> > > LIBREAS. Library Ideas # 24

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Ein extrem praktisches Buch. Rezension zu: Doreen Siegfried, Sebastian Johannes Nix: Nutzerbezogene Marktforschung für Bibliotheken: eine Praxiseinführung. – Berlin: De Gruyter Saur, 2014


Zitiervorschlag
Ulla Wimmer, "Ein extrem praktisches Buch. Rezension zu: Doreen Siegfried, Sebastian Johannes Nix: Nutzerbezogene Marktforschung für Bibliotheken: eine Praxiseinführung. – Berlin: De Gruyter Saur, 2014". LIBREAS. Library Ideas, 24 ().


Gibt man im Rechercheportal econbiz.de den Suchbegriff ‚Marktforschung‘ ein, so erhält man 19.358 Nachweise von wissenschaftlicher Literatur zum Thema […] – So beginnt das Vorwort zum Band Nutzerbezogene Marktforschung für Bibliotheken: eine Praxiseinführung, der im Folgenden vorgestellt wird.

Was kann man auf 180 Seiten über Marktforschung schreiben, das die anderen 19.000 Beiträge und hunderte Monographien nicht schon ausführlich und gründlich beschrieben haben? Dies fragt nicht nur das Vorwort, sondern vielleicht auch manche/r LeserIn. Auf diese skeptische Frage gibt das Buch eine sehr überzeugende Antwort. Es tut nämlich – im Unterschied zu zahlreichen anderen Publikationen mit diesem Anspruch – genau das, was es sagt: Es gibt eine Praxiseinführung […] für Bibliotheken:

Für Bibliotheken heißt: Jedes Beispiel, jede zitierte Studie und jede Konkretisierung stammt tatsächlich aus dem Bibliotheksbereich. So durchgängig und konsequent bibliotheksbezogen zu denken gelingt nur wenigen Publikationen, die dazu antreten, Methoden aus anderen Disziplinen in die Bibliothekswelt zu übersetzen. Hier zeigt sich, dass die beiden Autoren (Sebastian Nix ist Leiter der Bibliothek des Wissenschaftszentrums für Sozialforschung (WZB) in Berlin, Doreen Siegfried ist Leiterin der Abteilung Marketing und Public Relations der Zentralbibliothek der Wirtschaftswissenschaften (ZBW) in Kiel) sich der empirischen Sozialforschung über konkrete Bibliotheksprojekte genähert haben. Die Autoren sind in ihren Beispielen und Studien um einen ausgewogenen Bezug auf Öffentliche und Wissenschaftliche Bibliotheken bemüht, was das Buch für beide Sparten zugänglich macht. Das ist sehr lobenswert, wenn man bedenkt, dass die neuere Nutzerforschung in den Öffentlichen Bibliotheken ihren Anfang genommen hat.

Praxiseinführung heißt: Die Auswahl und die Tiefe der behandelten Themen orientieren sich konsequent an dem, was für ein konkretes Marktforschungsprojekt in der Bibliothekspraxis am häufigsten gebraucht wird und was PraktikerInnen ohne sozialwissenschaftlichen Hintergrund als Startkapital benötigen. Die Stärke besteht also nicht darin, den 19.000 Publikationen noch etwas hinzuzufügen, sondern all das wegzulassen, was beim Einstieg in ein bibliotheksbezogenes Forschungsprojekt noch nicht nötig ist. Diese Form der didaktischen Reduktion ist nicht einfach, und sie ist hier sehr gut gelungen. Die Autoren bringen zum Beispiel das Kunststück fertig, auf viereinhalb Seiten nicht nur eine sehr verständliche Darstellung der statistischen Lage- und Verteilungsmaße zu liefern, sondern sogar noch als zusätzliches, leicht nutzbares Instrument die Kreuztabelle einzuführen. Bei der Inferenzstatistik – die einen größeren Kontext- und Erklärungsaufwand erfordern würde – beschränken sie sich dagegen auf einen Hinweis zu deren Aussagen und Einsatzfeldern. 

Dass eine derart kompakte Einführung nicht alle notwendigen Informationen und Kenntnisse vermitteln kann, wird stets betont und durch eine ausgewählte, kommentierte (!) Bibliographie ausgeglichen, die wenige besonders empfehlenswerte Werke, Webseiten und Lernmedien heraushebt.

Sehr erfreulich ist, dass die Autoren ihre LeserInnen nicht zu falschem Ehrgeiz ermutigen: Man muss nicht alles selber machen, lautet die Botschaft, gute Marktforschung bedeutet, alle vorhandenen Ressourcen zu kennen und zu nutzen! So wird konsequent auf Möglichkeiten zur Entlastung und Abgrenzung der eigenen Aktivitäten hingewiesen: Das sind z. B. vorhandene Datenquellen (nicht irgendwelche!; sondern genau die, die im Umfeld der Hochschule oder Kommune bibliotheksrelevant sind), die das eigene Erheben von Daten erübrigen, oder bereits durchgeführte Studien, die manch bibliotheksrelevante Forschungsfrage (z. B. nach dem Informationsverhalten von Wissenschaftlern) schon geklärt haben. Das reicht bis zu kleinen, aber (sofern man den statistischen Kontext verstanden hat) nützlichen Helferlein, wie einem Online-Rechner zur Berechnung der Stichprobengröße. 

Die Autoren verzichten auf eine Diskussion der verschiedenen Linien und Differenzierungen ihres Gegenstandes: Im vorliegenden Buch werden Begrifflichkeiten wie ‚(bibliothekarische) Marktforschung‘, ‚(Be-)Nutzerforschung‘ oder auch ‚Benutzungsforschung‘ synonym verwendet. (S. 4). Das ist bei einer Praxiseinführung vertretbar. Begründen ließe sich aber durchaus, warum es von den drei Begriffen ausgerechnet die Marktforschung in den Titel des Buches geschafft hat, und nicht die anderen beiden stärker kultur- und wissenssoziologisch orientierten Begriffe. Denn Praxisbezug heißt hier auch: Es geht bei den Beispielen durchgängig um die Unterstützung von Managemententscheidungen im Bibliotheksbetrieb. Möbliere ich den Gruppenarbeitsbereich im 2. OG neu? […] Investiere ich weiterhin erhebliche Ressourcen in meine virtuelle Fachbibliothek? (S. 12) sind Beispiele für die Konsequenzen aus einem abgeschlossenen Marktforschungsprojekt. 

Trotz dieses Ansatzes werden die Materialien und kompakten Darstellungen des Buches auch für den Einstieg in Forschungsprojekte ohne Managementbezug – mindestens bis zum Bachelor – hilfreich sein. Das Buch verbindet seinen Handlungsbezug mit dem stets notwendigen, hier sehr feinen Theorierahmen (insbesondere zu Untersuchungsdesign, Zielsetzung und Forschungsanordnung), der die zahlreichen Praxishilfen in einen Zusammenhang bringt.

Die Literatur und auch die Praxis der Nutzerforschung im Bibliotheksbereich war seit ihrer Verbreitung in den 80er und 90er Jahren vorwiegend geprägt von quantitativen Verfahren. Es ist ein großer Verdienst dieses Buches, dass es erstmals – und zwar in allen Bereichen, vom Untersuchungsdesign über die Probandenauswahl und das Interview bis hin zur Inhaltsanalyse – gleichberechtigt sowohl in qualitative und quantitative Verfahren einführt. Auch ethnologische Verfahren finden dadurch Eingang in das Methodenspektrum, aus dem PraktikerInnen zukünftig auswählen werden.

Der Aufbau des Buches orientiert sich an den Stationen eines Marktforschungsprojektes: Das 1. Kapitel erklärt Grundbegriffe der empirischen (Sozial-) Forschung: Ablauf eines Projektes, explorative, deskriptive, kausale Untersuchungen, Objektivität, Reliabilität, Validität, ethische und juristische Aspekte. Kapitel 2 führt in unterschiedliche Forschungsdesigns und -ansätze ein: Primär- versus Sekundärforschung, qualitative und quantitative Ansätze, Experimente, Quer- und Längsschnitt-Untersuchungen. In Kapitel 3 geht es um die Frage des Stichprobendesigns. Den Hauptteil des Buches nimmt das vierte Kapitel ein, das unterschiedliche Erhebungsmethoden für nutzerbezogene Daten beschreibt (und auf das unten näher eingegangen wird). Kapitel 5 widmet sich der Analyse und Aufbereitung der Daten bis hin zur Gestaltung der Ergebnispräsentation. 

Mithilfe von Übungen, Checklisten und Übersichtstabellen wird konsequent der Kontakt zur operativen Ebene gehalten: Wie wählt man – mittels eines Screenings – Probanden für qualitative Interviews aus? Welche Software eignet sich für eine Online-Umfrage? Welches ist das beste Gerät zum Aufzeichnen von Interviews? Haben Sie Ihre Ergebnispräsentation geübt? (Ja! Gute Präsentationen muss man üben! Danke, dass das so deutlich gesagt wird.)

Das umfangreiche Kapitel 4 – Erhebungstechniken beschreibt die beiden wichtigsten Strategien zur Datengewinnung – Befragung und Beobachtung – jeweils in ihren qualitativen und quantitativen Ausprägungen.

Aufgrund ihrer weiten Verbreitung nehmen im Kapitel Befragung die quantitative, standardisierte Befragung sowie – als qualitative Methode – die moderierte Gruppendiskussion besonders viel Raum ein. Nicht nur das Design und die Fragenformulierung bei einer standardisierten Befragung, auch die Befragungsform (persönlich – telefonisch – schriftlich – online) werden diskutiert. 

An der Schnittstelle zwischen Stichprobenverfahren und Online-Befragungen findet sich allerdings eine der wenigen echten Darstellungslücken: Für Online-Befragungen stehen heute viele Instrumente und Tools zur Verfügung und machen die Durchführung zu einem (vermeintlichen) Kinderspiel. Deshalb müsste hier explizit auf die Problematik der Verzerrung von Online-Befragungsergebnissen durch passive Selektion aufmerksam gemacht werden (also dadurch, dass der/die ForscherIn nicht aktiv entscheidet, wer an einer Befragung teilnimmt). Die Praxis Wir erstellen einen Online-Fragebogen und fordern dann auf der Uni-Homepage ‚Alle‘ zum Mitmachen auf ist auch im Bibliotheksbereich so verbreitet, dass man vor ihren methodischen Schwächen nicht oft genug warnen kann.

Die Erhebungsform Beobachtung wird in ihrer Grundform kurz vorgestellt (aber mit einem sehr überzeugenden Beispiel: der Beobachtung von NutzerInnen am RFID-Verbuchungsautomaten); danach stehen drei Sachthemen, die für Bibliotheken derzeit besonders relevant sind, im Mittelpunkt der Methodendiskussion: 

  1. Daten zur Dienstleistungsqualität

  2. Die Gestaltung von physischen Räumen: Daten zur Nutzung, Bewertung und Planung der Bibliotheksräume

  3. Die Gestaltung von virtuellen Räumen: Daten zur Usability und Nutzerorientierung von elektronischen Bibliotheksangeboten.

Zu Punkt 1 wird vor allem die Methode des Mystery Shopping –als ein Spezialfall der Beobachtung, bei der man ohne Vorankündigung als Durchführender der Befragung die Kundenrolle in der jeweiligen Einrichtung einnimmt – praktisch beschrieben. Sie wird dabei in ihren Kontext – dem Service-Blueprint –und im Zusammenhang mit ergänzenden Methoden zur Dienstleistungsbewertung (z. B. Libqual+) dargestellt. Rechtliche und ethische Fragen beim Mystery Shopping werden ausführlich diskutiert. Drei Beispiele aus dem Bibliotheksbereich zeigen, dass Mystery Shopping in Bibliotheken nicht so undurchführbar ist, wie oft geglaubt wird.

Bei Punkt 2 – der Gestaltung von Räumen – wird das Fototagebuch als Spezialfall des fokussierten Interviews eingeführt. Punkt 3 – Usability von Web-Angeboten – beschäftigt sich detaillierter mit Formen des Usability Testing. Bei beiden Themen, die derzeit eine Vielzahl von Bibliotheken beschäftigen, steht jedoch vor allem die Kombination mehrerer Methoden im Mittelpunkt. Neben dem konsequenten Einbezug von qualitativen Methoden ist dies der zweite große Verdienst des Buches: dass es auf seiner sehr pragmatischen Ebene dem Methodenmix einen breiten Raum gibt. Die sonst eher abstrakten Vorteile der Methoden-Triangulation werden greifbar durch Beispielstudien, die die Methodenkombination in verschiedenen Varianten demonstrieren. Sie zeigen damit auch, dass ein Methodenmix im Bibliotheksbereich mit seinen begrenzten finanziellen und personellen Mitteln durchaus möglich ist.

Sicher ist der Band für jede der genannten Methoden nur ein Einstieg, der durch weitere Lektüre und Beratung ergänzt werden muss. Aber er ermöglicht es, sich in der Methodenvielfalt zu orientieren, sich anhand der empfohlenen Literatur zielgerichtet über eine (oder mehrere) gewählte Methode/n näher zu informieren, sich Hilfe zu suchen und die nötigen Schritte für ein Projekt zu planen.

Eine Sorge bleibt: Hoffentlich wird dem Buch nicht gerade sein herausragendes Plus –der enge Praxisbezug –zum Verhängnis. Denn was die Praxis zu einem bestimmten Zeitpunkt genau trifft, veraltet besonders schnell. Ein hochaktuelles Beispiel aus dem Jahr 2014 muss spätestens 2016 auf seine Relevanz geprüft werden; von den zahlreichen Deep Links, Übersichten, Beispielsammlungen usw. ganz abgesehen. Hoffen wir, dass der Verlag in regelmäßige redaktionelle und inhaltliche Aktualisierungen investiert und damit den stolzen Preis von 49 Euro für 180 Seiten Broschur auf Dauer rechtfertigt. Kurzfristig lohnt er sich auf jeden Fall. 


Ulla Wimmer ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Bibliotheks- und Informationswissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin und unterrichtet dort u. a. im Modul Forschungsmethoden. Mit empirischen Daten aus Bibliotheken und deren Umfeld beschäftigte sie sich intensiv bei der Arbeit am Bibliotheksindex BIX, der Deutschen Bibliotheksstatistik und bei der Beratung von Bibliotheken zu Managementthemen.