> > > LIBREAS. Library Ideas # 28

Gebaute Signatur: Die Seattle Public Library von Rem Koolhaas

Dass sich der Leser im Freihandmagazin einer Bibliothek heute selbst mit Büchern versorgen kann, ist das Ergebnis eines langwierigen Prozesses der sukzessiven Öffnung, die in den USA begonnen hat. Seither entfallen Umwege und Wartezeiten bei der Buchausgabe aus dem geschlossenen Magazin. Doch inwiefern verändert der unmittelbare Zugriff auf das Buch die Bewegungsabläufe in der Bibliotheksarchitektur? Die 2004 fertiggestellte Seattle Public Library des Office for Metropolitan Architecture (OMA) verleiht der Suchbewegung zwischen den Beständen erstmals eine adäquate architektonische Struktur. Im Handmagazin der Stadtbibliothek verbinden sich Signatur und Wegführung – bibliothekarische und architektonische Lenkung des Lesers – zu einem einheitlichen Leitsystem.


Zitiervorschlag
Tina Zürn, "Gebaute Signatur: Die Seattle Public Library von Rem Koolhaas". LIBREAS. Library Ideas, 28 ().


Abb. 1

Abb. 1

Entwurfsprozess

Ein Blick auf den Entwurfsprozess der Seattle Public Library verdeutlicht die Gliederung der Baumassen und die Verteilung der Funktionen. Zu Beginn der Planungen haben Rem Koolhaas und sein damaliger Büropartner Joshua Prince-Ramus die Defizite des Vorgängerbaus analysiert, dessen Funktionsbereiche in unterschiedlichen Etagen verstreut lagen. Das Schaubild (Abb. 2), welches die Binnengliederung illustriert, erinnert an das Defragmentierungsprogramm des Betriebssystems Windows. Es bündelt verstreute Daten und fasst sie zu Datenblöcken zusammen, um die Zugriffszeit zu verkürzen und die Speicherkapazität zu erhöhen. Analog dazu funktioniert das Schema der Architekten, mit dessen Hilfe die Abteilungen des Vorgängerbaus neu gruppiert werden. Die Bereiche sind sedimentartig aufgeschichtet und zu kompakten Funktionseinheiten zusammengefasst, um die Zuständigkeiten und deren Lesbarkeit zu verbessern.

Abb. 2

Abb. 2

Die Grundstruktur basiert auf gestapelten Boxen unterschiedlicher Größe, die häufig mehrere Stockwerke umfassen (Abb. 3). Wo eine der Boxen über die nächste hinausragt oder hinter diese zurückweicht, bilden sich Vor- und Rücksprünge, die die Oberfläche des Baus beleben. Auf diese Weise wird zugleich die Licht- und Schattenverteilung im Innern an den Bedarf angepasst. Im Bereich der Leseplätze vergrößert sich der Lichteinfallswinkel, da die darüberliegende Ebene zurückversetzt ist und Tageslicht von oben einlässt. Umgekehrt treten Bereiche, die für die Bildschirmarbeit oder für Konferenzen genutzt werden, von der Gebäudekante zurück, so dass sie von der folgenden Ebene verschattet werden und so vor direkter Sonneneinstrahlung geschützt sind.

Da die einzelnen Funktionseinheiten nicht unmittelbar aufeinandergeschichtet sind, sondern einen bestimmten Abstand zueinander einhalten, entstehen zwischen den Boxen Lufträume unterschiedlicher Höhe, die als multifunktionale Informationsebenen genutzt werden: The four ‚unstable’ spaces between the platforms function as trading floors, where librarians inform and stimulate, where the interface betweeen different platforms is organized – spaces for work, interaction, and play (and reading).1

Abb. 3

Abb. 3

Ausgangspunkt des Entwurfs ist also die Bündelung der Aufgaben, die zu Plattformen zusammengefasst und in einem Funktionsdiagramm veranschaulicht werden.

Ein Bücherstapel im Straßenraum

Die Fassade der Central Public Library zeigt sich als markante Kubatur im Stadtbild von Seattle. Wie ein locker aufgeschichteter Bücherstapel liegt sie an einer jener steil ansteigenden Straßen, die die Innenstadt von Seattle unverwechselbar machen. Während sich die Bürotürme der Nachbarbauten senkrecht in den Himmel strecken und formal nicht auf das starke Gefälle der steilen Straßen reagieren, setzt die neue Stadtbibliothek die ungewöhnliche Topographie architektonisch fort. Mit seinen diagonalen Fassadenelementen nimmt der Neubau die Eigenarten des hügeligen Geländes auf.

Die geschliffenen Kanten des kristallinen Baus wecken Assoziationen an einen Diamanten, die durch den Glanz der reflektierenden Glasfacetten verstärkt werden. Die eigentliche Fassadenstruktur besteht aus einem Aluminiumnetz, das dem Volumen übergestülpt wurde. Jäh abfallende Glasflächen überbrücken nicht nur die gegeneinander verschobenen Schichten der Geschosse, sondern zeigen auch den Beginn einer neuen Funktionseinheit an. Denn dort, wo die Fassade außen einen senkrechten Abschluss findet, sind innen dauerhaft und statisch genutzte Bereiche wie das Freihandmagazin untergebracht, während sich hinter den abgeschrägten Ebenen flexible Zonen wie etwa die öffentliche Plaza befinden. Wo innen also die höchste Fluktuation und Betriebsamkeit herrscht, zeigen sich auch außen dynamische Formen.

Herkömmliche Bibliotheksfassaden leugnen meist bestimmte Bereiche ihrer Nutzung, insbesondere die ausladenden Magazinbereiche, die hinter einer kleinteiligen Struktur verborgen werden. Die Fassade der Berliner Staatsbibliothek (1903–14) von Ernst von Ihne beispielsweise zeigt eine horizontale Fassadengliederung, die auf drei Etagen schließen lässt, während sich innen tatsächlich 12 Geschosse befanden, darunter acht niedrige Magazinetagen. Die Fassade der Königlichen Bibliothek (1774–80) von Georg Friedrich Boumann täuscht umgekehrt mit einer doppelten Fensterreihe eine Zweigeschossigkeit vor, wo sich nur eine Etage, nämlich der hohe Lesesaal, befindet. In Seattle kann hingegen mit einem bestimmten Vorwissen bereits am Außenbau zwischen statischen und dynamischen Funktionseinheiten unterschieden werden.

Das Wohnzimmer der Stadt

Der Westeingang an der 5th Avenue führt geradewegs in den öffentlichsten Bereich der Bibliothek – in das Empfangszimmer der Stadt, den sogenannten Living Room. Die geneigte Glaswand relativiert die Höhe des dreigeschossigen Raumes und öffnet ihn zeltartig zur Sonnenseite hin. Die einzelnen Funktionszonen gehen nahtlos ineinander über, da der Raum nicht durch Wände, sondern ausschließlich durch Regale, Ausgabetheken und Sitzmöbel gegliedert ist, über die der Blick hinweggleiten kann. Auf einen Laden mit Souvenirs im Vordergrund folgt ein kleines Café. Dahinter erstrecken sich mehrere Lesesessel, die die Menschen in Vierergruppen bündeln. Sie sitzen Rücken an Rücken, so dass die Buchseiten nur für den Leser einsichtig sind und jeder mitten im städtischen Wohnzimmer einen gewissen Privatraum für sich beanspruchen kann (Abb. 4).

Abb. 4

Abb. 4

Zwei Drittel des Raumes werden von einem scheinbar frei schwebenden Zwischengeschoss überfangen: Ein flacher Kubus, der die Meetingebene aufnimmt. Unter dem Zwischengeschoss sind die fiktionalen Bücher quer zur Hauptbewegungsrichtung untergebracht. Die niedrige Deckenhöhe hebt sich deutlich vom öffentlicheren Bereich des Raumes ab und verleiht der Belletristikabteilung einen intimen Charakter. Die Bücherregale sind locker im Raum verteilt. Sie bilden zwar Reihen, die aber nicht streng parallel geführt sind und immer wieder unterbrochen werden. Diese scheinbar zufällige Aufstellung forciert ein ungezwungenes Stöbern in den Beständen der Unterhaltungsliteratur (Abb. 5).

Abb. 5

Abb. 5

Die Buchspirale

Während die Auswahl des Freizeitlesers oft spontan erfolgt, bringt der Leser einer Sachbuchabteilung genauere Vorstellungen mit, die mit Hilfe des Kataloges konkretisiert werden. In einer Freihandbibliothek, wo die Leser den Aufstellungsort der Medien selbst finden müssen, sollte das Signatursystem besonders eingängig sein.

Ein kurzer Rückblick auf die Anfänge bibliothekarischer Klassifikationssysteme gibt Aufschluss über deren räumliche Bedeutung. Im Sinne einer Unterschrift ist der Signaturbegriff historisch eng verbunden mit der Autorschaft, die wiederum mit der Individualisierung der Druckerzeugnisse zusammenhängt. Erst seit der frühen Neuzeit wurden die Verfasser der Bücher auf einem Titelblatt vermerkt. Die mittelalterlichen Inventarlisten, die die Handschriften in der Reihenfolge ihrer Aufstellung verzeichnet hatten, wurden damit obsolet. Um auch den Aufstellungsort eindeutig zu bestimmen, wurden die Kataloge neben jener Signatur, die sich auf den Namen des Autors bezog, auch mit einer bibliothekarischen Signatur versehen, die die Medien im Raum lokalisierbar machte.2 Jedes Buch erhielt damit eine spezifische Adresse, die dessen genauen Standort im Raum anzeigte. Da sie im Katalog und auf dem Buchrücken verzeichnet war, verklammerte sie die alphabetische oder thematische Ordnung der Kataloge mit der real-räumlichen Anordnung der Bücher.3 Ein solcher alphanumerischer Code ist lange vor der Freihandaufstellung von und für Bibliothekare entwickelt worden. Nachdem die Magazine für den Leser geöffnet wurden, war er für Laien oft nur schwer zu entschlüsseln.

Die komplexen Kombinationen aus Ziffern und Buchstaben haben sich inzwischen zu einem selbstreferentiellen System entwickelt, das sich von seiner ursprünglichen Bestimmung als Wegweiser weit entfernt hat. Der Architekt Michael Brawne bezieht die Probleme bei der Lokalisierung von Büchern unmittelbar auf die Bibliotheksarchitektur:

Wenn die Bibliothek es dem Leser erlaubt, sich sein Buch selbst zu beschaffen, so muß die Signatur auch einen verständlichen Hinweis auf den Standort des Buches enthalten. Die Übersetzung eines solchen abstrakten Codes in eine Botschaft, die den Weg zu einem bestimmten Regal vorschreibt, […] verursacht in manchen Bibliotheken große Schwierigkeiten. Hier hängt viel davon ab, ob die Verkehrswege innerhalb der Bibliothek in verständlicher Weise organisiert und ob vor allem die Anordnung der Regale es erlaubt, die Bücher in logischer Folge aufzustellen.4

Brawne erkannte bereits 1970 den engen Zusammenhang von bibliothekarischer Signatur und architektonischer Wegführung. Doch erst in der Seattle Public Library drückt sich dieser Zusammenhang auch baulich aus. Die strenge Systematik der Sachbuchabteilung kommt der gezielten Büchersuche entgegen. Die mäandernde Buchspirale, die das Freihandmagazin erschließt, entfaltet sich zwischen dem sechsten und dem neunten Level in einem kontinuierlichen Rundgang (Abb. 6).

Abb. 6

Abb. 6

Die Dewey-Dezimalklassifikation materialisiert sich

Um die Unwägbarkeiten der Büchersuche zu überwinden, entwickelte das Architektenduo Koolhaas und Ramus für die Seattle Public Library ein räumliches System, welches das Verhältnis zwischen Leser, Buch und Weg neu definiert. Grundlage ist ein weltweit verbreitetes Signatursystem, welches sich in den USA seit langem bewährt und in Deutschland nur selten angewendet wird: die Dewey-Dezimalklassifikation, die 1873 von Melvil Dewey für die Bibliothek des Amherst College in Massachusetts entwickelt wurde.5 Dewey beschreibt die Vorteile seiner Klassifizierung mit folgenden Worten: It was to get absolute simplicity by using the simplest known symbols, the arabic numerals as decimals, with the ordinary significance of nought, to number a classification of all human knowledge in print.6

Das System basiert auf einer streng hierarchischen, logischen Folge von Zahlen, die die entsprechenden Fachgebiete und deren Unterkategorien bezeichnen und deren arabische Zahlen wie Dezimalbrüche funktionieren. Die bibliothekarischen Vorteile liegen auf der Hand: Deweys relative Ordnung nach dem Dezimalsystem machte eine Reklassifikation aus Raumgründen überflüssig, da die Bücher nach ihrem intellektuellen Gehalt und nicht mehr nach ihrem Aufstellungsort geordnet wurden. Letzterer konnte sich ändern, Ersterer nicht.7

Für die Aufstellung bedeutet dies, dass sie die Gleichordnung und die Unterordnung von Themen, intellektuell wie auf dem Bibliotheksregal, (in einem Arbeitsschritt) wiedergeben kann und expandiert werden kann, ohne die bereits geschaffene Ordnung der Themen zu zerstören.8 Seit der 16. Auflage von 1958 ist die ständig weiterentwickelte Klassifikation auch in der Lage, Beziehungen zwischen einzelnen Themen und Fachgebieten aufzuzeigen.

Für den Leser repräsentiert die homogene Zahlenreihe vor allem Kontinuität, die architektonisch häufig durch trennende Elemente wie Raum- oder Geschosswechsel zerstört wird. Um Wegführung und Büchersuche in ein kausales Verhältnis zu setzen, überführen die Architekten die Dewey-Dezimalklassifikation in eine architektonische Struktur, die vollkommen linear lesbar ist.

Der Weg als architektonisches Leitsystem

Die spiralförmige Anordnung der Wege im Handmagazin vereint horizontale und vertikale Bewegungsabläufe (Abb. 7). Nicht Treppen und Rampen erschließen die Bestände, sondern die Geschossebenen selbst steigen in einem Winkel von zwei Grad an. Auf diese Weise gehen die unterschiedlichen Etagen von Level fünf bis neun nahtlos ineinander über und bilden eine räumliche Einheit. Da die Geschossdifferenzierung aufgehoben ist, verändert sich die Bewegung der Benutzer und damit die Büchersuche grundlegend.

Abb. 7

Abb. 7

Während Architekten wie Max Dudler bei ihren Bibliotheksentwürfen von der statischen Aufstellung der Bestände ausgehen und das Regal zum Grundmodul erklären, setzen Koolhaas und Ramus beim kinetischen Zugriff auf die Bücher an. Sie definieren auf diese Weise keinen dauerhaften Ort der Lagerung und Bewahrung, sondern einen kinetischen Handlungsraum, in dem die Aktivitäten der Benutzer die Struktur bestimmen. Die Suchbewegung zwischen den Regalen schafft ein Raumgebilde mit fließenden Übergängen, welches genau wie die homogene Zahlenreihe der Dezimalklassifikation fortlaufend ist. Die ersten drei Zahlen der Dewey-Signatur, die das Fachgebiet anzeigen, sind in den Boden der Buchspirale eingelassen, so dass sich der Benutzer stets in einem bestimmten Bereich verorten kann und im weiteren Wegverlauf eine übersichtliche Vorschau auf die kommenden Bestände erhält.

Die Buchspirale umkreist eine Mitte, die ebenfalls der Erschließung gewidmet ist. Treppen ermöglichen einen schnellen Wechsel zwischen den langsam ansteigenden Rampen. Sie funktionieren als Abkürzungen, um auf direktem Wege von einem Fachgebiet ins nächste zu gelangen und werden besonders von den ortskundigen Bibliothekaren genutzt, die die genauen Querverbindungen zwischen den Abteilungen kennen.

Die eingängige Dezimalklassifikation von Melvil Dewey wird in Seattle erstmals architektonisch gelesen und in eine adäquate räumliche Struktur übersetzt, die linear, kontinuierlich und einheitlich ist.

Aufgaben der Öffentlichen Bibliothek

Bibliotheken setzen heute vielfach auf eine zukunftsweisende Architektur, um ihr verstaubtes Image abzulegen und glaubhaft zu vermitteln, dass sie den Herausforderungen der Digitalisierung gewachsen sind. Die zunehmende Virtualisierung der Wissensgesellschaft verlangt als Gegengewicht nach konkreten öffentlichen Begegnungs- und Versammlungsorten, die die soziale Isolation des Einzelnen vor dem Bildschirm kompensieren. Der Architekturkritiker Paul Goldberger sieht den Nutzen der Central Public Library in Seattle im digitalen Zeitalter darin, dass der öffentliche Lesesaal das Lesen als kulturellen Akt nobilitiert und das Buch gegenüber konkurrierenden Unterhaltungsmedien stärkt:

We don’t need big library buildings the way we once did, but if you surf the Internet at home you are just a click away from a video game. When you do it here, you feel that you are engaged in a serious pursuit. A building like this emphasizes the value a culture places on literacy.9

Die zunehmende Unabhängigkeit der Informationsmedien von Raum und Zeit verstärkt das Bedürfnis nach räumlicher Verortung und sozialer Vernetzung. Neben gesellschaftlichen Funktionen übernehmen die neuen öffentlichen Bibliotheken daher auch Aufgaben der lokalen Identitätsbildung, der bildungsbürgerlichen Selbstvergewisserung und der zwischenmenschlichen Interaktion. Dabei muss es nicht zwingend zum konkreten Gedankenaustausch kommen. Sobald unterschiedliche Menschen ähnlichen Tätigkeiten nachgehen, wird das räumliche Nebeneinander in einer angenehmen Umgebung als gesellschaftliches Miteinander empfunden.10

Im Begleittext zu seinem nicht realisierten Entwurf für die Très Grande Bibliothèque de France konstatierte Koolhaas bereits 1989 die zunehmende Verlagerung von zentralen Aufgaben der Architektur in virtuelle Räume und proklamierte, daß angesichts der elektronischen Zersplitterung die letzte Aufgabe der Architektur darin besteht, symbolische Räume zu schaffen, die dem unstillbaren Verlangen nach Gemeinschaft entsprechen.11 Koolhaas besinnt sich damit auf die ursprünglichsten Fähigkeiten der Architektur. Mit der Begünstigung von sozialem Austausch im direkten Gegenüber setzt er auf eine archetypische Qualität der Baukunst, die ihr durch technische Innovationen nicht streitig gemacht werden kann. Im Entwurf für die Très Grande Bibliothèque ist die soziale Aufwertung von öffentlichen Versammlungsräumen bereits auf dem Papier entwickelt. Im städtischen ‚Wohnzimmer’ der Seattle Public Library ist die Idee schließlich umgesetzt worden. Die öffentliche Plaza mit multifunktionaler Nutzung dient nicht nur als Empfangszimmer der Bibliothek, sondern auch als städtische Kommunikationszone.

Der lange Weg zur uneingeschränkten Zugänglichkeit

Bibliotheken sind sich ihrer identitätsstiftenden Rolle für die städtische Öffentlichkeit bewusst. In Seattle genießen sie den besonderen Rückhalt der Bürger, die in einem Volksentscheid knapp 200 Millionen Dollar für deren Ausbau bewilligt haben.12 Die liberalen Zugangsbestimmungen der Seattle Public Library, die selbst Wohnungslose willkommen heißt, wurde 1998 mit Hilfe der Initiative Libraries for All13 beschlossen. Voraussetzung für jene Bewegungsfreiheit, die heutige Bibliotheken auszeichnet, ist die uneingeschränkte Zugänglichkeit von Bibliotheksgebäuden und später auch von deren Buchbeständen, die sich über einen langen Zeitraum herausbildete.

In der Geschichte der Bibliotheksarchitektur finden sich überraschend frühe Beispiele für allgemein zugängliche Büchereien, die jedoch Ausnahmen blieben. Eine der ersten Öffentlichen Bibliotheken befindet sich im Dominikanerkloster von San Marco in Florenz. Sie wurde ab 1438 von Michelozzo für Cosimo de Medici erbaut. Niccolò Niccoli hatte dem Kloster seine 800 Bände umfassende Büchersammlung unter der Bedingung überlassen, dass sie commune utilità di ciascuno (zur allgemeinen Nutzung) zugänglich sein müsste.14

Wichtige Entwicklungsschritte auf dem Weg zur Öffentlichen Bibliothek bilden die Alphabetisierung der Laien während der Reformation, die geistige Emanzipation des Bürgertums seit der Aufklärung, die Abschaffung des Absolutismus in der Französischen Revolution und die Maßnahmen der Sozialdemokraten zur Verbesserung der Allgemeinbildung. Alle diese Schritte trugen zur demokratisch legitimierten Volksbildung bei.

Eine wichtige Voraussetzung für die Gründung von Stadtbüchereien war die Loslösung der Bibliotheken aus Klöstern, Schlössern und Universitäten. Die 1778 fertiggestellte Königliche Bibliothek in Berlin markiert einen wichtigen Schritt hin zu einer allgemein zugänglichen Bildungsinstitution. Die sogenannte ‚Kommode’ wurde wie die Lindenoper zwar vom König, aber unabhängig vom Schlosskomplex geplant. Spätestens seit der Industrialisierung verfügte das selbstbewusste Bürgertum über eine wachsende Allgemeinbildung, die sich parallel zu den Errungenschaften in der Wissenschaft auch mit Hilfe des in Bibliotheken zugänglichen Wissens entwickelte.

In den Vereinigten Staaten sicherte der Carnegie Trust von 1897 die ideelle und finanzielle Grundlage, damit sich die Public Library als soziale und kulturelle Institution etablieren konnte. Der Philanthrop Andrew Carnegie, der nicht nur in den USA zahllose Öffentliche Bibliotheken gestiftet hatte, sorgte 1901 auch für den Wiederaufbau der niedergebrannten Bücherei in Seattle, nachdem die Stadt den Kauf eines Grundstücks und die Finanzierung der Betriebskosten zugesichert hatte.15

Bereits 1747, noch vor der Gründung der Vereinigten Staaten, plädierte die Redwood Library in Newport, Rhode Island, für die unvoreingenommene Gleichbehandlung ihrer Nutzer, damit the curious and impatient Enquirer […] and the bewildered Ignorant might freely repair.16 Nachdem der freie Zugang zur Bibliothek sich allmählich durchzusetzen begann, folgte als zweiter wichtiger Entwicklungsschritt der freie Zugriff auf das Buch, der zuerst in den USA verbreitet war. Seattle führte die Freihandaufstellung als erste Stadt an der Westküste ein: bereits um 1900 waren die Bestände open for patrons to browse.17

Mit der Gründung der Amerika-Gedenkbibliothek in Berlin (AGB) 1951–54, die nach dem Krieg von amerikanischen Bürgern gestiftet wurde, konnten die Berliner erstmals von den liberalisierten Bedingungen jenseits des Atlantiks profitieren. Auf Anregung von Fritz Bornemann errichtete die Architektengemeinschaft von Gerhard Jobst, Willy Kreuer und Hartmut Wille die erste Freihandbibliothek nach amerikanischem Vorbild.18 Dass die Leser ohne Umweg über Katalog und Bestellschein ungehindert auf die Bestände zugreifen konnten, stieß damals auf heftige Kritik von Politikern, Bibliothekaren und Wissenschaftlern.19

Beim Bau der AGB verzichteten die Architekten bewusst auf Schwellen wie monumentale Freitreppen, hohe Portale und massive Mauern (Abb. 8). Stattdessen gestalteten sie den Eingangsbereich ebenerdig und verwendeten viel Glas, um Offenheit zu demonstrieren. Der freie Grundriss ermöglicht die freie Zirkulation zwischen den Beständen und bildet auf diese Weise ein architektonisches Pendant zu den Freihandmagazinen.

Abb. 8

Abb. 8

Als durch das immense Anwachsen der Bestände vielerorts eine räumliche Trennung von Buch und Leser nötig geworden war, legte das Buch auf Bücherwagen, Laufbändern und in Aufzügen lange Wege vom geschlossenen Magazin bis zur Ausgabetheke zurück. Nach der Buchausgabe wurde die Lektüre im Lesesaal von einer Aufsicht überwacht. Heute zirkuliert weniger das Buch als der Leser selbst, der besonders in Öffentlichen, zunehmend aber auch in Wissenschaftlichen Bibliotheken freien Zugriff auf die Bestände in den Regalen erhält. Dabei verändert sich auch die Auswahl der Bücher. Bibliothekarisch gut gepflegte Nachbarschaften einzelner Wissensgebiete führen zu Zufallsfunden, eröffnen unerwartete Bezüge und ermöglichen vielfältige Vergleiche. Selbst eine ausgezeichnete Suchmaschine kann semantische Zusammenhänge nur unzureichend herstellen. Manuelle und elektronische Suchsysteme hängen zu sehr vom exakten Begriff ab, während es bei der Verschlagwortung meist hapert und metaphorisch formulierte Titel fortwährend auf Irrwege führen.

Zusammenfassung

Ausgangspunkt des Entwurfs von Rem Koolhaas und Joshua Prince-Ramus ist nicht die Aufbewahrung der Bücher, sondern der Zugriff durch den Leser, dem ein Suchprozess vorangeht. Die Bewegungsbahnen des Benutzers werden über die Architektur und das Signatursystem gleichermaßen gelenkt. Die kongeniale Entsprechung von architektonisch festgelegtem Weg und bibliothekarisch definiertem Aufstellungsort setzen Leser, Buch und Raum in ein neues, fließendes Verhältnis. In Seattle wird der Weg auf der mäandernden Bücherrampe nicht mehr willkürlich von der Geschossfläche limitiert, sondern entwickelt sich als einheitliches System, dessen Kontinuität den fortlaufenden Dezimalziffern der Dewey-Klassifikation entspricht.

Doch Aufgabe einer Bibliothek ist nicht mehr allein die Hinführung zum Buch. Das Gebäude selbst muss anziehend wirken, um die Menschen hinter dem heimischen Bildschirm hervorzulocken und sie zu einem Besuch zu mobilisieren. Auf einem Rundgang durch den Bau lernen die Besucher das Gebäude kennen und werden dazu ermuntert, Recherchieren und Lesen als Gemeinschaftserlebnis wahrzunehmen. Denn die Seattle Public Library versteht sich in erster Linie als kommunaler Versammlungsort für eine städtische Öffentlichkeit. Die Verdoppelung der Besucherzahlen im Neubau belegt, dass Stadtbewohner ein großes Bedürfnis nach Orten ohne Konsumzwang haben, wo sie sich versammeln und austauschen oder einfach im Stillen ein Buch lesen können.

Literatur

Brawne, Michael: Bibliotheken. Architektur und Einrichtung, Stuttgart 1970

Chan, Lois Mai: Dewey-Dezimalklassifikation, München 2006

Eigenbrodt, Olaf: Bibliotheken als Räume urbaner Öffentlichkeit. Berliner Beispiele, Berlin 2005

Erben, Dietrich: Die Pluralisierung des Wissens. Bibliotheksbau zwischen Renaissance und Aufklärung, in: Ausst.-Kat. Die Weisheit baut sich ein Haus. Architektur und Geschichte von Bibliotheken, hrsg. von Winfried Nerdinger und Werner Oechslin, München 2011, S. 93-130

Goldberger, Paul: High-Tech Bibliophilia. Rem Koolhaas’s new library in Seattle is an ennobling public space, in: The New Yorker, 24.5.2004

Güttler, Peter: Bibliotheken, in: Berlin und seine Bauten, Teil V, Bauwerke für Kunst, Erziehung, Wissenschaft, hrsg. von Architekten- und Ingenieur-Verein zu Berlin, Bd. B (Hochschulen), Berlin u.a. 2004

Jochum, Uwe: Kleine Bibliotheksgeschichte, Stuttgart 2007

Kleine, Holger: Der Staat und seine Bibliothek, in: Bauwelt, 88. Jg. 1997, S. 1099ff.

Seattle Public Library. OMA - LMN, hrsg. von Kubo, Michael und Ramon Prat, Barcelona 2005

Moser, Fritz: Rückblickend auf die Anfänge, in: 25 Jahre Amerika-Gedenkbibliothek. Berliner Zentralbibliothek, hrsg. von Peter K. Liebenow, München u.a. 1979, S. 35-70

OMA: Bibliothèque de France, Paris, 1989, in: OMA. Rem Koolhaas, hrsg. von Jacques Lucan, Zürich 1990 [Princeton 1989], S. 132-133

Pevsner, Nikolaus: Funktion und Form. Die Geschichte der Bauwerke des Westens, Frankfurt am Main 1998 [History of Building Types, Princeton 1976]

Abbildungsnachweis

Abb. 1, 4, 5, 7: Fotografin: Tina Zürn, 2009

Abb. 2, 3, 6: aus: Kubo/Prat 2005, S. 18, 30, 35

Abb. 8: Bildarchiv Foto Marburg


  1. Kubo/Prat 2005, S. 26.

  2. Siehe: Jochum 2007, S. 84ff.

  3. Erben 2011, S. 157.

  4. Brawne 1970, S. 129f.

  5. Seit 2005 liegt die Dewey-Dezimalklassifikation auch in deutscher Übersetzung vor. In den USA nutzen 95% aller Schul- und öffentlichen Bibliotheken, 25% aller College- und Universitätsbibliotheken und 20% aller Spezialbibliotheken das System. Siehe: Chan 2006, S. 26.

  6. Dewey 1920, S. 152.

  7. Chan 2006, S. 19.

  8. Ebd., S. 27.

  9. Goldberger 2004.

  10. Ähnlich bei: Eigenbrodt 2005, S. 17.

  11. OMA 1990, S. 132.

  12. Siehe dazu die Selbstdarstellung der SPL im Internet: http://www.spl.org (Zugriff am 11.12.2014).

  13. Zur Initiative Libraries for all siehe: http://www.spl.org/Documents/about/libraries_for_all_report.pdf (Zugriff am 11.12.2014).

  14. Zitiert nach: Pevsner 1998, S. 94.

  15. Die Geschichte der Seattle Public Library ist dokumentiert auf der Internetpräsenz der Bibliothek unter: http://www.spl.org/default.asp?pageID=about_operations_history&view=text (Zugriff am 18.5.2014).

  16. Fletcher 1894, S. 12, zitiert nach: Pevsner 1998, S. 104.

  17. Siehe: http://www.spl.org/default.asp?pageID=about_operations_history&view=text (Zugriff am 18.5.2014).

  18. Siehe: Güttler 2004, S. 239. Eine Freihandaufstellung im größeren Ausmaß hatte es in Deutschland bis dahin nur in den Hamburger Bücherhallen gegeben. Siehe: Moser 1979, S. 49.

  19. Siehe: Kleine 1997, S. 1100.


Tina Zürn ist seit 2012 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kunst- und Bildgeschichte der Humboldt- Universität zu Berlin an der Professur für Architekturgeschichte von Kai Kappel. In ihrer 2013 bei Prof. Dr. Michael Diers an der Humboldt-Universität eingereichten Dissertation, die vom Schweizerischen Nationalfonds gefördert wurde, beschäftigte sie sich mit dem Wechselverhältnis von Raumwahrnehmung und Körperbewegung.