Der Bibliotheksbau ist sowohl für das Bibliothekswesen als auch die Stadtgestaltung ein naturgemäß zentrales und idealerweise unübersehbares Thema. Zahlreiche Bibliotheksneubauten der jüngeren Zeit stützen diese Annahme. Für LIBREAS ist es nicht zuletzt deshalb ein besonderes Feld, weil es die erste Ausgabe1 prägte. Jahre in Berlin durch drei große neue Universitätsbibliotheksneubauten geprägt wurde: Das Brain
der Freien Universität, die Volkswagen-Lesefabrik der Technischen Universität und schließlich das Grimmzentrum der Humboldt-Universität. Dazu gesellte sich wenig später das Spektakel des neuen Lesesaals in der Dauerbaustelle der Staatsbibliothek Unter den Linden.
Mittlerweile hat das Baufieber der Hauptstadt freilich den Bereich der Bibliotheken wieder verlassen. Zugleich, so scheint es, entschwand das Thema fast parallel auch der lokalen Bibliothekswissenschaft. Jemand, der dennoch lange durchhielt und noch immer durchhält, ist der Architekt Rolf Ramcke, der, so der Eindruck, für viele Studierende des IBI die charismatischste Figur war, die sie während ihrer Studienzeit als Lehrkraft erleben durften und dürfen, was sich nicht zuletzt daran zeigt, dass seine Kurse durchaus von Gasthörerinnen und Gasthörern besucht werden. Folgerichtig enthält die aufwendige und sehr schöne, nun im Jovis Verlag erschienene Monografie zu Werk und Wirken Rolf Ramckes einen umfangreichen Abschnitt zu Lehre und Veröffentlichungen, den die Literaturwissenschaftlerin (und Bibliotheksleiterin) Katja Stopka mit einem sehr persönlichen Text einleitet und in dem sie zugleich die Essenz des Lehrverständnisses von Rolf Ramcke benennt:
Mir war die Bibliothekswissenschaft plötzlich zu einem der aufregendsten Fächer geworden, da mir schien, dass sich nirgends anders als in der Baugeschichte von Bibliotheken die europäische Kultur- und Wissensgeschichte greifbarer und plastischer machen ließe.(S. 357)
Die gebaute Bibliothek als Schlüssel zum Verständnis von Kultur und Wissensgeschichte und die Bibliothekswissenschaft in gewisser Form als Hermeneutik dieser Raum gewordenen Textpraxis – allein das wäre ein grandioses Forschungsprogramm, welches allerdings heute eher in der Kulturgeschichte beheimatet ist. Das ist durchaus bedauerlich, wenn man sinnvollerweise davon ausgeht, dass dieser Ansatz eine feste Traditionslinie bis in die Gegenwart spannen und heutige Entscheidungen zu Gestaltung von Kultur- und Wissensräumen, ergo Bibliotheken, prägen könnte beziehungsweise sollte. Die Digitale Gegenwart und damit auch die Digitalen Bibliotheken werden nicht selten als zutiefst disruptiv bezeichnet, meist ohne tiefere Begründung dieser Zuschreibung, und der reale Raum nicht selten als obsolet, was sich auch für Bibliotheken längst als Kurzschlussannahme erwies. Auf eher kürzere als lange Sicht könnte sich der ahistorische Oberflächen-Solutionismus der Digitalwirtschaft und ihren Fans, dem vor 10 bis 15 Jahren die Bibliothek 2.0 und ähnliche Entwicklungen meist völlig kritikfrei huldigten, als Sackgasse erweisen.
Dass Bibliotheken heute nach wie vor in Beton gegossen werden, zeigt immerhin, dass die Bibliothek als Ort bisher keinesfalls ein Auslaufmodell ist. Und wo solche Orte entstehen, bleiben die drei Schlüsselanforderungen des Gestaltungsverständnisses, das Rolf Ramcke 1981 in der ZfBB formulierte und das im vorliegenden Band abgedruckt wurde, frisch: Die Bibliothek muss, erstens, nutzbar sein, also dem Leser als strukturierter und navigierbarer Raum mit klaren Leitmerkmalen differenziert entgegen treten. Zweitens ist die Aufgabe der Bibliothek die Anregung. Information ist auf Stimulanz angewiesen
, weiß Rolf Ramcke zu berichten und Ideen wie die der Diskursökonomie unterstreichen dies nicht nur für die allgemeine Literaturvemittlung. Und schließlich gilt, drittens, Ein Bibliotheksgebäude sollte ermöglichen, daß der Benutzer sich in ihm zuhause fühlt.
Dieser Dreistufentest – Kann ich mich orientieren?, Bekomme ich Lust, zu lesen (beziehungsweise zu rezipieren)? und Fühle ich mich wohl in diesem Raum? – sind die denkbar handlichste Grundlage einer individuellen Architekturkritik des Bibliotheksraumes und nicht nur sehr alltagstauglich sondern auch immunisierend gegenüber eventuellen Selbstdarstellungs- und Autoritätsgesten, die Architekten noch häufiger als Architektinnen sehr gern einem öffentliche Gebäude einschreiben.
Die beiden realisierten Bibliotheksentwürfe des Architekten müsse sich daran natürlich ebenfalls entsprechend messen lassen, wenngleich die Einschätzungen auf halber Strecke zwischen den im Band ausführlich vorgestellten Bauten der Erweiterung der Stadtbibliothek Hannover aus dem Jahr 1974 und der Zentralbibliothek der Fachhochschule Dieburg aus dem Jahr 1994 formuliert wurde. Anhand der Darstellung im Band scheint der Anspruch erwartungsgemäß im zweiten Fall besser realisiert zu sein als im ersten. Genaueres könnte freilich erst nach einer vergleichenden Begehung feststellen, wofür leider nicht die Gelegenheit gegeben ist.
Beide Bauten kennzeichnet in jedem Fall und besonders, wie Christoph Tempel in seiner Beschreibung herausstellt, ein Bewusstsein für die Rolle des natürlichen Lichts für die Bibliotheksnutzung. In Hannover lag ein weiterer Schwerpunkt auf dem Farbkonzept, das mittlerweile dadurch Schaden nahm, dass „der farbige Teppichboden entfernt und durch einen grauen Nadelfilz ersetzt wurde“. (S. 143) Die Bibliothek der FH Dieburg greift den Gedanken einer in den Raum hineinwirkenden Außenwelt noch stärker auf: „Im Tageslauf der Sonne durchwandert von den Fensterbändern her ein lebendig differenziertes Licht den Raum, was ermüdungsfreies Arbeiten erleichtert und neben der zweckvollen Gestaltung und den übersichtlich angeordneten Beständen den Hauptanreiz bietet, die Bibliothek als Arbeitsort zu nutzen.“ (S.157)
Das grundlegende und sehr elaborarierte Architekturverständnis von Rolf Ramcke, das sich sowohl im Titel der Monografie – Zweckform wird Ornament – auf die kürzest mögliche Form kondensiert und sehr detailliert in einem im Band enthaltenen Gespräch dargestellt findet, prägt deutlich und sehr konsistent alle dargestellten Entwürfe und Bauten bis hin zum nur vermeintlich unscheinbaren Wetterhäuschen im Tiergarten von Hannover und sogar in der Mauerwerksgestaltung für den Sand- und Fettfang des Klärwerks Herrenhausen. Christoph Tempels umfangreiche Werkschau und Materialsammlung dürfte das definitive Werk zum Schaffen Rolf Ramckes sein.
Darüber, warum dieser sich in seiner theoretischen Arbeit ausgerechnet in die Nische des Bibliotheksbaus orientierte, kann man angesichts der Vielfalt seiner Bauten allerdings nur mutmaßen. Sicher spielt der obens zitierte Blick auf die kultur- und wissensgeschichtliche Dimension der Bibliothek als Ort eine maßgebliche Rolle. Wer Rolf Ramcke kennt, weiß, dass er sich weniger dem engeren Kreis der Architekten hingezogen fühlt, sondern nicht wenige Spuren dessen zeigt, was man früher als Polyhistor (oder im Englischen Renaissance Man) bezeichnet hätte. Die Bibliothek ist daher vielleicht die einzige Bauform, die alle für ihn kulturgeschichtlich interessanten Anschlüsse ermöglicht. Unabhängig davon, ob es sich wirklich so verhält, war die Entscheidung Rolf Ramckes, im Wintersemester 1975/76 einen Kurs zum Thema Bau und Einrichtung von Bibliotheken für die Studierenden im Institut für Bibliothekarsausbildung der Freien Universität Berlin zu geben und diese Linie bis heute fortzusetzen, eine Glücksfall für die deutsche Bibliothekswissenschaft und mehr noch für eine sehr große Zahl von Absolventinnen und Absolventen dieser Disziplin. Wenig überraschend unterstreicht die vorliegende Monografie diesen Eindruck sehr deutlich.