> > > LIBREAS. Library Ideas # 26

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Anarchistische Bibliothek & Archiv Wien


Zitiervorschlag
Bibliothekskollektiv Anarchistische Bibliothek & Archiv Wien, "Anarchistische Bibliothek & Archiv Wien. ". LIBREAS. Library Ideas, 26 ().


Die Anarchistische Bibliothek in Wien gibt es seit 2010 und wird von einer Handvoll Leuten unentgeltlich betrieben. Sie existiert sowohl real in den angemieteten Räumlichkeiten im Erdgeschoß im Hinterhof eines Gründerzeithauses im 8. Wiener Gemeindebezirk als auch im Netz unter http://a-bibliothek.org.

Beide Orte sind uns wichtig, denn wir sehen unsere Bibliothek als sozialen und kommunikativen Treffpunkt für Anarchist_innen, die in Wien oder in anderen Orten auf der Welt leben und hier mit uns kommunizieren. Dabei dient unser Auftritt im Netz nicht nur der Selbstdarstellung und Kommunikation nach außen, sondern auch als Service für Interessierte. Unser Buchbestand von circa 2.500 Büchern ist bis jetzt zur Hälfte katalogisiert und soll in Zukunft vollständig systematisiert sein.

Im Digitalisierungsprojekt, dessen Fortführung allerdings von vorhandenem Geld und Zeit abhängig ist, werden Zeitschriften, Broschüren und Bücher aus der Geschichte des Anarchismus elektronisch aufbereitet und können im Internet kostenfrei abgerufen werden. Die Digitalisate werden angefertigt, um einerseits einem Text eine längere Lebensdauer als dem Papier, auf dem er gedruckt ist (was sich aber erst herausstellen wird) zu geben und andererseits, um die Zugänglichkeit zu verbessern. Elektronisch aufbereitet heißt: Die jeweiligen Druckwerke werden digitalisiert und dann mit OCR bearbeitet. Folglich werden die eingescannten Seiten nicht als Bild auf die Webseite gestellt, sondern als durchsuchbares Textdokument. Weil wir nicht nur den Inhalt zugänglich machen, sondern auch die Originalansicht erhalten wollen, geschieht das in einem Zweischichtverfahren: Zu sehen ist die Seite im Originallayout und unsichtbar, quasi dahinter, ist das Textdokument, das gänzlich durchsuchbar ist. Die OCR-Bearbeitung ist recht zeitaufwendig, da sich bei der Umwandlung in ein Textdokument – je nach Qualität der Vorlage – etliche bis sehr viele Fehler einschleichen, die danach händisch wieder ausgebessert werden müssen. Aber wir finden, wenn einem Digitalisat schon all die sinnlichen Eindrücke, die mensch sonst beim Lesen eines alten Schriftstückes hat (wie greift sich das Papier an, wie riecht es, das Rascheln beim Umblättern…) fehlen, dann sollten doch auf der anderen Seite die Möglichkeiten, die durch die Digitalisierung hinzu gekommen sind, auch genutzt werden. Unter Digitalisierte Zeitschriften und Bücher finden sich zum Beispiel die vollständige Ausgabe der 1907–1914 von Pierre Ramus in Österreich herausgegebenen Zeitschrift Wohlstand für Alle, die Broschüre von Madeleine Vernets Die freie Liebe (1920) oder das Buch von Joseph Peukert Gerechtigkeit in der Anarchie – zur Zeit allerdings nicht einsehbar, da uns der Server-Platz fehlt.

Aufgrund unserer politischen Überzeugung und in diesem Sinne aus einer anarchistischen Perspektive betrachten wir im Folgenden die für uns wichtigen Aspekte bezüglich unserer Bibliothek und der Vermittlung an interessierte Leser_innen. Weiter handelt es sich um Punkte, die Bibliotheken einer politischen beziehungsweise sozialen Bewegung eigen sind und sich dadurch von herkömmlichen unterscheiden.

Anarchismus bedeutet ganz allgemein formuliert eine Gegner_innenschaft gegenüber Herrschaft. Dies betrifft sowohl den Staat als auch andere Formen der Unterdrückung des Menschen. Als politische (Arbeiter_innen) Bewegung ist er in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden. Es gab immer wieder Repressionsphasen gegen Anarchist_innen, unzählige Zeitschriften mit zensierten Stellen und Lücken; wir wissen, wie aufwendig und schwierig die Agitation und das Verbreiten anarchistischer Schriften immer wieder war, dass Bücher verboten wurden und werden und dass die Gegenwart zeigt, wie schnell politische oder soziale Bewegungen in den Fokus staatlicher Überwachung und Repression gelangen können. Weniger dramatisch und einfach formuliert, wollen wir selbst bestimmen, welche Daten und Informationen in der Bibliothek bleiben und welche nach außen gehen.

Sicherheit

Wir sehen es deshalb als unsere Verantwortung, mit den Daten der Nutzer_innen sorgsam umzugehen. Dies bedeutet, wir schützen sie und benutzen Verschlüsselungsprogramme für die Daten auf unseren Computern, USB-Sticks und den internen Netzwerk. Um den Email-Verkehr sicher zu gestalten, bieten wir auf unserer Homepage die Möglichkeit an, per PGP-Verschlüsselungsprogramm mit uns zu kommunizieren. Auf sonstige Firewalls oder Virenschutz verzichten wir, denn Open Source heißt auch weniger Viren.

Zudem gibt es eine umgekehrte Form der Sicherheit: Jene, die auf Vertrauen beruht. Bibliotheksnutzer_innen brauchen sich nicht ausweisen, um sich Bücher ausleihen zu können und werden auch sonst nicht kontrolliert. Wer Bücher ausleihen möchte, sagt uns (s)einen Namen und gibt eine Kontaktmöglichkeit bekannt. Die Person vereinbart, das Buch innerhalb der Verleihfrist von vier Wochen zurückzubringen oder verlängert die Ausleihfrist. Ob es Bücher gibt, die seitdem nicht mehr in die Bibliothek zurückgebracht wurden? Ja, gibt es (und wir vermissen sie).

Jedoch dieses Vertrauen, das wir den Nutzer_innen entgegen bringen, ist wichtig, um überhaupt erst zu einer freien Vereinbarung, einem ebenfalls wichtigen Element in der anarchistischen Ideenwelt, zu gelangen. Womit wir gedanklich auch schon in die Nähe des nächsten Punktes rücken würden.

Open Source

Die Computer in unserer Bibliothek laufen ausschließlich auf Linux und wir verwenden das Koha Open Source-Bibliothekssystem. Wir sind auch gerade dabei, unseren Buchbestand nach Kategorien wie AutorIn, Titel, Schlagwörtern, Coverfoto et cetera zu katalogisieren. So befindet sich Kropotkins Gegenseitige Hilfe in Tier und Pflanzenwelt sogar inklusive Inhaltsverzeichnis und Probekapitel bereits in unserem Online-Katalog. Jedoch birgt diese Software für uns noch einige Tücken. Deshalb suchen wir Menschen, die uns bei der technischen Umsetzung unterstützen und beraten können. Denn wir sind weder Computer-, Programmier- noch sonst welche Expert_innen, aber wir lernen und versuchen unser (technisches) Wissen in der Gruppe weiterzugeben. Uns ist es wichtig, so weit wie möglich diese EDV und Netzinfrastruktur ohne kommerzielle Anbieter_innen verwenden und anbieten zu können. Wir sehen den Open Source-Ansatz in Form einer freien Vereinbarung und Kooperation als zentrales Element, um Wissen und Technik weiter zu entwickeln, als eine zutiefst anarchistische Herangehensweise. Gerade das Archiv- und Bibliothekswesen betreffen die Fragen nach langfristiger Verwendbarkeit und Zugriffsmöglichkeiten von den verschiedenen schriftlichen Beständen. Wir denken, dass diese nicht in Händen weniger kommerzieller Anbieter liegen sollen, weshalb wir uns für das Koha-System entschieden haben und denken, dass eine offene Weiterentwicklung wichtig wäre.

Selbstorganisation

Wie eingangs erwähnt, ist die Anarchistische Bibliothek ein Projekt, das von einigen wenigen Leuten aktiv betrieben wird. Dies betrifft sowohl den Webauftritt, die Digitalisierung von Zeitschriften und Broschüren, Organisation von Veranstaltungen, Katalogisierung des Bücherbestandes als auch den wöchentlichen Bibliotheksdienst. Das Plenum dient als grundsätzliches Entscheidungsgremium und findet regelmäßig statt. Dort werden die anstehenden Themen besprochen, die Aufgaben aufgeteilt und Entscheidungen im Konsens getroffen oder, was auch vorkommen soll, es gibt eben keine gemeinsamen, sondern nur individuelle Entscheidungen. Auch damit muss eine Gruppe umgehen, will sie nicht auf eine autoritäre Figur zurückgreifen. Wir wollen dies nicht. Aufgrund der unterschiedlichen Lebenssituationen ergibt sich ein unterschiedliches Engagement in der Bibliothek. Diese Unterschiede können zu verschiedenen Schwierigkeiten und Hierarchien führen. Unsere Aufgabe als Selbstorganisierende ist es, damit einen Umgang zu finden (Dinge in eigenen Treffen an- und besprechen), gute Kommunikationsstrukturen pflegen (den Kalender verwenden), das Wissen weiter geben (interne Workshops) und so weiter.

Ein berühmter spanischer Anarchist hat einmal in einem Vortrag in Wien eine Anekdote über das Entstehen von Hierarchien erzählt:

Sie waren gut 30 Leute, hatten ein Kulturzentrum und sich vorgenommen, jede Person sperrt an einem Tag auf. Der Schlüssel für das Zentrum ging herum. Wie es sich so ergibt, konnte einer mal nicht, ein anderer sprang ein und im Laufe der Zeit gab es nur mehr einen, der jeden Tag dort hinging und das Zentrum aufsperrte. Für die anderen 29 war das zwar eine Erleichterung. Jedoch die eine Person sah sich nun als Herr des Schlüssels und sperrte nur mehr auf, wenn er wollte, denn er war es schließlich, der jeden Tag aufsperrte.

Für Abel Paz, so hieß der Erzähler dieser Anekdote, entstehen so Spezialisierungen und diese seien der Anfang der Bürokratie und Hierarchie.

Genau eine solche Entwicklung wollen wir mit unserer Form der Selbstorganisation vermeiden.

Bibliothek als sozialer Raum

Das Schlüsselbeispiel kann hier noch weiter geführt werden, denn die Bibliothek soll natürlich auch offen sein. Von Anarchist_innen für Anarchist_innen und all jene Personen, die sich dafür interessieren. Sie soll als aktiver Bestandteil dieser politischen und sozialen Bewegung betrachtet und genutzt werden. Dies bedeutet, dass die Nutzung dieser Bibliothek zu den Öffnungszeiten nicht den herkömmlichen Bibliotheken entspricht. Sie ist ein Ort der Kommunikation, wo Kaffee, Wasser oder Bier getrunken werden, wo Leute rauchen und miteinander quatschen.

Es kommen auch immer wieder Menschen vorbei, die in Wien zu Besuch sind und die anarchistische Orte aufsuchen beziehungsweise Genoss_innen treffen wollen.

Neben den herkömmlichen Bibliothekszeiten, derzeit montags 18 bis 20 Uhr und nach Vereinbarung, gibt es noch verschiedene Veranstaltungsformate. Die offenen Lese- und Diskussionsrunden, Lesungen beziehungsweise Buchpräsentationen, Vorträge und Ausstellungen oder der Tag der offenen Tür für Lehrlinge einer Bibliotheks- und Archivberufsschule.

Zusammen mit anderen linken*autonomen*radikalen Archiven und Bibliotheken aus Wien haben wir 2011 die Lange Nacht der Anarchie und 2012 unter dem Titel Radikal hat Bestand eine Werbefahrt zur Präsentation der Bibliothekskultur organisiert und pflegen darüber hinaus internationale Kontakte zu anderen Archiven, wie dem CIRA (Centre International de Recherches sur l’Anarchisme) in Lausanne und CIRA Marseille. Denn auch das anarchistische Bibliotheks- und Archivnetz hat Knoten und die benötigen wir auch. Wir sehen es als unsere Aufgabe, die Geschichte(n) unserer Bewegung zu sammeln, weiterzugeben und weiterzuschreiben.

Das Gestern im Gedächtnis behalten, das Morgen in die Hand nehmen!