an der Schnittstelle zur alltäglichen Bibliotheksnutzung, sind dagegen die damaligen Zukunftsmedien der Mikroformen (unter anderem Idee Nummer 146 – Ultramicrofiche) und auch Videokassetten – as a new system of delivering information
– und Videodiscs (148) spielen heute so wenig eine Rolle wie morgen DVDs. Ein Satz wie
Libraries will soon be loaning movies such asJaws,The Sting,Airport, and manyhow-tofilms on videodiscs.
wird sich in wenigen Jahren vermutlich noch sonderbarer lesen, wenn sich Videostreaming als Standard durchgesetzt hat. Fast vergessen aber deswegen nicht uninteressant ist die Idee des Microfragrance Catalog (98). Allerdings ist die Idee in Bezug auf ihre Schilderung ausbaufähig:
By scratching the card under the subjectgarlic, for example, the patron receives a strong whiff of the potent herb.
Für das Geruchsarchiv von Sissel Tolaas wäre das dagegen ein sehr schönes Nachweismittel.2
Die Idee des Wire Service (153) muss dagegen auch zu den überholten Varianten zählen:
In the lobby of one public library you will see people watching the latest headline news from wire service dispatches. It is a common gathering place for office workers during lunch time.
Diese Versorgungsaufgabe haben dank 24-Stunden-Nachrichtensendern und Flachbildfernsehern heute zum Beispiel Berliner Spätis übernommen. Sehr aktuell und in Deutschland aus Sicht des Urheberrechts chronisch umstritten ist dagegen das Verfahren, dass unter Facsimile Transmission (47) und Photocopies by Mail (116) beschrieben und heute als Kopienversand auf Bestellung bekannt ist.
Anhand der genannten Beispiele dürfte deutlich werden, dass die Ideensammlung von skurrilen Konzepten zu sehr zeitgemäßen eine große Bandbreite besitzt. Die vielversprechenden Ideen sind vor allem solche, die die Zielgruppen als Community einbinden und aktivieren, vom Participative Management (112), Oral-History-Programmen (108) und zahlreichen Veranstaltungs- und Equipment-Programmen.
Will man die benannten Ideen grob gliedern in auf den Bestand bezogene (Bücher, Tiere, Pflanzen, Werkzeuge), auf Medien und Technologie bezogene (Computer, Video, Microform), auf Beratungs- und Informationsdienste bezogene (Inhaltsvermittlung, Beratungsdienste), auf den Bibliotheksbetrieb bezogene (Teilzeitarbeit, Gebühren, Ausbildung, Bibliotheksmarketing) und auf die Community bezogene (Veranstaltungen, Soziale Bibliotheksarbeit, Freiwilligenarbeit) so zeigt sich, dass besonders die die Community orientierten Ideen auch heute noch gute Ansatzpunkte bieten.
Aber eigentlich benötigt man Dale E. Shaffers Sammlung für diese Zweck nicht mehr so richtig. Mittlerweile gibt es eine riesige Vielfalt von Erfahrungsberichten und Handreichungen zur praktischen Umsetzung sowohl online wie auch gedruckt vom Thema Hunde in Bibliotheken
über The Green Library Planner
und Cosplay in Libraries
bis hin zur Bibliothek der dritten Lebensphase
. An die Stelle von Dale E. Shaffers kleiner Zusammenstellung kann man mittlerweile einige Regalmeter setzen. Dennoch gibt es Gründe, den Reprint des Handbook of Library Ideas
zur Hand zu nehmen. Er erhält seinen Wert heute einerseits als Zeitdokument und Zeugnis, dass eine kreative Orientierung im Bibliothekswesen als Schlüssel zur Zukunftsfähigkeit auch schon vor 40 Jahren ein Thema war. Und andererseits dadurch, dass er sich ganz unterhaltsam liest.
(Berlin, Mai 2017)
Ben Kaden ist Bibliothekswissenschaftler an der Universitätsbibliothek der Humboldt-Universität zu Berlin und Mitherausgeber von LIBREAS