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Island: Alte Literaturtradition und moderne Bibliotheken


Zitiervorschlag
Anika Baecker, "Island: Alte Literaturtradition und moderne Bibliotheken. ". LIBREAS. Library Ideas, 7 ().


Europas ferner Außenosten | Der Weg zur Nationalbibliothek | Die Bibliotheken als Informations- und Kulturzentren | Ein Land ein Katalog ein Ausweis | Eine isländische Besonderheit

Halldór Laxness, der 1955 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet wurde, ist wohl der bekannteste isländische Schriftsteller. In seinem Roman „Die Islandglocke“ lässt Laxness Professor Arnas Arnaeus auf dem Island des ausgehenden 17. und beginnenden 18. Jahrhunderts nach wertvollen mittelalterlichen Handschriften suchen. Allerdings verkennen die in Armut lebenden Bauern Islands den enormen kulturellen Wert der Handschriften und haben sie teilweise versteckt oder in ihrer Not zu Baumaterial, Schuhsohlen und Nahrungsmitteln umfunktioniert. Den Inhalt der Handschriften kennen sie jedoch sehr genau und durch zahlreiche Zitate aus den und Verweise auf die mittelalterlichen Schriften macht Laxness in seinem Roman deutlich, wie eng das isländische Nationalgefühl mit dem literarischen Erbe verbunden ist.

Arnas Arnaeus – dessen Vorbild ohne Zweifel Árni Magnússon, ein Sammler isländischer Manuskripte, ist – sieht in den Handschriften die Seele Islands und tatsächlich bilden diese auch heute den Kern der kulturellen Selbstwahrnehmung der Isländer. Die isländische Literatur des Mittelalters nimmt nämlich einen besonderen Platz in der (nord-) europäischen Kulturgeschichte ein: Die Edda, die Skaldendichtung und die Isländersagas zählen zu den wenigen schriftlichen Quellen aus dem Nordeuropa des Mittelalters und geben uns, wenn auch inhaltlich an die wahren Begebenheiten nur mehr oder minder angelehnt, einen einmaligen Einblick in die Denkweise und den Alltag dieser Zeit. Heute braucht ein Interessierter diese Schriften selbstverständlich nicht mehr wie Arnas Arnaeus auf den Bauernhöfen Islands zu suchen: Inzwischen verwahrt die isländische National- und Universitätsbibliothek einen großen Teil der verbliebenen Originale in ihren Magazinen und dabei auch vor der Öffentlichkeit. Für sie gibt es die wichtigsten Texte als Druckversionen in Buchläden und mehr noch in den isländischen Bibliotheken.

Europas ferner Außenposten

Bevor wir uns in die Bibliotheken begeben, zunächst ein paar Worte zum Land selbst: Island, nach Großbritannien Europas zweitgrößter Inselstaat, liegt im Nordatlantik südlich des nördlichen Polarkreis und nordwestlich zum Rest Europas. Das Land umfasst eine Fläche von 103.000 km², wobei das gesamte Landesinnere – immerhin mehr als 50 % der Gesamtfläche – durch seine Vulkane, Berge, Geröll- und Sandwüsten, Gletscher und Flüsse unbewohnbar ist. Von den knapp 300.000 Einwohnern Islands lebt über die Hälfte im Großraum Reykjavik, der Hauptstadt im Südwesten des Landes.Der modebewusst gekleidete Isländer, der mit dem neusten Mobiltelefon ausgestattet in seinem großen Jeep durch Reykjavik fährt, steht symbolisch für den Wohlstand des Landes. Im Human Development Index, dem Index für menschliche Entwicklung, lag Island 2003 nach Norwegen auf Platz 2 – und 18 Plätze vor Deutschland [Fn1] Tatsächlich liegt Islands Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner rund 20 %  höher als das Deutschlands und die Arbeitslosigkeitsrate von nur 2,6 % (2005) zeugt von einem ausgeglichenen Arbeitsmarkt. [Fn2] Island gibt pro Kopf 32 % mehr Geld für Bildung aus als Deutschland, was vielleicht erklärt, warum Island bei den berühmten PISA-Studien meistens im oberen Drittel und in zwei von drei Fällen über dem OECD-Durchschnitt liegt. [Fn3] Lediglich 0,01 % der isländischen Bevölkerung sind Analphabeten und das Publikationsaufkommen pro Kopf ist so hoch wie in kaum einem anderen Land der Welt[Fn4]: Im Jahr 2000 produzierte Island 6,6 Bücher je 1000 Einwohner – drei bis fünfmal soviel wie die skandinavischen Nachbarn![Fn5] Auch was die Nutzung von Mobiltelefonen, Computern und Internet betrifft, liegt Island nicht nur weit über dem europäischen Durchschnitt, sondern ist auch innerhalb der allgemein technisch exzellent ausgestatteten skandinavischen Länder führend.[Fn 6]

Doch Island war, wie Laxness Roman betont, nicht immer derart auf der Höhe der Entwicklung und lange Zeit nicht einmal selbstständig. Der „Freistaat“ Island am äußeren Rand Europas, dessen Bewohnern wir die Sagas zu verdanken haben, fiel im Jahr 1262 zunächst an Norwegen und 1380 schließlich an Dänemark. Als Teil des dänischen Königreiches war Island ein armes und rückständiges Land, dessen Randlage sich in allen Lebensbereichen deutlich zeigte. Nicht zuletzt als Folge einer seit dem 19. Jahrhundert erstarkenden isländischen Freiheitsbewegung zog sich Dänemark dann Anfang des 20. Jahrhunderts immer mehr aus Island zurück: 1904 erhielt Island sein Selbstverwaltungsrecht und ab 1918 war es ein weitgehend souveräner Staat mit eigener Verfassung, eigenem Parlament und eigener Regierung, wenngleich der dänische König noch immer als Staatoberhaupt fungierte.

Im Zweiten Weltkrieg besetzen die USA die strategisch wichtige Insel, woraus sich ein noch heute gültiges Verteidigungsabkommen sowie Wirtschaftshilfe im Rahmen des Marshall-Plans ergaben. Für das arme Island brachte diese Besetzung vor allem einen sozialen und wirtschaftlichen Aufschwung, infolgedessen Island am 17. Juni 1944 seine Unabhängigkeit von Dänemark erklärte. Als unabhängige Republik entwickelte sich das Land durch Unterstützung zum Beispiel durch den Internationalen Währungsfond rasch zu dem wohlhabenden und modernen Staat, der es heute ist.

Der Weg zur Nationalbibliothek

Nicht etwa das Desinteresse der Isländer an Literatur oder Bildung verhinderten lange Zeit die Entstehung von Bibliotheken, sondern die ärmlichen Verhältnisse, die zur Zeit der dänischen Vorherrschaft auf der Insel herrschten. Obwohl das (Vor-)Lesen aus Büchern und Rezitieren von Gedichten ein traditioneller Zeitvertreib an langen Winterabenden war, konnte sich kaum ein Isländer den Kauf von Büchern leisten. Durch dänische Handelsbeschränkungen [Fn7] wurde zudem lange Zeit die Entwicklung von Städten verhindert [Fn8], so dass sich bis ins 18. und 19. Jahrhundert ebenfalls keine kulturellen Zentren herausbildeten. Die wenigen Isländer, die Geld für eine gute Ausbildung aufbringen konnten, waren wegen fehlender Bildungsmöglichkeiten und Bibliotheken gezwungen, ihre Studien im Ausland – meist in Kopenhagen – zu absolvieren. Die älteste Hochschule Island, die Háskóli Íslands (Universität Islands) im Zentrum Reykjaviks, wurde erst 1911 gegründet.

Im 17. Jahrhundert kam in Europa, vor allem in Dänemark, ein großes Interesse an mittelalterlichen Schriften aus Island auf. Da die Handschriften selbst, so wie in Laxness’ „Islandglocke“ angedeutet, für die armen und ungebildeten Isländer weder von kulturellem noch wissenschaftlichem Wert zu sein schienen, wurden sie folglich auch nicht im eigenen Land gesammelt und so waren die meisten Manuskripte Anfang des 18. Jahrhunderts bereits ins Ausland verschifft, viele davon nach Kopenhagen. Die größte und wertvollste Sammlung, die des oben erwähnten isländischen Gelehrten Árni Magnússon, ging nach seinem Tod 1730 als so genannte Arnamagnäanische Sammlung an die Universität von Kopenhagen.

Als Teil des Kampfes um Unabhängigkeit und gesellschaftliche Anerkennung verstärkten sich die Forderungen der Isländer, ihr kulturelles Erbe selbst in Island verwahren zu können, zunehmend. Fast 300 Jahre nachdem die Handschriften nach Kopenhagen verbracht worden waren, erhielt Island einen Teil seines literarischen Schatzes zurück: Zwischen 1971 und 1997 wurden an die 2.000 Handschriften, darunter ein Großteil der Arnamagnäanische Sammlung, an das Árni Magnússon Institut in Island, einer Abteilung der Universität Islands, übergeben. [Fn9] Den Rest der dänischen Bestände an isländischen Handschriften verwahrt bis heute das Árni Magnússon Institut in Kopenhagen.

Zweifelsohne hat das Interesse der Gelehrten in Kopenhagen so manche wertvolle Handschrift vor dem Verfall gerettet. Es war ebenfalls eine dänische Initiative, die 1818 zur formalen Gründung einer ersten unabhängigen Bibliothek in Island führte. Der dänische Philologe Carl Christian Rafn fand es widersprüchlich, dass das Land, dessen Beitrag zur mittelalterlichen Literatur so einmalig und wertvoll ist, keine eigene Bibliothek besitzt und machte daher der Kopenhagener Sektion der Isländischen Literaturgesellschaft den Vorschlag, eine Stiftsbibliothek in Island zu eröffnen. 1825 endlich mit Hilfe von Buch- und Geldspenden im Dachstuhl der Domkirche von Reykjavik eröffnet, gewann diese Bibliothek so schnell an Bedeutung, dass sie 1881 in „Landsbókasafn Íslands“ (Nationalbibliothek Islands) umbenannt wurde.

Ende des 18. Jahrhunderts entstanden zahlreiche Lesegesellschaften auf Island, die jedoch, da zunächst nur den wenigen Gebildeten und Beamten vorbehalten, meist nur für jeweils kurze Zeit bestanden. Die erste längerfristig erfolgreiche Lesegesellschaft gründete der Pfarrer Ólafur Sívertsen zusammen mit seiner Frau Jóhanna auf der westisländischen Insel Flatey. An ihrem Hochzeitstag 1829 sammelten sie Geld, um den Bücherkauf für ihre „Fortschrittsanstalt“, die zugleich als öffentliche Lesegesellschaft, Schule und kulturelles Zentrum fungieren sollte, finanzieren zu können. Der Bestand dieser „Fortschrittsanstalt“ war 1864 so angewachsen, dass eigens zum Zweck der Bücheraufbewahrung ein kleines Gebäude gebaut wurde – das erste öffentliche Bibliotheksgebäude Islands öffnete damit seine Türen.

Während die Literaturpublikation in den „dunklen“ Jahren Islands fast daniederlag, knüpften die Isländer Anfang des 20. Jahrhunderts im Einklang mit der sich stetig verbessernden wirtschaftlichen Situation wieder an die alte literarische Tradition an. Einhergehend mit der Zunahme an Publikationen und dem Wunsch nach Bildung entstanden mehr und mehr Bibliotheken. Mit zunehmendem Wohlstand konnten sich die Bibliotheken eine immer bessere Ausstattung leisten und das Medienangebot passend erweitern. Stets bemüht, einen guten Service zu bieten und auf dem neusten Stand der Technik zu bleiben, bereicherten die isländischen Bibliotheken ihre Bestände schon Ende der 1980er Jahre um CD-ROMs. Und mit der Einführung des ersten computergesteuerten Bibliothekssystems 1990 fielen die aufwendigen Zettelkataloge bald weg.

Die Geschichte der jungen „Nationalbibliothek Íslands – Universitätsbibliothek“ (Landsbókasafn Íslands – Háskólasafn) ist die Zusammenlegung zweier Einrichtungen. Nachdem sich die sehr schnell anwachsenden Bestände der Nationalbibliothek und der 1940 gegründeten Universitätsbibliothek größtenteils deckten, kam man bald „zu der Überzeugung, dass es unpraktisch sei, in Reykjavik zwei wissenschaftliche Bibliotheken zu unterhalten.“[Fn10] Die Vereinigung beider Bibliotheken zu einer Institution wurde schließlich 1970 beschlossen und eigens zur Finanzierung des Baus der neuen Bibliothek eine Bibliothekssteuer erhoben.

Gebäude der isländischen Nationalbibliothek in Reykjavik

Erst 24 Jahre später, am 1. Dezember 1994, öffnete die neue Bibliothek endlich in einem hochmodernen Gebäude auf dem Campus der Universität Islands in Reykjavik, das durch seine Architektur interessanterweise an eine Festung erinnert und von den Isländern liebevoll „Volksbuchspeicher“ (Þjóðarbókhlaða) genannt wird, ihre Türen. Die Räumlichkeiten und der Bibliotheksbestand sind ganz im Sinne der beiden Hauptaufgaben der Bibliothek – Sammlung und archivarische Verwahrung des nationalen Erbes einerseits und Unterstützung der Lehre und Forschung der Universität andrerseits – zweigeteilt: Im 1. Stock befindet sich die so genannte „Isländische Abteilung“, die unter anderem 15.000 wertvolle isländische Handschriften [Fn11] „bewacht“ und als Präsenzbestand nur über eine Anmeldung zugänglich ist. In den übrigen Etagen des Gebäudes befinden sich neben dem Freihandbestand der Universitätsbibliothek zusätzlich mehrere Unterrichtsräume, ein großer Hörsaal, ein Ausstellungsraum und eine Cafeteria.

Die Bibliotheken als Informations- und Kulturzentren

Die zahlreichen Fast-Food-Restaurants, die großen Jeeps, das Hollywood-Kinoprogramm und die vielen amerikanischen TV-Serien zeigen deutlich, dass die ehemalige Besatzungsmacht USA heute wie damals einen enormen Einfluss auf die isländische Kultur hat. Spuren davon lassen sich ebenfalls im isländischen Bibliothekswesen entdecken: Fast alle Bibliotheken katalogisieren nach AACR, nutzen die DDC zur Klassifikation und verwenden Marc21-basierende Datenaustauschformate und Bibliothekssysteme. Doch der Blick der isländischen Bibliothekare richtet sich nicht nur auf das Bibliothekssystem der USA, sondern verstärkt auch auf die Bibliothekssysteme der skandinavischen Nachbarländer.

Ganz nach dänischem Vorbild beispielsweise werden Schulbibliotheken als wichtiger Eckpfeiler der Bildung angesehen und daher sind alle Grundschulen und weiterführenden Schulen [Fn12]gesetzlich verpflichtet, eine Bibliothek zu unterhalten. Während die Grundschulen ihren Schülern lediglich den Zugang zu rahmenplanumfassender und -erweiternder Literatur ermöglichen müssen, sollen die Schulbibliotheken weiterführender Schulen Informationszentren für Schüler und Lehrer sein und als zentrale Vermittlungsinstitution von Informationskompetenz zusätzlich Fähigkeiten bei der Recherche und Informationsver- und -bewertung vermitteln. Eine moderne Ausstattung und kompetentes Personal sind hier natürlich der Schlüssel zur erfolgreichen Umsetzung dieser Aufgaben.Die Bibliothek der weiterführenden Schule Südislands (Fjölbrautaskóli Suðurlands[Fn13] ) in Selfoss zum Beispiel befindet sich in einer Art Glaskasten in der Mitte des Schulgebäudes. Dadurch ist die Bibliothek zwar ein abgegrenzter Raum mit gutem Arbeitsklima, der jedoch durch die Glaswände vollkommen transparent bleibt und somit einen immer sichtbaren Teil des schulischen Lebens darstellt. Den circa 900 Schülern stehen rund 17.000 Medieneinheiten, 46 Leseplätze[Fn14] und zwei Gruppenarbeitsplätze sowie eine durchweg kostenlose Ausstattung zur Nutzung von digitalen Informationsumgebungen (Computer, Scanner, Drucker, Internetzugang etc.) zur Verfügung.

Die Ausstattung der Grundschulbibliotheken fällt im Gegensatz dazu leider sehr unterschiedlich aus: Manche Grundschulen verfügen nur über ein Bücherregal, andere Schulen stellen ein Zimmer zur Verfügung und wieder andere Schulen verfügen über eine gut eingerichtete Bibliothek mit Leseplätzen und Computern. Die Führung dieser Bibliotheken liegt zudem nicht selten in den Händen der Lehrer.

Auf der „Tagung der Bibliothekare“ (Landsfundur) Anfang Oktober dieses Jahres hieß es, dass die Besucherzahlen öffentlicher Bibliotheken zurückgingen, während die Zahlen der Ausleihen anstiegen. So sehen sich die Bibliotheken Islands gezwungen, neue Strategien zu entwickeln, um für die Nutzer attraktiv zu bleiben und dabei setzten sie oftmals auf den Faktor „Unterhaltung“. Wie es in den skandinavischen Ländern allgemein üblich ist, sehen sich die öffentlichen Bibliotheken mehr als Kulturzentren, die zentral gelegen vielseitige Angebote für ihre Nutzer bieten, denn als pure Bücherspeicher. Neben der Recherche in Quellen kann man hier das ganze Medienspektrum von Büchern, Zeitschriften und Hörbüchern über Musik und Filme bis hin zu Lernsoftware und Computerspielen ausleihen, im Internet surfen, wechselnde Kunstausstellungen bestaunen oder entspannt bei einer Tasse Kaffee die neuesten Klatschblätter durchsehen und die Tageszeitung lesen. Viele Bibliotheken veranstalten zudem regelmäßig Buchvorstellungen, Buchbesprechungen sowie Lesungen und beteiligen sich oft mit eigenen Programmen an öffentlichen Festen und Veranstaltungen.

Die Stadt- und Gemeindebibliothek in Selfoss (Bæjar- og Héraðbókasafnið á Selfossi [Fn15])hat sich in diesem Zusammenhang etwas Besonders einfallen lassen: In der Weihnachtszeit gehen die Bibliothekare durch die Regale und wählen Bücher aus allen Bereichen, die sie liebevoll zu kleinen „Geschenken“ verpacken. Nutzer, die sich ein solches „Geschenk“ ausleihen, erleben beim Auspacken eine Überraschung, die sie nicht selten auf literarisches Neuland führt und im Idealfall das Interesse auf weitere Literatur weckt. Für viele öffentliche Bibliotheken zählen Kinder und Jugendliche zu den wichtigsten Nutzern. Die „Kleinen“ sollen so früh wie möglich an das Medium Buch herangeführt werden, damit sie die „handfeste“ Literatur auch später zu schätzen und zu nutzen wissen. Die durch und durch auf ihre Zielgruppen zugeschnittenen „Kinderabteilungen“ laden die Kinder und Jugendlichen jedoch nicht nur zum Lesen, sondern auch zum Spielen ein: Brettspiele, Kuscheltiere und Spielzeug verwandeln die „Kinderecken“ oft in regelrechte Spielwiesen. Durch verschiedene Initiativen wie beispielsweise Märchen- und Bastelstunden, Wettbewerbe oder Besuche durch Kindergartengruppen stellen sich die Bibliotheken zusätzlich als mögliche Freizeitzentren vor. Die Stadtbibliothek von Reykjavik (Borgarbókasafn Reykjavíkur [Fn 16]) beispielsweise hat Sonntage zu „Kindertagen“ erklärt und lädt Kinder und ihre Eltern ein, gemeinsam an den Veranstaltungen der Bibliothek teilzunehmen und zusammen die Welt der Bücher zu entdecken.

Fraglich ist, ob die Isländer ihre Bibliotheken als derart wichtige kulturelle Einrichtungen empfinden, wie es die Bibliotheken gern sehen würden. Immerhin gibt es ja auch außerhalb der Bibliotheken genügend Unterhaltungsmöglichkeiten. Da das Lesen von Literatur aber zumeist dem Verfassen der gleichen vorausgeht und Literatur im publikationsstarken Island aufgrund des kleinen Absatzmarktes relativ teuer ist – rund 20 Euro für ein Paperback – sollte man annehmen, dass Bibliotheken eine wichtige Rolle in der isländischen Gesellschaft mit ihrem enormen Publikationsaufkommen spielen. Den gängigen Jahresbeitrag von 10 bis 15 Euro, von dem Kinder und Jugendliche bis 18 sowie Rentner befreit sind, hätte man ja schließlich schon nach dem ersten Bücherkauf locker wieder raus! Die sinkenden „Besucherzahlen“ jedoch lassen darauf schließen, dass sich immer mehr isländische Bibliotheksbenutzer hauptsächlich mit dem Informationsangebot des Internets zufrieden geben.

Ein Land – ein Katalog – ein Ausweis

Die Zukunft des isländischen Bibliothekswesens heißt Gegnir.Der Traum der Bibliothekare war und ist es, ein gemeinsames Bibliothekssystem zu verwenden und die Bestände aller isländischen Bibliotheken in einem (Online-)Katalog zu vereinen. Im Zuge dessen wurde 2001 das Alpeh500-System Gegnir als zentrales Bibliothekssystem eingekauft und seit 2003 ist der Online-Katalog mit demselben Namen unter www.gegnir.is öffentlich zugänglich. Heute arbeiten die letzten Bibliotheken fleißig daran, ihre Bestände in den gemeinsamen Katalog zu überführen und als letzten Schritt das neue Bibliothekssystem in Betrieb zu nehmen, so dass Gegnir wahrscheinlich spätestens im Frühling nächsten Jahres endlich als landesweiter Katalog den Gesamtbestand isländischer Bibliotheken umfasst und somit die Recherche sowie die Fernleihe im Land erheblich erleichtert.

Auch wenn Gegnir als zentraler und allumfassender Bibliothekskatalog gedacht ist, nehmen nicht alle Bibliotheken an dem Projekt teil. Der Grund dafür ist wohl entweder im erwarteten Umrüstungsaufwand oder in der Finanzierung zu suchen. Das System, welches von einer Firma namens „Landskerfi bókasafna“[Fn17], die der Regierung und den Gemeinden gemeinsam gehört, aufgebaut und betrieben wird, finanziert sich durch die Beitragzahlungen der Gemeinden bzw. der teilnehmenden Bibliotheken. Und obwohl die Gemeinden die Teilnahme ihrer Bibliotheken zahlen, sind manche der kleinsten Bibliotheken der Meinung, dass sich der Aufwand der Umrüstung aufgrund des geringen Umfangs ihrer Bestände nicht lohnt. Kleine wissenschaftliche Bibliotheken in privater Hand wiederum können oder wollen die zusätzlichen Kosten nicht auf sich nehmen. Nichtsdestotrotz haben sich die meisten Bibliotheken für eine Teilnahme an Gegnir entschieden, so dass der Traum der Bibliothekare im Großen und Ganzen bald Wirklichkeit wird.

In Zukunft soll es infolge des Projektes für alle Nutzer isländischer Bibliotheken nur noch einen Nutzerausweis geben, der in allen Bibliotheken gilt, auch wenn der Nutzer in jeder von ihm genutzten Bibliothek ein separates Nutzerkonto besitzt, für das er weiterhin seinen Mitgliedsbeitrag zahlen muss. Für den Nutzer besteht die Möglichkeit, sich mit seinem Ausweis in Gegnir einzuloggen und dort online Material zu bestellen, landesweite Fernleihen zu organisieren und alle seine Ausleihen einsehen zu können – die Bibliotheken, die Gegnir bereits als Bibliotheksystem verwenden, können ihren Nutzern diesen Service schon jetzt bieten. Für die Bibliotheken besitzt der gemeinsame Nutzerausweis den Vorteil, dass Nutzer mit einer besonders ausgeprägten „Mahngeschichte“ (automatisch) islandweit „gesperrt“ werden. Nutzer, die oft und vor Allem lange säumig sind und ihre Mahngebühren nicht zahlen wollen, können dadurch nicht einfach die Bibliothek wechseln, wenn die „alte“ Bibliothek ihnen nichts mehr ausleihen will. Abgesehen von dieser „Nutzersperrung“ aber gibt das System den Bibliotheken auch trotz des gemeinsamen Nutzerausweises nicht die Möglichkeit, Nutzerdaten und/oder Ausleihen in anderen Bibliotheken einzusehen.

Natürlich verläuft ein Übergang zu einem neuen System nicht immer ganz reibungslos. Neben einer Verzögerung der Überführung der Bibliotheksbestände in Gegnir aufgrund von technischen Problemen mussten und müssen viele Bibliotheken Neuzugänge parallel in zwei Systemen katalogisieren – sowohl in Gegnir als auch in dem ursprünglich von der Bibliothek benutzten System. Dass damit ein enormer zusätzlicher Arbeitsaufwand verbunden ist, erklärt sich von selbst. Die einheitliche Katalogisierung des nationalen Bestandes soll zukünftig direkt von „Landskerfi“ übernommen werden, so dass die Bibliotheken ihre Bestände nur noch mit den in der Datenbank vorhanden Eintragungen verknüpfen müssen. Die Mitarbeiter „Landskerfis“ kommen jedoch nicht mit der Katalogisierung hinterher und da nur ausgewählte Bibliothekare das Recht haben, Einträge in Gegnir vorzunehmen, können manche Bibliotheken bisweilen ihre Bestände nicht in den Katalog überführen. Dennoch wurde auf der „Tagung der Bibliothekare“ nochmals hervorgehoben, dass Gegnir der Stolz der isländischen Bibliothekare ist und dass sich letztendlich all die Arbeit und aller Ärger bezahlt machen werden.

Eine isländische Besonderheit

Islands Bibliotheken bieten einen Service an, der in dieser Form auf der Welt sicherlich einzigartig ist: Jeder, der über einen isländischen Internetanbieter „surfen“ geht, hat die Möglichkeit auf der Site www.hvar.is 12 Datenbanken, 3 Enzyklopädien und ein Wörterbuch sowie Volltexte aus mehr als 8700 Online-Zeitschriften und Abstracts aus über 1800 Zeitschriften[Fn18] kostenlos einzusehen. Das Geheimnis hinter dem Angebot sind nationale Lizenzen, die Island aufgrund seiner besonderen Situation bezüglich der geringen Einwohnerzahl und Insellage mit verschiedenen Anbietern aushandeln konnte.

Das Projekt startete 1999 mit dem Erwerb einer landesweiten Lizenz für die „Encyclopedia Britannica“ und sollte zunächst eine Erweiterung und Vereinigung des vorhandenen Zeitschriftenangebots der Bibliotheken darstellen. Für den Zugang zahlten daher anfangs fast ausschließlich die Bibliotheken, die betreffende Zeitschriften abonniert hatten, doch mittlerweile teilen sich die Regierung sowie 188 Bibliotheken, Institute und Firmen die Kosten für diesen besonderen Service. Die National- und Universitätsbibliothek ist im Rahmen dieses Projektes für die Auswahl der Zeitschriften und Datenbanken verantwortlich und handelt im Auftrag der Regierung Lizenzverträge mit den Verlagen und Anbietern aus. Zu ihren Aufgaben zählt außerdem die Aktualisierung und Instandhaltung der oben genannten Website, die nicht nur Links zu den gekauften Zeitschriften und Datenbanken, sondern auch Linksammlungen zu in- und ausländischen Open-Access-Angeboten sowie Hinweise auf kostenpflichtige Angebote beinhaltet.

Angesichts der Einzigartigkeit von hvar.is ist es allerdings schade, dass nur ein geringer Teil der Isländer von diesem Angebot weiß. Erst in den weiterführenden Schulen und Universitäten werden die Schüler und Studenten auf hvar.is aufmerksam gemacht und ein Großteil der erwachsenen Bevölkerung hat noch nie von dem Projekt gehört. Hier sollten die Bibliotheken und Informationseinrichtungen noch viel stärker nach Außen gehen und dafür werben, so dass sich die zusätzlichen Kosten für den nationalen Zugang tatsächlich lohnen und der Service besser ausgenutzt werden kann. Zumal ja dieses Angebot ohnehin sehr dem Nutzerwunsch, die Informationen direkt bis nach Hause zu bekommen, entspricht.

Die Bibliotheken Islands haben den Trend hin zur digitalen Welt jedenfalls schnell erkannt. Gerade die National- und Universitätsbibliothek arbeitet an verschiedenen Digitalisierungsprojekten, die später als Nationale Digitale Bibliothek zusammengeführt werden sollen. Interessierte können beispielsweise auf der Internetseite www.kort.bok.hi.is alte isländische Karten einsehen oder unter www.timarit.is vor 1920 erschienene isländische Zeitungen und Zeitschriften lesen.

Ein Projekt verknüpft die isländische Literatur des Mittelalters mit der Moderne des 21. Jahrhunderts: In Zusammenarbeit mit der Cornell University in den USA und dem Árni Magnússon Institut in Reykjavik wurden rund 240.000 Seiten alter Handschriften – darunter auch viele Kopien – sowie Seiten gedruckten Materials, dass in einer Beziehung mit den Isländersagas steht, digitalisiert und auf http://sagnanet.is für jedermann zur Verfügung gestellt. Diese fantastische Möglichkeit der Informationsvermittlung hatte Laxness, dessen Werk längst selbst zur literarischen Tradition Islands gehört und in jeder isländischen Bibliothek zu finden ist, sich wahrscheinlich beim besten Willen nicht träumen lassen, als er in seinem Roman „Die Islandglocke“ die Armut Islands unter dänischer Herrschaft und die beschwerliche Suche nach einem literarischen Schatz zum Thema und damit weit über die Grenzen Islands hinaus bekannt machte.

Anmerkung:

Bezüglich des heutigen Bibliothekswesens schöpfe ich hier vor Allem aus Erfahrungen, die ich während meines siebenwöchigen Praktikums an der Stadt- und Gemeindebibliothek in Selfoss im August und September dieses Jahr gesammelt habe. Dabei erwies sich die Leiterin der Bibliothek, Margét I. Ásgeirsdóttir, als eine Quelle des Wissens, die mich willig mit jeder Art von Information versorgte und noch immer versorgt. Zusätzlich verwendete ich folgende Literatur:

Hannesdóttir, Sigrún Klara (2005) Library Development in the Electronic Environment: Iceland 2005. In: IFLA Journal, hrsg. von IFLA, Heft 2, S. 151-161

Jónsson, Már (1998) The Saga Heritage. Árni Magnússon and the Collecting of Icelandic Manuscripts. http://gateway.uvic.ca/beck/media/text/saga-heritage.html

Naundorf, Cathleen; Hans Klüche (1997) Island. München: Bruckmann

Nielsen, Torben (1983) Bibliotheken der nordischen Länder in Vergangenheit und Gegenwart In: Elemente des Buch- und Bibliothekswessens/ 9. Wiesbaden: Reichert, S. 131-162

Fußnoten

[Fn 1]
siehe dazu
http://hdr.undp.org/reports/global/2005/pdf/presskit/HDR05_PKE_HDI.pdf (zurück)

[Fn 2]
Man sollte hier jedoch beachten, dass Reykjavik als die teuerste Stadt Europas gilt und dass die Isländer oft sogar zwei Arbeitsstellen haben. (
zurück)

[Fn 3]
vgl. dazu Büttner, Karin (2005) Island und das Internet. In: Information Wissenschaft & Praxis, Heft 4, S. 243-244 (
zurück)

[Fn 4]
siehe dazu ebd. (
zurück)

[Fn 5]
Laut einer Tabelle des isländischen Statistikamtes lag die Buchproduktion je 1000 Einwohner in Dänemark bei 2,7, in Finnland bei 2,3, in Norwegen bei 1,3 und in Schweden bei 1,2. Siehe dazu http://hagstofa.is/uploads/files/menning2003/Kafli_25/T25.2.xls (
zurück)

[Fn 6]
Alle Werte wurden entweder aus den Angaben von www.welt-der-zahlen.de errechnet oder direkt übernommen. (zurück)

[Fn 7]
Vom 16. bis zum 18. Jahrhundert konnte Dänemark zu seinem eigenen Vorteil den Handel Islands auf dänische Städte und Kaufmänner beschränken und durch bestimmte Handelbeschränken kontrollierte Dänemark eine Zeit lang sogar den inländischen Handel Islands. (
zurück)

[Fn 8]
Erst 1786 erhielt Reykjavik mit knapp 200 Einwohnern als erste Stadt Islands das Stadtrecht. (
zurück)

[Fn 9]
siehe dazu
www.randburg.com/is/am/am_ge.asp. (zurück)

[Fn 10]
Nielsen, Torben: Bibliotheken der nordischen Länder in Vergangenheit und Gegenwart, 1983. S. 144 (zurück)

[Fn 11]
Angabe aus einer Broschüre der Nationalbibliothek Islands – Universitätsbibliothek.(
zurück)

[Fn 12]
In Island umfassen die Grundschulen (grunnskóli) zehn Schuljahre. Nach dieser Grundausbildung können die Schüler eine Weiterführende Schule (framhaldsskóli) besuchen und eine vollschulische Berufsausbildung oder das Abitur erlangen. (zurück)

[Fn 13]
siehe dazu
www.fsu.is (zurück)

[Fn 14]
aus dem Jahresbericht der Schulbibliothek der Weiterführenden Schule Südislands (zurück)

[Fn 15]
siehe dazu www.arborg.is/bokasafn/default.asp (zurück)

[Fn 16]
siehe dazu www.borgarbokasafn.is/ (zurück)

[Fn 17]
siehe dazu http://landskerfi.is/ (zurück)

[Fn 18]
vgl. dazu www.gegnir.is. (zurück)


Anika Bäcker studiert Skandinavistik und Bibliotheks- und Informationswissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin.