Von allen meinen Bibliotheken ist in dieser wohl am meisten zu tun
, sagt Danilo Vetter, seit einem dreiviertel Jahr der Leiter der öffentlichen Bibliotheken im Berliner Bezirk Pankow. Pankow – das ist der in vielerlei Hinsicht legendäre Prenzlauer Berg. Pankow ist aber auch die Vorstadtwelt von Karow-Buch. Pankow ist auch Majakowski-Ring-Pankow. Pankow ist das aufstrebende Bürgerviertel Weißensee mit eben diesem und dem größten jüdischen Friedhof Europas. Pankow ist auch die bibliotheksfreie Landgemeinde Blankenfelde. Wir überlegen, wie wir diese Gegend möglicherweise mit einem Bus versorgen können.
Und zugleich: Die Bibliothek an der Schönhauser Allee ist deutlich zu klein. Sie wird regelrecht überrannt. Aber da etwas dazu zu mieten, ist illusorisch.
Danilo Vetter hat zahllose Baustellen, viel Arbeit hinter sich und noch nicht einmal richtig begonnen. Sein Büro liegt hofseitig in der oft vergessenen Plattenbauhälfte des Prenzlauer Berges. Die getönten Scheiben lassen es im Berliner Sommer zum Treibhaus werden. Die in den Ritzen des Blocks brütenden Spatzen ergänzen dieses Gefühl um eine Art Regenwaldtonspur. Gewöhnungsbedürftig ist dies zunächst, aber nicht ungemütlich. Es gibt Tee und wir schauen gemeinsam auf eine große Tafel. Die ist sehr gut gefüllt. Bestandsaufnahme trifft auf To-Do-Listen trifft auf Kinderzeichnungen, was fast zwingend wirkt, machen doch je nach Standort Kinderbücher bis zu 60 % der Entleihungen aus. Am meisten am Standort an der per Klischee mittlerweile wohlhabendsten Ecke des Bezirks – in der Bibliothek am Wasserturm an der Prenzlauer Allee. Warum eigentlich? Wo kultureller und materieller Wohlstand sich so gelungen verbinden, wie dort, braucht man doch die Bibliothek wohl nicht zwingend zur Medienversorgung? Bei Kindern ist das anders
, sagt Danilo Vetter. Die haben schon mal einen Durchsatz von zwanzig Büchern in der Woche. Die lesen nicht alle, aber die wollen alle durchblättern.
Und diese Quantitäten will nun auch jemand mit finanziell sehr gefüttertem Hausstand nicht im Kinderzimmer anhäufen. Daher die Bibliothek, die als willkommener Dienstleister sehr zentral und gut erreichbar liegt.
Dienstleister ist das Stichwort, das vielleicht nicht auf eine Faustregel, aber doch immerhin eine empirische Auffälligkeit hinführt: Das Anspruchsdenken ist in diesen Gegenden schon merklich höher. Die Nutzer_innen fordern mehr, dass die Bibliothek in ihrem Dienst steht. Was vor allem die Mitarbeiter_innen herausfordert, die größtenteils in einem anderem Bibliothekssystem, nämlich dem der DDR, gelernt haben. Diese Dynamik gilt es aufzufangen und wir lernen alle immer sehr viel dazu.
Dass das Bibliothekssystem in Pankow lange Jahre ohne richtige Leitung war, ist für diese Praxis gar nicht nur schlecht. Man lernte, sich selbst zu organisieren.
Obwohl eine solche Aussage vermutlich mehr in Richtung Zweckoptimismus weist. Und die Frage aufwirft, ob sich die Mitarbeiter_innen dann aber motiviert unter einer neuen Leitung zusammenfinden? Zum einen sind alle erleichtert, dass es wieder eine Leitung gibt. Und zum anderen ist mein Ansatz bewusst inklusiv. Ich habe die ersten Monate genutzt, um mich wirklich mit allen zu Einzelgesprächen zu treffen.
Es gab Tee, Signale des aufrichtigen Interesses, die Bereitschaft zum Zuhören und dank dieser Mischung den Abbau von Vorurteilen und Ängsten. Das war schon eine interessante Erfahrung. Das Bibliothekswesen im Bezirk war über Jahrzehnte vor allem durch Abbau, Einsparungen und Kürzungsmaßnahmen gekennzeichnet. Einzelgespräche in diesen Einrichtungen bedeuteten nie etwas Gutes. Entweder wurde eine Umorientierung angeregt, eine Schließung verkündet oder man sah, dass ein Verwaltungsmitarbeiter hinter dem eigenen Namen ein kw (Kann weg) vermerkt hatte.
Andere Denkweisen, Arbeitsweisen und auch ein anderes Aussehen kann zunächst Irritationen und Verunsicherung auslösen, so beschreibt Vetter seinen Einstieg. Jeder neue Leiter, der vor diesem Erfahrungshorizont zum Gespräch einlädt, bekommt zwangsläufig einen Misstrauensvorschuss. Der jedoch ließ sich, so die Auskunft, in allen Fällen zerstreuen. Dazu gehört auch, jeder_m Mitarbeiter_in das Du
anzubieten, um auf Augenhöhe kommunizieren zu können, was von nahezu allen so angenommen wurde. Es war für die Mitarbeiter_innen eine gänzlich neue Erfahrung, im Chef ein wirklich interessiertes Gegenüber zu finden, dem man vertrauen kann und sollte, weil er es sehr sehr gut meint. In manchen Fällen brauchte das drei Termine, bei anderen nur eine halbe Stunde. Für weiteren oder tiefergehenden Gesprächsbedarf bietet der Bezirk Pankow sogar eine psychologische Beratung an, eine Berater-Flatrate, die telefonisch oder in persönlichen Gesprächen von den Mitarbeiter_innen genutzt werden kann. Ein sehr sinnvolles Angebot, zumal sich manche Konflikte und die damit verbundenen Emotionen bereits seit Jahren aufstauen und nicht immer nur noch in Mitabeiter_innen-Gesprächen abgefangen werden können. In diesen Gesprächen geht es vorwiegend um Emotionen, um ein aktuelles Stimmungsbild, aber auch darum zu lernen, Emotionen überhaupt zu äußern und eine Atmosphäre zu schaffen, in der man dies kann. „Ich bin jemand, der total auf gewaltfreie Kommunikation steht. Und das ist etwas hoch emotionales. Ich benenne mein Gefühl, was ich in dem Moment habe und bringe es nach außen." So beschreibt Danilo Vetter seine Kommunikationsstrategie, bei der es darum geht, Kritik zu üben, ohne jemanden zu verletzen und trotzdem seine Gefühle äußern. Dabei ist Vetter bewusst, dass gewaltfreie Kommunikation durchaus auch etwas Manipulatives hat.
Dass so eine Leitung nicht als Dienst nach Vorschrift, sondern teils auch als Dekonstruktion der Vorschrift angegangen werden muss, war Danilo Vetter von vornherein ebenso bewusst, wie das akute Schwinden der Zeit für viele andere Dinge. Es ist eine wirkliche Vollzeitstelle und das Auf-der-Strecke-Bleiben der eigenen Nutzung einer Öffentlichen Bibliothek im eigenen Kiez ist dabei vielleicht der unwichtigste Nebeneffekt. Dies spiegelt aber wieder ein akutes Problem für das ihm anvertraute Bibliothekssystem: Es ist natürlich nicht optimal, dass unsere Öffnungszeiten parallel zu normalen Arbeitszeiten laufen und wir nur sehr eingeschränkt zum Beispiel am Samstag öffnen. Viele potentielle und tatsächliche Nutzer_innen haben damit ihre Probleme und verstehen es auch oft nicht so richtig. Andererseits sind erweiterte Öffnungszeiten sowohl verwaltungs- wie auch personaltechnisch eine enorme Herausforderung. Die Abrechnung eines Wochenenddienstes kostet mich mehr, als es an Zuschlägen einbringt. Und auch die Mitarbeiter_innen brennen nicht alle darauf, am Samstag Dienst zu haben.
Dass einige Engpässe durch Ehrenamtliche aufgefangen werden, sieht Danilo nicht als problematisch an, zumal ein Standort im Bezirk seit Jahren ausschließlich durch Ehrenamtliche geführt wird. Sicherlich schürt der Einsatz von Ehrenamtlichen auch dahingehend Ängste bei den Mitarbeiter_innen, dass sie ersetzbar sind und der Bezirk auf diese Art ausgebildetes Personal einsparen könnte. Eine Ehrenamtlichen-Bibliothek sei aber erstmal besser als keine Bibliothek, so Danilo sinngemäß. Und er verbindet damit die Hoffnung, die derzeit so betriebene Kurt-Tucholsky-Bibliothek im Bötzowkiez eines Tages re-professionalisieren zu können. Denn auf lange Sicht nachhaltig ist ein auf Freiwilligkeit setzender Bibliotheksbetrieb naturgemäß nicht. Und das Verfahren eignet sich auch kaum, um aktuelle Trends der Bibliotheksentwicklung in diesen Betrieb einzubringen.
Aber das ist auch bei den hauptamtlichen Häusern aus verschiedenen Gründen nicht immer leicht. Bauliche Probleme – so zum Beispiel die Herausforderung, einen auch außerhalb der Öffnungszeiten nutzbaren Rückgabeautomaten installieren zu können – treffen auf unterschiedliche Vorstellungen zur Internetnutzung. Und schließlich kollidieren hier und da auch einfach Vorstellungen, was eine Öffentliche Bibliothek eigentlich sei. Auch hier setzt Danilo auf das Gespräch und lädt schon mal den Datenschutzbeauftragten des Bezirks zum Kennenlerngespräch ein – ein Novum für beide Seiten, denn auch der Beauftragte wird denkbar selten angesprochen, wenn es nicht gerade ein akutes Problem gibt. Vertrauensbildende Maßnahmen sind ein Verfahren, dass man nicht unterschätzen sollte, auch wenn Langzeiterfahrungen in diesem Fall erst noch entstehen müssen.
Interessant wird es, diesen Schritt auch stärker mit den Nutzer_innen weiterzuentwickeln. So klingt es erst einmal gut, dass Ticketing-System für die wenigen, natürlich zu wenigen, Webterminals abzuschaffen und eine unbegrenzte Nutzung zuzulassen. Das Problem ist jedoch, dass hier der frühe Nutzer auch die Maus manchmal den ganzen Tag nicht mehr loslässt und andere Nutzer_innen nach zwei Stunden Wartezeit entweder ihre Frustration ventilieren oder einfach frustriert gehen. Hier wünscht sich Danilo, dass auch die Nutzer_innen achtsamer sind und wissen, dass die Infrastruktur nicht ihr Privatbesitz ist. Und er plant die Anschaffung von Tablets, um den Bedarf auffangen zu können. Im Zuge des Projektes Digitale Welten
wurde bereits ein iPad-Koffer angeschafft und auch ein Budget für Apps ist vorhanden.
Andere außerplanmäßige Ausgaben können beziehungsweise müssen auch durch Praktikant_innen erledigt werden. Danilo arbeitet sehr eng mit diesen zusammen und lässt sie an seinem Alltag als Leiter teilhaben, so dass sie einen sehr guten Einblick in eine zukünftige Tätigkeit als leitendes Personal einer Öffentlichen Bibliothek gewinnen können. Diese Erfahrungen sind vor allem für Studierende der Bibliotheks- und Informationswissenschaft sehr wertvoll, da das Curriculum nicht unbedingt solche Aspekte der Öffentlichen Bibliotheksarbeit umfasst und die Studierenden gerade erst den Versuch, die Bibliothek ganz aus dem Institutsnamen zu streichen, abgeblockt haben. Das Thema Öffentliche Bibliotheken scheint zwar im stadtgesellschaftlichen Rahmen wieder an Bedeutung zuzulegen. Im akademischen Kontext der Bibliothekswissenschaft wird sie aber seit mindestens 15 Jahren marginalisiert, was nicht nur viele Studierende des Faches kurzsichtig finden. Aber das wäre ein anderes Thema.
Oder auch nicht, denn Danilo spürt, wie der Stand der gegenwärtigen Ausbildung ist, schon daran, dass es nicht immer einfach ist, geeignetes Personal zu finden. Momentan gehen die Überlegungen eher dahin, Medienpädagog_innen oder Sozialarbeiter_innen einzustellen, da diese einfach für den konkreten Bedarf passender erscheinen und das Bibliothekspersonal sehr gut ergänzen würden. Öffentliche Bibliotheken sehen sich sicher auch mit Phänomenen der Digitalisierung konfrontiert. Aber die Idee, dass sie irgendwann plattformbasierte Digitale Bibliotheken seien werden, ist, wie man sofort beim Betreten der Einrichtungen feststellt, komplett abwegig. Die reine Informationsversorgung ist nur ein Facette und möglicherweise sogar eine nachgeordnete. Natürlich wollen die vorwiegend Männer, die ab morgens um zehn die Tagespresse im Leseraum über der Greifswalder Straße durchblättern, auch informiert sein. Aber vielen scheint der Gang zur Zeitung in der Bibliothek auch ein tägliches Ritual zu sein, das dazu beiträgt, ihren Tag zu strukturieren. Die Bibliothek ist hier vermutlich schon ein Dritter Ort, vielleicht für viele sogar nur der Zweite. Sie ist spürbar für viele auch eine Teilhabeeinrichtung, was sich unterschiedlich manifestiert und nicht immer nur zu harmonischen Situationen führt.
Noch eine Herausforderung also für den neuen Leiter. Und auch die gilt es zu integrieren, in die Entwicklung bedarfsgerechter Dienstleistungen für die realen und nicht nur idealtypischen Zielgruppen der Bibliotheken. Umsetzen lässt sich das natürlich nur mit leidenschaftlichen und motivierten Mitarbeiter_innen. Nicht alle von ihnen brauchen unbedingt viel Schwung durch den Bibliotheksleiter. Bei vielen Mitarbeiter_innen fällt ein, wie man so schön sagt, intrinsischer Antrieb geradezu auf und es wird wohl nicht nur ein Danilo-Vetter-Effekt sein. Wer in dieser Branche aktiv ist, ist schon frühzeitig damit konfrontiert, eher wenige Aussichten auf große Gehaltssprünge und Karriereschritte zu haben. Wer hier einsteigt ist durch etwas anderes motiviert. Ein Dienst nach Vorschrift ist weder gewünscht noch möglich. Überstunden lassen sich so gut wie nicht vermeiden. Danilo Vetter kämpft darum, dass sie wenigstens fair vergütet werden. Bei Neueinstellungen achtet er übrigens besonders darauf, was dies bei den jeweiligen Bewerber_innen ist. Das Hobbie Bücher lesen
begeistert ihn dabei übrigens nicht besonders. Die Öffentliche Bibliothek mag sich nach wie vor über das Medium Buch definieren. Aber gerade für die Verknüpfung mit der Stadt und ihren Menschen ist eine größere Vielfalt der Interessen und Anknüpfungspunkte nicht nur ein Bonus.
Dennoch brauchen auch die Motiviertesten Führung in ihrem positivsten Sinne, nämlich, dass ein Einverständnis darüber besteht, was man sein will, was man leisten kann und möchte und wie man den Veränderungen, und zwar auch denen im Kiez, in der eigenen Arbeit begegnet. Ein Beispiel ist eine völlig neue Gruppe von Nutzer_innen, die seit 2015 durch Bibliotheken auch in Pankow adressiert wird: Geflüchtete. Besonders in Berlin-Buch wird in diesem Zusammenhang deutlich, wie sehr eine Stadtbibliothek auch eine Funktion der stadtgesellschaftlichen Gestaltung übernehmen kann und vielleicht auch muss.
Das gilt im übergeordneten Zusammenhang natürlich nicht nur für die kleine Zweigbibliothek im Norden des Bezirks, sondern für alle Pankower Bibliotheken – in jeweils sehr unterschiedlichen Formen und vor allem mit unterschiedlichen Voraussetzungen. An der einen Stelle können vielleicht Makerspaces installiert sein. An einer anderen geht es klassisch um Leseförderung. Woanders ist die Bibliothek kultureller Anlaufpunkt der Senioren aus der Nachbarschaft. Und an manchen Stellen stehen eben die anspruchsstarkten Eltern aus dem Kollwitz-Kiez am Tresen. Konflikte, emotionale Spannungen treten auch – und oft auch gerade bei stark bei hochmotivierten Mitarbeiter_innen – auf. Wer sich sehr mit seiner Arbeit identifiziert, ist zwangsläufig auch in jeder Hinsicht leidenschaftlicher beteiligt. So ist ein nicht zu unterschätzender Teil der Arbeit eines Bibliotheksleiters, einer Bibliotheksleiterin, zu vermittlen, zu lenken, auf- und abzufangen und Lösungen zu finden, bei denen alle zumindest das Gesicht und vor allem auch die Motivation behalten. Für Danilo Vetter wird dies vermutlich auch bedeuten, seine eigenen Vorstellungen von der idealen Bibliothek hier und da zurücknehmen zu müssen. Sein großes Ziel, so wie wir es aus unserem Gespräch verstanden haben, wird er aber hoffentlich möglichst kompromisslos durchsetzen: Die Bibliotheken des Bezirks Pankows als einen Ort des positiven, produktiven sozialen Miteinanders von Nutzer_innen, Mitarbeiter_innen und der Stadtgesellschaft insgesamt zu etablieren. Oder, vielleicht noch knapper, als einen der Freude.
Linda Freyberg ist Doktorandin am Promotionskolleg Wissenskulturen / Digitale Medien der Leuphana Universität Lüneburg, Stipendiatin im Rahmen des Professorinnenprogrammes am Urban Complexity Lab (FH Potsdam) und Redakteurin der LIBREAS.Library Ideas.
Ben Kaden ist Bibliothekswissenschaftler an der Universitätsbibliothek der Humboldt-Universität zu Berlin und Mitherausgeber von LIBREAS.