> > > LIBREAS. Library Ideas # 23

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Editorial #23: Forschungsdaten, Metadaten, noch mehr Daten. Forschungsdatenmanagement


Zitiervorschlag
Redaktion LIBREAS. Library Ideas, "Editorial #23: Forschungsdaten, Metadaten, noch mehr Daten. Forschungsdatenmanagement. ". LIBREAS. Library Ideas, 23 ().


„There are significant questions of truth, control and power in Big Data studies: researchers have the tools and the access, while social media users as a whole do not. […] Researchers are rarely in a user’s imagined audience, neither are users necessarily aware of all the multiple uses, profits and other gains that come from information they have posted. Data may be public (or semi-public) but this does not simplistically equate with full permission being given for all uses. There is a considerable difference between being in public and being public, which is rarely acknowledged by Big Data researchers.” (boyd, danah & Crawford, Kate (2011): Six Provocations for Big Data. http://dx.doi.org/10.2139/ssrn.1926431, S. 11-12)

„Die Menschheitsbeglücker Google, Microsoft, Amazon, Apple usw. sind gleichzeit auch unternehmen amerikanischer Nationalität. Steve Jobs, dieser supranationale planetarische Held, hatte auch ein Sternenbanner im Rücken, die Cloud verdeckt uns den Patriot Act, und auch das mächtige Google Earth kommt nicht vom Sirius zu uns. Der „Himmelsäther” ist geerdet, Kabel und Server stecken im Boden, die vielgepriesene Entmaterialisierung der Infrastrukturen. So laßt uns denn zusammen mit ihnen auf dem Boden der Tatsachen landen. Der Stärkste und Reichste verfügt über die Mittel; es wäre unklug von ihm, würde er keinen Profit daraus schlagen. Libido dominandi as ever […]” (Debrais, Régis (2013): Normale Geheimnisse. In: Lettre International, No. 102, Herbst 2013. S. 7-9)

Hätte Michel Foucault eigentlich Freude an der heutigen Welt? Ja, hätte er. Der Wissen/Macht-Komplex scheint sich in den letzten Monaten überdeutlich zu entfalten, direkt gebunden an Fragen von Zugang zu Daten, Nutzung von Daten und Metadaten, an Auseinandersetzungen zwischen Institutionen, Gesellschaft, Individuen.

Die Rede ist, selbstverständlich, von Edward Snowden, dem NSA, den erstaunlichen Gleichmut eines Großteils der Betroffenen, der verständlichen Erregung der Presse und der betrüblichen Defensivhaltung der deutschen Bundesregierung.

Beziehungsweise nicht unbedingt von der Person Edward Snowden, die aktuell irgendwo in Russland ihre Zukunft plant oder geplant bekommt. Sondern vom Diskursobjekt Snowden als Katalysator von Entwicklungen. Denn, bei allem Zugeständnis an die tief-moralischen Entscheidungen und Taten Snowdens: Was genau hat er eigentlich getan? Auf einer bestimmten Analyseebene hat er Daten aus einem institutionellen Container geholt und mithilfe anderer Katalysatoren – namentlich Laura Poitras und Glenn Greenwald – über die klassische informationswissenschaftliche Trinität Daten-Information-Wissen in den gesellschaftlichen Diskurs gespeist.

Die Ironie ist selbstverständlich, dass diese befreiten Daten darauf verweisen, wie der NSA Daten abgreift, analysiert und bewertet. Diese Daten führen nicht nur zu weiteren Daten, sondern zu sichtbaren und unsichtbaren Machtkämpfen, in denen Regierungen und Geheimdiensten teilweise die Kontrolle entgleitet, wenn auch nie vollständig; wo Nerds und Nerd-Publikationen wie arstechnica erstaunlich grosse Rollen spielen; wo die Zivilgesellschaften einerseits vorhersehbar reagieren, andererseits anders als man unbedingt erwarten würde – die Zivilgesellschaften sind halt auch viele Einzelne und Handlungssphären, in denen sich die Individuen nicht unbedingt neu erfinden, aber entwickeln, wohl auch hin in Richtung ironische Nutzung von Daten. Vielleicht ist das der Selbstschutz der Privatsphäre des 21. Jahrhunderts: Durch ein neodadaistisches Spiel mit den Daten werden die Algorithmen immer neu unterlaufen. Datenflutung statt Datenzurückhaltung ist möglicherweise das praktikable Datenschutzverfahren des 21. Jahrhunderts – solange wenigstens kein Gesetz die Pflicht zur faktuellen Korrektheit oktroyiert. Es ist ja nicht nur eine gute Zeit für Foucault, sondern auch eine für alle Dystopiker.

Die von Foucault analysierte Uneindeutigkeit der Wirkung von Macht und Wissen breitet sich jedenfalls aus. Ironisch und teilweise unerwartet sind die Entwicklungen, nicht rein konfrontativ. Adieu Bipolarität! Zu erwarteten ist, dass sich im weiteren Verlauf des Geschehens Episteme – also in etwa Grundmuster, an denen sich Diskurse und Wissensinhalte orientieren – zeigen, welche an diesen Auseinandersetzungen sichtbar werden, die auch anderswo in der Gesellschaft auftauchen.

Redaktionsorte IV (Berlin Mitte, Juni 2013)

Redaktionsorte IV (Berlin Mitte, Juni 2013)

Interessant für uns ist, dass die Affäre um die Nutzung von Daten durch den NSA und andere Geheimdienste – von denen wir alle ja wohl eh immer annahmen, dass sie es tun, es jetzt aber genauer wissen, mit welchem Aufwand und mit welch großem Rauschen – die Bibliotheken und die Bibliotheks- und Informationswissenschaft stark beschäftigen sollte. Denn diese Institutionen machen das, was mit Daten machbar ist. Wo lange Zeit die Porno-Industrie als Experimentierfeld digitaler Vermarktungspraxen galt, springen nun die semantischen Auswertungsverfahren der Geheimdienste mit einem Budget hinzu, dass das der Bibliotheken und das der Porno-Industrie selbst in Kombination als nahzu kärglich erscheinen lässt.

Dort wird nun probiert, wovon Bibliotheks-, Informations- und Datenwissenschaft (vergleiche dazu den Beitrag von Jakob Voss in dieser Ausgabe) gemeinhin träumen: großflächige Analysen, Zusammenführung von unterschiedlichen Quellen, Aufbereitung, Metadatenanalyse, automatische Analyse von großen Daten, Veredlung von Daten. Und zwar ohne, dass permanent ein Datenschutzexperte sein Veto einlegt, was bestimmte Forschungsbereiche unserer Disziplin seit Erfindung der Logfile-Analyse ordentlich ausbremst. Zu Recht, übrigens.

Dabei waren die Versprechen dieser Durchleuchtungen wenigstens implizit daran gebunden, dass die konsequente und datenschutzrechtlich nicht sonderlich zimperliche Innovationspolitik schließlich einer bessere Nutzung von Daten allen, also der gesamten Gesellschaft, zu Gute kommen würde, so wie Bibliotheken auch allen zu Gute kommen würden. Die Parallelen zur Rhetorik der kommerziellen Datensammler sind bisweilen frappierend. Immerhin berufen sich letztere noch nicht auf den Krieg gegen irgendwelche Feinde, sondern versorgen uns mit Social Apps, die es uns ermöglichen, unsere räumliche Gegenwart mit einem digitalen Beziehungslayer zu ergänzen, der uns zum Beispiel bei einer Landpartie verrät, wo die nächste Tankstelle ist. Oder die nächste Person, die Lust auf ein Blind Date verspürt.

Nur: Wenn Bibliotheken und andere die Nutzung von Forschungsdaten als gesellschaftlich positiv verstehen, gleichzeitig die Nutzung von Daten durch die Geheimdienste als gesellschaftlich negativ verstanden wird und die enthüllenden Personen in gewisser Weise als Heldinnen und Helden betrachtet werden, da sie die Nutzung letzterer aufzuklären halfen, dann tut sich ein Graben auf. Ein moralischer, ein gesellschaftlicher, ein politischer, einer, der die Identität von Bibliotheken und Personal in Bibliotheken betrifft. Und ein Graben, der sich erstaunlicherweise in den Texten dieser Ausgabe so gut wie nicht reflektiert findet.

Darin zeigt sich auch eine List des Wissen/Macht-Komplexes: Wer schreibt, bestimmt immer auch mit, was ist und was nicht ist. „Nicht ist” im Bibliothekswesen und der Bibliotheks- und Informationswissenschaft offenbar eine Auseinandersetzung mit den Auswirkungen der Enthüllungen Edward Snowdens. Allerdings ist zumindest die deutsche Bibliotheks- und Informationswissenschaft auch nicht gerade für ausufernde moralische Reflexionen und einen politischen Gestaltungswillen berüchtigt – was nicht zuletzt auch auf den Graben zwischen dem Fach und bestimmten Teilen der Bibliothekspraxis verweist. „Ist” hingegen ist vor allem die Diskussion um die Rolle der Bibliotheken im Prozess des Forschungsdatenmanagements. Das ist hier gar nicht als Kritik gemeint, sondern als Erkenntnis.

Darüber hinaus entstand eine der umfänglichsten LIBREAS-Ausgaben überhaupt. Auch wenn sie die skizzierte daten- oder informationsethische Perspektive kaum anreißt, so leisten ihre Beiträge eine wichtige Vorarbeit für ein tieferes Verständnis von Forschungsdaten in der Wissenschaft und in Informationsinfrastrukturen. Auch sich hoffentlich anschließende informationsethische Diskussionen können darauf aufbauen.

Unter den Beiträgen finden sich grundlegende Auseinandersetzungen mit dem Datenbegriff (Jakob Voß) ebenso wie einige spartenspezifische, die etwa die Rolle der Bibliotheken im Forschungsdatenmanagement darstellen (Christiane Martin). Jasmin Hügi und René Schneider fragen nach den Motivationen potentieller NutzerInnen von virtuellen Forschungsumgebungen. Wie andere Disziplinen das Thema betrachten, erläutern für die Wirtschaftswissenschaften Sven Vlaeminck, Gert G. Wagner, Joachim Wagner, Dietmar Harhoff und Olaf Siegert ebenso wie disziplinübergreifend in Bezug auf deutsche Hochschulen am Beispiel der Humboldt-Universität Maxi Kindling, Peter Schirmbacher und Elena Simukovic. Hinzu kommen weitere Beiträge, die sich an konkreten Fragestellungen und entsprechend dazu angelegten Projekten orientieren. Patrick Sahle und Simone Kronenwett bewegen sich mit ihrem Beitrag im Bereich der geisteswissenschaftlichen Domäne und den hiesigen Überlegungen dazu, was ein Datenzentrum für die Digial Humanities leisten kann. Tim Hasler und Wolfgang Peters-Kottig analysieren anhand des auf die Langzeitarchivierung geowissenschaftlicher Forschungsdaten gerichteten Projekts EWIG Fallstricke und Herausforderungen der Causa Forschungsdaten. Jenny Delasalle stellt uns die im Vergleich mit deutschen Universitäten bereits fortgeschrittenen Aktivitäten der britischen University of Warwick vor. Claudia Engelhardt präsentiert in ihrem Beitrag die Möglichkeiten des Forschungsdatenmanagements in den DFG-geförderten Sonderforschungsbereichen vor dem Hintergrund von Informationsinfrastrukturprojekten mit dem Anwendungsfall Embedded Librarian. Passend zur Schwerpunktausgabe sind darüber hinaus die Rezensionsbeiträge von Karsten Schuldt (zu den Reports des RADIESCHEN-Projekts) und Ben Kaden, der sich mit Filmarchiven und Found-Footage-Cinema befasst.

Ergänzt und abgerundet wird die Ausgabe durch einen Beitrag von Armin Talke zu verwaisten und vergriffenen Werken, einer Rezension von Petra Hauke zum Catalogue 2.0 und einem Hinweis von Ben Kaden zum Gedenkort für den Protest eines späteren Bibliothekswissenschaftlers (und eines Computerlinguisten) im Sommer 1968 an der Berliner Staatsbibliothek.

Wir finden, dass LIBREAS #23 damit durchaus eine bemerkenswerte Kollektion an Beiträgen vereint. Wir sind uns nur angesichts der Big-Data-Welle ziemlich sicher, dass es nicht die letzte Ausgabe zum Schwerpunkt Daten sein wird. Wir wünschen viel Freude und Denkanregungen bei der Lektüre der Ausgabe #23.

 

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