> > > LIBREAS. Library Ideas # 30

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Bibliothek und Poesie

Rezension zu: Raymund Dittrich (Hrsg.) (2016): Bibliothek der Dichter. Eine Auswahl deutschsprachiger Bibliotheksgedichte vom 16. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Leipzig: Engelsdorfer Verlag


Zitiervorschlag
Ben Kaden, "Bibliothek und Poesie. Rezension zu: Raymund Dittrich (Hrsg.) (2016): Bibliothek der Dichter. Eine Auswahl deutschsprachiger Bibliotheksgedichte vom 16. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Leipzig: Engelsdorfer Verlag". LIBREAS. Library Ideas, 30 ().


Dass sich ein festes Band zwischen dem Schreiben von Büchern und der Idee der Bibliothek ergibt, ist nahezu unvermeidlich. Gerade das sinnliche Erleben des Raums der Bibliothek scheint wenigstens bis tief in das 20. Jahrhundert hinein eine tiefe Wirkung auf Schreibende ausgeübt zu haben. Ob die Schreibpraxis im 21. irgendwo an diese Raum-Schreibakt-Beziehung anzuschließen vermag, wird sich erst zeigen müssen und zwar auch daran, welche Räume tatsächlich genutzt werden. Dass Raum auf Schreiben wirkt, ist offensichtlich. Aber ob es der Raum einer Bibliothek sein wird und welche Form und welche Grade der Sinnlichkeit dieser überhaupt haben wird, ist nicht vorherzusagen. Die erhabene Konzentration und Stille des Lesesaals gibt es noch. Aber sie ist für Bibliotheksnutzerinnen und -nutzer nur noch eine Option von diversen Zugängen.

In der Rückschau jedenfalls zeigt sich: wo sinnliche Wirkung vorliegt, entsteht gern auch Poesie und nicht selten verbindet sich diese auch mit Zwischenmenschlichem.Wir saßen häufig in derselben Bank… eröffnet Helmut Richter sein so harmloses wie schönes Gedicht In der Deutschen Bücherei zu Leipzig aus den 1960er Jahren. Ähnlich, aber deutlich direkter tritt Alfred Andersch eine Lesesaalfantasie los: eine schöne Studentin / hinter einem Haufen Bücher. (Lesesaal, 1977)

Wer diesen Spuren etwas folgt, sammelt zwangsläufig schnell eine ganze Reihe von Belegen für die Bibliothek in der Literatur zusammen. Besonders dann, wenn man für beide Welten, Bibliothek und Literatur, sensibel ist.

Auf Raymond Dittrich, Bibliothekar an der Bischöflichen Zentralbibliothek in Regensburg, trifft das augenscheinlich zu. Ausgangspunkt war für ihn Rainer Malkowskis Gedenkblatt für eine Bibliothek, eine Erinnerung an eine Kindheit in Westberlin und - Am schönsten war es im Winter, / […] Von der zugigen Plattform der Linie 96/ sprangen wir in die warme Welt der Bücher - offensichtlich auch eine Erinnerung an die Straßenbahnen im Westteil der geteilten Stadt. Im Monat des Jahres 1961 fuhr die 96 dann letztmalig am Blücherplatz und damit an der Amerika-Gedenkbibliothek vorbei, während der junge Rainer Malkowski zur Zeitung ging und Berlin Richtung Frankfurt/Main verließ. Es folgte die Sammlung einer erstaunlichen Zahl von Bibliotheksgedichten vom 16. Jahrhundert bis fast heute, die nun in der Anthologie Bibliotheken der Dichter vorliegt. Die Maskulinform des Titels ist leider ein Wermutstropfen und irgendwie Programm, überwiegt doch der Anteil des männlichen Blicks auf Buch und Bibliothek erheblich (das Verhältnis Dichter : Dichterinnen beträgt rund 8:1), was aber eher ein literaturgeschichtliches Problem sein dürfte, als eines desjenigen, der die Lese aus dem verfügbaren Material vornimmt.

Ebenso offensichtlich ist, dass ein Anspruch auf Vollständigkeit für eine solche Annäherung weder erwartet werden kann noch notwendig ist. Die Sammlung ist in der vorliegenden Fassung außerordentlich umfassend und vermutlich die umfangreichste publizierte zum Thema Bibliotheksgedicht. Die Kriterium der thematischen Auswahl führt naturgemäß in eine erhebliche und sehr inklusive Bandbreite an literarischer Qualität, die durch das Nebeneinandersetzen von Texten noch deutlicher wird. Zugleich liegt darin ein eigener Reiz und eine Entsprechung zur Idee der Bibliothek als inklusivem Ort.

Sophie Leutenstorfer, die jüngste in der Sammlung enthaltene Autorin, ist Jahrgang 1992 und spürbar noch auf dem Weg zu einer eigenen Sprache. Aber eben auch das Werden gehört dazu. Zudem greifen Gedichte auf verschiedenen Ebenen und wer einen ostdeutschen Hintergrund hat und die Erinnerung der aus Altenburg stammenden Dichterin Kristina Stanczewski (geboren 1978) an ihren Gang in die Bibliothek in der Erich-Mäder-Straße, wo die bis heute nachwirkenden (und schwer zu bekommenden) Bücher des Zauberland-Schöpfers Alexander Wolkow, gleitet unwillkürlich in einen Zustand des Vertrauten (Wolkow nur mit Warteliste, Erstveröffentlichung).

Zugleich entstehen intertextuelle Brücken. Wo sich Kristina Stanczewski erinnert Mehr als drei [Bücher] auf einmal war’n nicht drin erhebt sich zugleich ein Echoraum zu Rita Doves Zeile greedily: six books, six volumes of bliss (Maple Valley Branch Library, 1967) und in gewisser Weise die Vermutung, dass frühbiografische Begegnungen mit dem Phänomen der öffentlichen Bibliothek ganz universell prägend wirkten.

Parallel sammelt der Band sehr intensiv scharf an der Sprache operierende VertreterInnen der Dichtkunst, von Thomas Kling und Wulf Kirsten bis zu Ernst Jandl oder auch Ron Winkler. Und unvermeidlich entdeckt man auch Gottfried Benns delirierende Staatsbibliothek, dieses Satzbordell und eines der bekanntesten und einprägsamsten Exemplare der Bibliothekslyrik.

Was, wie eingangs angedeutet, auffällig fehlt, ist die jüngste und mittlerweile auch schon wieder mittelalte Variante der Bibliothek, nämlich die digitale. Wurde der bücherlosen Bibliothek … je ein Gedicht gewidmet? fragt der Herausgeber. Eventuell braucht dessen Entstehung noch Zeit, denn generell befinden sich das Digitale und das Poetische noch in einer Kennenlernphase und aufgrund der reduzierten Sinnlichkeit der binärcodierten Lebenserfahrung und dem Hunger nach Spürbarem seines Gegenparts kann es noch eine Weile dauern, bis Post-Internet-Lyrik mit einem gewissen Berührungspotential vorliegt. Bislang stehen das Digitale und das Poetische eben im Gegensatz, in ihrer eigenen Meta-Binarität, und es gilt Gail Mazurs Einsicht aus dem Gedicht Inventory: your data will never add up—Clarity, I think we’re done here. Eine mögliche Spur liegt darin, diese antagonistische Verhältnis zu thematisieren, wie es Robyn Schiff in ihrem soziophoben Text H1N1 unternimmt: being read from the book of life, / which is available on Kindle / and allows me to avoid the public library.

Aber vielleicht schaut man auch einfach an der verkehrten Stellen und die Poesie ist längst in animated Gifs visualisiert vorhanden und zwar auch mit Bezug zum Phänomen der Bibliothek. Möglicherweise ist die digitale Poesie etwas, das sich außerhalb der Lyrikkabinette und Literaturhäuser entfaltet, weil sie ohnehin mehr in Bildern und Loops spricht und nicht in Strophen. ganz leise leise kurz blink blink kurz kurz ganz kürzest / ist es da und blink blink geklimpert / schon ist es wieder fort - vielleicht fasst es Judith Nika Pfeifers blinkts aus dem Jahr 2012 bislang am passendsten. Aber von der Bibliothek erzählt es nichts. Die Frage, wie die Poesie der digitalen Bibliothek aussehen wird, bleibt vorerst unbeantwortet.

Aus dieser Perspektive ist die Sammlung zu den Bibliotheken der Dichter auch eine der Erinnerungen, ein willkommener Zeitspeicher, der an einer außerordentlich deutlichen Schnittkante der Entwicklungen dessen, was wir unter Bibliothek verstehen, erschien, hoffentlich noch in den Bestand gelangt, um dort in aller Selbstreferentialität in eine medial und auch poetisch sehr offene Zukunft zu übersetzen.

Quellen

Rita Dove: On the Bus with Rosa Parks. New York: Norton, 1999

Gail Mazur: Forbidden City. Chicago; London: The University of Chicago Press, 2016

Judith Nika Pfeifer:nichts ist wichtiger / ding kleines du. Wels: mitter verlag, 2012

Robyn Schiff: A Woman of Property. New York: Penguin, 2016

Alle weiteren zitierten Gedichte stammen aus dem besprochenen Band.