Einer der eindrucksvollsten Räume barocker Bibliotheksherrlichkeit öffnet sich der Besucherin oder dem Besucher im Stift St. Gallen. Wo heute stuckverzierte Wände, Deckengemälde, geschwungene Holzregale und kostbare Bodenintarsien den Blick einfangen, verbirgt sich ein noch viel bedeutenderer Schatz: Handschriften des 8. bis 16. Jahrhunderts, im einstigen Skriptorium entstanden oder von den Äbten erworben und seither hier verblieben. Ein seltener Glücksfall.
Dieser nahezu geschlossene Bestand bildet den Grundstock der berühmten Bibliothek, die vor allem im Bereich Mediävistik laufend ergänzt wird und der Forschung zur Verfügung steht. Allein aus der Zeit vor 1200 besitzt die Bibliothek etwa 470 Kodizes, darunter das älteste erhaltene Buch in deutscher Sprache, der Abrogans
, abgeschrieben um 790.
Die erste offizielle
Heilige
Unter der Signatur Codex Sangallensis 560 verzeichnet die Stiftsbibliothek einen Band mit den Viten dreier Heiliger – Gallus, Otmar und Wiborada – aus der Zeit um 1075.1 Genau 544 Seiten feinen Kalbspergaments sind kunstvoll in karolingischer Minuskel beschrieben. Auf den Seiten 374 bis 544 geht es um das Leben Wiboradas – oder Wiberat (ahd.) –, die 1047 als erste Frau von einem Papst heiliggesprochen wurde. Der Autor, Herimannus, konnte sich auf eine frühere Vita stützen: Kurz vor der Kanonisierung durch Clemens II. hatte sie der damalige Leiter der Klosterschule, Ekkehart IV., verfasst und dabei eine wiederum ältere, nicht erhaltene Vorlage verwendet, die Ekkehart I. in den Sechzigerjahren des 10. Jahrhunderts niederschrieb, etwa vierzig Jahre nach Wiboradas Tod 926. So weit zu den Quellen.
Wer war diese Frau, deren Name im Heiligenkalender der katholischen Kirche unter dem 2. Mai steht?
Kulturmetropole am Bodensee
Zu Beginn des 10. Jahrhunderts bestand die Benediktinerabtei bereits seit knapp zweihundert Jahren. Um das Kloster herum hatte sich eine wohlhabende Ortschaft entwickelt und im Stift lebten etwa hundert Mönche. Im weiten Umkreis war St. Gallen bekannt als Hort der Gelehrsamkeit, in der Schreibwerkstatt wurden die maßgeblichen kirchlichen und wissenschaftlichen Werke kopiert und weiterverbreitet. Die Reichsabtei mit ihrer bereits mehrere hundert Titel umfassenden Büchersammlung bot auch das ideale Umfeld für namhafte Autoren, etwa Notker I., zugleich Bibliothekar vor Ort (gest. 912), oder Walahfrid Strabo (gest. 849), Abt des Klosters Reichenau und Verfasser der Vita Sancti Galli. St. Gallen war ein kultureller Anziehungspunkt ersten Ranges, als sich hier Wiborada und ihr Bruder Hitto niederließen, beide aus adliger alamannischer Familie.
Lebendig eingemauert
In den Viten wird Wiborada als Person kaum greifbar, Herkunft und Geburtsjahr sind unbekannt. Die verschiedenen Episoden über ihr (Nach-)Leben entsprechen den Konventionen der Zeit, in der sie entstanden und aufgeschrieben wurden. Dennoch liefern sie ein faszinierendes Bild einer Frauenfigur zwischen Volksglauben und Hochkultur des Frühmittelalters.2
Breiten Raum nimmt die Beziehung zu ihrem Bruder ein, mit dem sie angeblich eine Pilgerreise nach Rom unternahm. Als er ins Kloster eintrat, blieb sie in seiner Nähe und webte für ihn Kleidung und Bucheinbände. Vermutlich brachte ihr Hitto das Lesen bei, denn es heißt, er habe sie fünfzig Psalmen gelehrt, die anderen hundert hätte sie sich mithilfe des Heiligen Geistes selbst eingeprägt. Über ihren Bruder verschaffte sich Wiborada also Zugang zu Bildung, ein Weg, der ihr als Frau sonst versperrt war. Sie ging noch weiter. Um 912 begann sie, mit zwei Dienerinnen nahe dem Klosterbezirk in strenger Askese zu leben und 916 entschied sie sich, Reklusin zu werden: Sie ließ sich in einer Klause an der Kirche St. Mangen einmauern.
Zehn Jahre lang lebte sie in einem engen, ungeheizten Raum, eine Maueröffnung zur Kirche hin gab den Blick auf den Altar frei, eine zweite erlaubte den notdürftigen Austausch mit der Außenwelt. Von ihrem spärlichen Mobiliar ist ein dreibeiniger Hocker erhalten, der heute zusammen mit einigen Reliquien im Kloster Glattburg, 20 Kilometer westlich von St. Gallen, besichtigt werden kann.
In ihrer extremen Selbstkasteiung wurde Wiborada zu einem Musterbeispiel weiblicher Frömmigkeit. Sie hatte Visionen, erteilte ihrem Namen gemäß kluge Ratschläge, sprach Warnungen aus und machte Weissagungen. Ihr Ruf verbreitete sich und sie zog immer mehr Gläubige an. Die Reklusin war ein Gewinn für das Kloster.
Retterin der Bücher
In diese Zeit fielen zahlreiche Raubzüge ungarischer Reiterheere, die vom Donaubecken weit nach Westen vordrangen und auch das Oberrhein- und Bodenseegebiet berührten. Am 1. Mai 926 erreichte eine Truppe St. Gallen. Die Ungarn fanden das Kloster beinahe verlassen vor – dafür hatte Wiborada gesorgt. Sie warnte Abt Engilbert vor einem bevorstehenden Überfall der Ungarn und riet ihm, Menschen, Bücher und liturgische Schätze zu evakuieren. Bibliothek und Archiv wurden auf der Insel Reichenau in Sicherheit gebracht, sie selbst blieb in ihrer Klause zurück, entsprechend ihrem Gelübde.
Anscheinend verlief der Überfall glimpflich für das Kloster.3 Doch die Reklusin wurde von den Heiden umgebracht
, wie das Professbuch des Klosters verzeichnet. Sie brachen in die Klause ein und erschlugen die Bewohnerin. Als nach Abzug der Ungarn die Mönche zurückkehrten, fanden sie die Tote und beerdigten sie bei der Kirche St. Mangen.
Die Bücher gerettet, das Leben verloren. Schon bald setzte eine rege Pilgerschaft zu Wiboradas Grab ein (das heute nicht mehr lokalisierbar ist). Die Mönche hielten ihr Andenken hoch, zahlreiche Geschichten kursierten über sie und über angebliche Wunder an ihrem Grab. Es lag nahe, sie aufzuschreiben und damit der Klostertradition einzugliedern.
Ausgegrenzt und hochverehrt
Durch die Lebensbeschreibungen und Einträge, etwa in den Annalen, blieb die Erinnerung an eine Frau lebendig, die ein christliches Tugendideal des 10. Jahrhunderts
4 verkörperte. Im 15. Jahrhundert entstand die erste bekannte Übersetzung der Herimannus-Vita ins Deutsche. Zwischen 1430 und 1436 schrieb sie der Mönch Friedrich Cölner in St. Gallen auf. Das Papiermanuskript zeigt auf Seite 230 als gerahmte, farbig ausgemalte Federzeichnung die früheste Darstellung der Heiligen in brauner, innen blauer Kutte mit Schleier, in der Rechten das Buch, in der Linken die Hellebarde
.5
Mit dem Buch als Attribut gibt Wiborada, die weise Ratgeberin, eine wunderbare Schutzheilige für alle Bibliophilen ab. Und als Lesekundige in einer Zeit, in der Bildung ein Privileg von Klerikern war, ist sie ein Beispiel weiblicher Gelehrsamkeit, lange vor Hildegard von Bingen.
Aber dass sie ihren Bildungshunger nur durch Hinwendung zu äußerster Askese und selbst gewählte Ausgrenzung stillen konnte, ausgeschlossen von der geistig-religiösen Blüte des St. Gallener Klosterlebens, erscheint zynisch. Schützten die Mauern der Klause sie vor den Anfechtungen des Lebens oder die Mönchsgesellschaft vor einer allzu unabhängigen Frau?
Die Rettung der Bücherschätze und Wiboradas gewaltsamer Tod sind starke Bilder im mittelalterlichen Kontext. Sie verbinden die Bibliothek als Inbegriff abendländischer Kultur, bedroht durch die Barbaren, mit der Weitsicht und dem Opfermut einer Außenseiterin. Es hätte eine gewisse Logik anzunehmen, dass die Retterin nicht überleben darf.
Stoßen wir doch alljährlich am 2. Mai mit einem Glas Wiborada-Wein an, wie er im Bistum St. Gallen zu ihrem Gedenktag geweiht wird, und feiern wir den freien Zugang zu Bildung und Wissen.
Literatur
Codices Electronici Sangallenses (CESG) – Virtuelle Bibliothek, http://www.cesg.unifr.ch/de/index.htm.
Johannes Duft, Stiftsbibliothek St. Gallen, St. Gallen, 10. A. 1995.
Eva Irblich, Die Vitae Sanctae Wiboradae. Ein Heiligen-Leben des 10. Jahrhunderts als Zeitbild
, in: Schriften des Vereins für Geschichte des Bodensees und seiner Umgebung (88), 1970, S. 1–208.
Karl Schmuki, Der Einfall der Ungarn in Sankt Gallen im Jahre 926 in den Handschriftenschätzen der Stiftsbibliothek Sankt Gallen
, in: Die Ungarn und die Abtei Sankt Gallen, Sankt Gallen – Budapest, 1999, S. 26–36.
Karsten Uhl, Der Pöbel, der nicht in gebildeten Wendungen zu sprechen versteht.
Unterschiede zwischen der Kultur des Volkes und der Kultur der Eliten in den Viten der Heiligen Wiborada, in: Volkskultur und Elitekultur im frühen Mittelalter, Krems: Medium Aevum Quotidianum (1997), S. 103–118.
St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. Sang. 560: Vitae sci. Galli, sci. Otmari, scae. Wiboradae, http://www.e-codices.unifr.ch/de/list/one/csg/0560.↩
Vgl. Karsten Uhl,
Der Pöbel, der nicht in gebildeten Wendungen zu sprechen versteht.
Unterschiede zwischen der Kultur des Volkes und der Kultur der Eliten in den Viten der Heiligen Wiborada, in: Volkskultur und Elitekultur im frühen Mittelalter, Krems: Medium Aevum Quotidianum (1997), S. 103–118.↩Karl Schmuki,
Der Einfall der Ungarn in Sankt Gallen im Jahre 926 in den Handschriftenschätzen der Stiftsbibliothek Sankt Gallen
, in: Die Ungarn und die Abtei Sankt Gallen, Sankt Gallen – Budapest, 1999, S. 26–36.↩Eva Irblich,
Die Vitae Sanctae Wiboradae. Ein Heiligen-Leben des 10. Jahrhunderts als Zeitbild
, in: Schriften des Vereins für Geschichte des Bodensees und seiner Umgebung 88, 1970, S. 185.↩St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. Sang. 586, http://www.e-codices.unifr.ch/de/description/csg/0586.↩
Marion Voigt M. A. hat nach der Ausbildung zur Sortimentsbuchhändlerin Slawistik, mittelalterliche und osteuropäische Geschichte studiert. Seit 1996 ist sie als Lektorin und Literaturagentin selbstständig.