> > > LIBREAS. Library Ideas # 6

Der Bibliothekar – ein Beruf im Zustand des Genichteten Nichts. Eine ontologische Feldforschung auf den Spuren Heideggers


Zitiervorschlag
Rainer Strzolka, "Der Bibliothekar – ein Beruf im Zustand des Genichteten Nichts. Eine ontologische Feldforschung auf den Spuren Heideggers. ". LIBREAS. Library Ideas, 6 ().


geschrieben für die Fitz-Oblong Show im Schauspielhaus Hannover, 2006[Fn1]

Was die Wange röthet, kann nicht übel seyn...
(Friedrich Hölderlin)

Historischer Abriss und theoretische Grundlegung

Früher waren Bibliothekare Kardinäle oder wenigstens freie konventionslose Feingeister, die für den Besitz eines Buches auch mal einen Mord begingen, wenn es unbedingt sein musste. Zwei Morde sogar beging der Magister Johann Georg Tinius, ein manischer Bibliomane, der eine Bibliothek von 60.000 Bänden besessen haben soll. Die Morde soll er begangen haben um seine Bücherwünsche trotz Geldnot befriedigen zu können. Tinius war allerdings Pfarrer, also Angehöriger eines noch zweifelhafteren Berufsstandes als ihn die Bibliothekare darstellen.[Fn2] Den Bibliothekar eint mit dem Pfarrer, dass sie ihren historischen Zenit hinter sich haben. Der bibliothekarische Berufsstand wandelt sich im Gegensatz zu jenem des Pastors allerdings ständig. Der Pastor ist was er ist. Unverrückbar und trutzig hütet er ein Erbe von dem Niemand weiß, worin es besteht (vgl. Glaube vs. Wissen). Die Bibliothekare indes verwalteten früher einmal das Wissen (glauben sie) und folgen heute brav der Bibliothekspolitik unserer pseudodemokratischen Politiker (wissen wir). Sie suchen sich neue Arbeitsfelder allen Trends treu folgend wie ein trocken Gräslein dem Winde. Manche werden schweigende Lämmer (vgl. Schlachtbank). Die meisten werden Sozialarbeiter. Dritte, und das sind die schlimmsten, werden Internetspezialisten.[Fn3]

Dieser Text dokumentiert lehrhaft diesen Wandel. Spätestens seit dem Zeitpunkt von Miss Marples Mord in der Bibliothek ist der Beruf arg auf den Hund gekommen, ähnlich wie jener des Friseurs oder der Landesbischöfin.[Fn4] War der Bibliothekar früher wenn schon nicht wirklich der Hüter der Schatzkammer des menschlichen Geistes doch wenigstens ein solider Kellner der Konventionen der Verwaltung von Wissenschaft, so ist er heute zahlender Gast auf Workshops, in denen er von arbeitslosen Pädagogen lernt, dass es für das Wirtschaftsleben besser ist, wenn niemand mehr das tut, was er am besten kann, sondern alle Berufstätigen auf den kleinsten gemeinsamen Nenner justiert werden. Wir finden hier eine Neuorientierung auf der Basis eines Systems des Nichts, in der Tradition und Fortführung Hegels, Heideggers und Schellings (in alphabetischer Reihenfolge). Das politisch gewünschte Ideal ist es, Wissenschaft und Forschung, ja das gesamte Berufsleben in Deutschland auf das Niveau von 1-Euro-Jobs zu bringen (vgl. Bildungslandschaft Deutschland). Dank der Erschließung neuer Berufsfelder geht der Bibliothekar hier stolz erhobenen Hauptes voran. Der Beruf hat deshalb heute keine Probleme mehr, sondern nur noch Herausforderungen. Je mehr er sich in „Jargon anreichert“ und an Eigentlichkeit (Adorno) und Inhalt verliert und sich im Genichteten Nichts (Heidegger) orientiert, desto mehr versucht er, in Mimikry anderer Berufe zu überleben; beispielsweise als Wissensmanager, Informatiker oder eben Sozialarbeiter (siehe oben und vgl. „Bin ich, wenn ich nicht denke“; Reinhard Linde), was fast so schlimm ist wie Internetspezialist. Es gibt praktisch keinen modernen Beruf, der nicht von Bibliothekaren überzeugend mimikriert wird – mit Ausnahme eben jenes oben erwähnten Pastors, eines Meisterwerks der Berufskunde, weil er seit 2000 Jahren ohne Generalüberholung läuft und läuft und läuft (vgl. Loriot: „Wo laufen sie denn.“).

Die Ontologie und Dialektik solch moderner bibliothekarischer Arbeit setzt die Thesen Adornos und Heideggers über das Sein, das Nichtidentische, die Synthesis und die Kopula in einer modernen Umgebung fort; das Nichts und die Seinsvergessenheit in der Überwindung der Metaphysik ist eine primär bibliothekarische Aufgabe geworden in der seinhistorischen Deutung des deutschen Nihilismus. Insbesondere der Berufsstand der Sozialarbeitswissenschaftler – wie die Erzieher heute heißen – ermöglicht dem Bibliothekar durch Nachahmung das Althergebrachte – den Hüter der Schatzkammer des menschlichen Geistes – mit den Anforderungen der Moderne zu verbinden („Verwechselt mich vor allem Nicht“, Heidegger). Wie das gelingen kann (vgl. abschließend nochmals Heidegger: „Hineingehalten in das Nichts“), zeigt folgendes Beispiel aus der Praxis, der Betreuung von Seniorenstudenten, die eigentlich eine Aufgabe für Sozialarbeiter wäre, aber von Bibliothekaren viel besser ausgefüllt wird, seit die Erwerbungsetats immer knapper werden und Bibliothekare mittlerweile billiger zu haben sind als jene.

Da Seniorenstudenten ganz natürlich auf veraltete Literatur zurückgreifen, haben wir, die wir ansonsten eigentlich nichts mehr zu tun hätten, ein völlig neues Berufsbild zu erobern; da die Gesellschaft überaltert, ein Zukunftsträchtiges, aus dem wir alles in unseren Leitbildern Gehörtes in die Realität umsetzen können.

Hier ein Beispiel dafür, wie unsere Neuorientierung aussehen sollte:

Es handelt sich im angeführten Falle um eine erfolgreich durchgeführte Kreuzung aus konventionellem Bibliothekar, Sozialarbeiter, und B.A. Fachrichtung Seniorenstudenteninformationskompetenzschnellbruttechnologie (FH), kombiniert mit pastoraler Liebenswürdigkeit und Duldsamkeit.

Die Praxis: Das Fallbeispiel

Bibliothekar (am Telefon): „Universitätsbibliothek Föltsiehausen; mein Name ist Konradin Pilzik-Schmersebier. Hier spricht Ihr ganz persönlicher, kompetenter und immer williger Informationslotse durch den Informationsdschungel. Was darf ich heute für Sie tun? Bitte sprechen Sie jetzt. Pieps.“

Kundin[Fn5]: „Ja, hier ist die Frau Sümsel. Ist denn der Herr Professor Holzhausen da?“

Bibliothekar: „Da haben Sie sich leider verwählt. Sie sind hier in der Bibliothek. Wir haben auch keinen Professor Holzhausen an der Universität, sondern nur einen Professor Hünig, wenn es denn der Buchstabe H sein muss. Wenn es ein F sein sollte, hätten wir nämlich keinen Professor vorrätig, obwohl wir in Föltsiehausen wie F sind. Wir sind hier eine kleine Universität, nicht so eine ehrwürdige Alma Mater wie in Hildesheim, Vechta oder Lüneburg mit vielen berühmten Professoren. Wir haben nur den einen. Wir sparen wo immer es geht. Die Universität ist dem Beispiel der Bibliotheken gefolgt. Seit die UB Dortmund eine Stelle für einen Fachreferenten ausgeschrieben hat, der Bauwesen, Raumplanung, Kunst, Musik, Textilgestaltung, Sport und Recht vertreten soll, sparen auch die Universitäten aufgrund des schönen Beispiels. Hünig vertritt Literaturwissenschaft und alle anderen Fächer.“[Fn6]

Kundin: „Hab ich ja gesagt mit H. Ja, und ist der nicht in der Bibliothek?“

Bibliothekar: „Manchmal ist er in der Bibliothek. Jetzt ist er aber nicht in der Bibliothek.“

Kundin: „Wirklich nicht? Ja, und wieso nicht? Der Professor hat nämlich auch ein Buch geschrieben. Es heißt: 'Vom Geiste in dieser Zeit’ oder ’Zeitgeist breit’ oder so. Haben Sie das? Aber warum ich eigentlich anrufe: es geht um das Seniorenstudium. Wann ist er denn in der Bibliothek?“

Bibliothekar: „Das Buch heißt 'Geist und Kleid.’ Ich kann Ihnen leider nicht sagen, wann er in der Bibliothek ist.“

Kundin: „Warum denn nicht? Er ist doch manchmal in der Bibliothek, sagten Sie gerade. Warum denn gerade jetzt nicht? Es geht nämlich um das Seniorenstudium. Der Herr Professor hat ein Buch geschrieben.“

Bibliothekar: „Dann rufen Sie doch bitte im Sekretariat von Herrn Hünig an. Die Durchwahl ist 3713.“

Kundin: „Der heißt Professor Doktor Hünig. Ist das denn der Selbe? Oder haben Sie doch zwei? Nicht dass ich mit dem Falschen spreche. Wissen Sie, es geht um das Seniorenstudium. Der Herr Professor macht dort kein Angebot mehr.“

[Pilzik-Schmersebier denkt: das kann ich gut verstehen....; sagt aber:] „Das tut mir sehr leid für Sie.“

Kundin: „Ja, wann ist denn der Herr Professor zu sprechen? Ich habe doch bei der 3713 angerufen.“

Bibliothekar: „Nein, Sie haben bei der 3173 angerufen. Das kann ich Ihnen nicht sagen. Hier ist er in der Regel gar nicht zu sprechen.“

Kundin: „Ja, aber dort ist doch die Bibliothek. Die Nummer ist doch dieselbe. Hab ich doch gesagt. Der Herr Professor hat auch ein Buch geschrieben. Über irgendeinen Dichter mit -ller am Schluss, oder -lller. Können Sie mir auf die Sprünge helfen? -ller am Schluss. Oder -lllller.“

Bibliothekar: „-ller am Schluss oder -lller? Das ist nicht schwer. Schiller?“

Kundin: „Auf gar keinen Fall. Den kenne ich in- und auswendig. Das hätte ich auch alles selbst schreiben können.“

Bibliothekar: „Heller?“

Kundin: „Nun hören Sie schon auf. Sie wissen genau, wen ich meine. Den Gottfried Keller natürlich. Den Doktor Gottfried Keller, um genau zu sein. Haben Sie denn von dem Doktor Keller auch ein Buch? Wissen Sie, es geht nämlich um das Seniorenstudium.“

Bibliothekar: „Ja, wir haben von und über Keller rund 400 Titel.“

Kundin: „Und wo stehen die denn? Können Sie mir die bitte alle fotokopieren und nach Hause schicken?“

Bibliothekar: „Moment.... Gottfried Keller... die stehen bei Qwy G 25.004561.dgz VgM 16.3560.1234 Ke. Beachten Sie bitte die Groß und Kleinschreibung und die Hochstellungen bei den Buchstaben in der Signatur. Bei Qwy G 25.004561.dgz VgM 16.3560.1234 ke stehen die Bücher von Ludfried Keller, bei Qwy G 25.004561.dgz VgM 16.3560.1234 ke jene von Fürchtegott Keller; bei qwy G 25.004561.dgz VgM 16.3560.1234 ke die von Frommholdt Gronewit Keller.“

Kundin: „Der Dr. Keller hat ein Gedicht geschrieben. Es heißt 'Wo ist meine Medizin’. Haben Sie das?“

Bibliothekar: „Das Gedicht heißt „Wie einst die Medizäerin“ Es handelt nicht von Medizin, sondern von der Metamorphose eine der Mode unterworfener Nippesfigur, die erst mediceische Einflüsse verkörperte, dann Vorbild für die Venus von Milo wurde. Nach Keller bleibt die Substanz der Kunst, ihre klassische Größe letztlich unberührt. So jedenfalls verstehe ich Gottfried Kellers Gedicht aus dem Jahre 1878. Nichts von Medizin. Der von Keller beklagten kunstgewerblichen Popularisierung entspricht die beklagte Banalisierung des Kunstwerks zum Objekt massentouristischer Begaffung. Der Glaube ans Ideal, ja das Ideal selbst sind durch ein alles sich einverleibendes konsumorientiertes Zeitalter gefährdet.“

Kundin: „Der Goethe hat auch ein Gedicht geschrieben. Haben Sie das auch?“

Bibliothekar: „Wir haben von Goethe alles. Absolut alles. Finden Sie bei Goe 1-Goe 99999.“

Kundin: „Goethe wurde nämlich von 1749 bis zum 22. März 1832 geboren und war Freimaurer. Er muss nach dem 40. Lebensjahr ziemlich unbeweglich und steif gewesen sein, so wenig wie er da geschrieben hat. Ich kenne mich damit aus, glauben Sie mir. Mein Arzt sagt immer, ich sei so alt wie man sich fühlt. Goethe hat mal den Apollo von Belfeder geschrieben und der kannte auch den Schiller. Goethe hatte auch einen Garten. Mit den Frauen war der ganz schlimm. Ich hätte den ja nicht genommen. Der Schiller hat auch ein Gedicht geschrieben. Er lebte von 1759 in Marbach bis 9. Mai 1805 in Weimarer, in der Klassik, wie der Professor immer sagt. Weimar wurde übrigens von Giovanni Enrico Vaymer gemalt, deswegen heißt es auch so [Pilzik-Schmersebier denkt: heißt es nicht...]. Man fragt sich ja bei dem Schiller immer, ob der nicht Kommunist gewesen ist, weil der in der DDR gelebt hat. Der Schiller hat doch von dem Becher die Nationalhymne „Und neues Leben blühühüt aus den Ruinen“ abgeschrieben als der Becher mal wieder völlig duhn vom Rauschgift war. Oder war das der Benn? Das sind ja praktisch dieselben. Die hatten da ja auch schöne Gedichte in der Ostzone. Von der Betonbauerbrigade und dem Plan und dem Lohndrücker. ‚Planschbecken’ ist ja noch so ein Wort wo 'Plan’ drin vorkommt. Der Hitler hat den ja ab 1941 höchst persönlich verboten, den Schiller. Wer weiß, wozu das gut war. Haben Sie auch was von dem Hitler oder einen Bleistift für mich? Oder kennen Sie jemanden, der einen verloren hat und ihn nicht mehr braucht?“

Bibliothekar: „Was nützt Ihnen denn mein Bleistift? Oder meinen Sie einen verlorenen Hitler? Den Hitler braucht niemand, der zur Menschwerdung gefunden hat.“

Kundin: „Ich möchte mir nur ein paar Notizen über den Roth machen.“

Bibliothekar: „Das ist ein wahrlich tragischer Autor: herumirrende Juden, Heimatlose...er selbst ein schwerer Trinker, wobei es ja heutzutage eine unzumutbare Sonderleistung ist, nicht zum Trinker zu werden. Sagte jedenfalls Joseph Roth selbst über sich.“

Kundin: „Den meine ich nicht. Sie wissen ja überhaupt nichts. Eugen Roth. Ich schreibe bei den 'Schreibfreunden’ in Alfeld auch immer so lustige Gedichte wie der Eugen Roth und zwar ohne zu trinken. Das hier hab ich geschrieben: 'Das Leben ist so heiter und das geht noch immer munterer weiter. Schön, dass Du bei uns bist, weil du sonst nie geboren worden währest bist.’ Das lesen wir immer bei den Leichenessen in unserem schönen Sankt Nikolai. Möchten Sie noch eines? Ich kenne hunderte davon und alle auswendig. Man ist ja so jung wie wenn man ich mich fühle.“

Bibliothekar: „Wir sprachen von einem Bleistift...“

Kundin: „Der Professor weiß auch nicht alles. Der erzählte mal von einem Carl Hauptmann. Den gibt es aber gar nicht. Der heißt nämlich Gerhart Hauptmann. Ist der Professor Holzhausen denn jetzt da? Können Sie mir denn bis er irgendwann mal kommt mal schnell ausrechnen, ob es billiger ist, ein Buch von 280 Seiten zu kopieren als es sich zu kaufen wenn eine Kopie 5 Cent kostet.“

Bibliothekar: „Was kostet denn das Buch?“

Kundin: „Woher soll ich das denn wissen. Sie sind doch der Bibliothekar. Verkaufen Sie mir ein kleines schnuckeliges Grünes.“

Bibliothekar: „Um welches Buch handelt es sich denn? Ich könnte dann für Sie nachsehen. Es ist übrigens verboten, ganze Bücher zu kopieren. Wir verkaufen auch keine Bücher. Zum Bücherkaufen und Bücherstehlen gibt es Buchläden.“

Kundin: „Woher soll ich denn wissen, um welches Buch es sich handelt? Kostet das nun mehr oder weniger, als es zu kaufen? Warum stehen eigentlich im Semesterapparat bei Ihnen nur die Bücher, die auf der Liste von Ihrem einzigen Professor stehen?“

Bibliothekar: „Weil wir nur einen Professor haben.“

Kundin: „Sie verstehen aber auch nichts von dem was ich sage. Ich meine wieso stehen da nicht auch die Bücher drin, die im Literaturverzeichnis von den anderen Büchern stehen?“

Bibliothekar: „Weil dann der Semesterapparat nicht 500, sondern 100.000 Bände hätte. Das sprengt unseren Regalraum.“

Kundin: „Na und? Ich habe zu Hause mindestens 7 Bücher und Hefte in einem einzigen Regal und die Aschen meiner Männer haben da auch noch Platz in ihren hübschen Urnen. Wie heißt das Buch mit der Signatur H 45623.4?“

Bibliothekar: „’The lubrication of oil engines’.“

Kundin: „Verstehe. Ist das zufällig dasselbe wie "Sinnlichkeit und Verstand in der philosophischen und poetologischen Begründung von Erfahrung und Urteil bei Gottsched, Wolff, Bodmer, Leibniz, Breitinger und Baumgartner“?

Bibliothekar: „Nein. Ist es zufällig nicht.“

Kundin: „Und warum nicht?“


[...]

Schadhafte Buchrücken

Schlechter Rücken, lose Seiten..: Im Umgang mit manch älterem Exemplar ist dem Bibliothekar Vorsicht geboten.

Zeigt man diese Notizen über wahre Gespräche in der Bibliothek einem Sozialarbeiter, so wird er dazu raten, Seniorenstudenten zu verhauen, so wie er das ungestraft in seiner Seniorenresidenz mit den dortigen Petitenten um Menschlichkeit und glückliches Alter tut.

Diese Position aber ist prinzipiell aus kulturellen sowie phylo- und ontogenetischen Gründen bedenklich: Die Senioren könnten zurück hauen oder plärren, was im Lesesaal unbedingt zu vermeiden ist. Statthafte Ausnahmen sind: wenn sie uns über Gebühr beleidigen (schwierig beim Bibliothekarsberuf zu begründen); oder wenn sie uns ihre Auffassungen in tätlicher Form erläutern; unsere Mütter oder gegenwärtige Gefährtin, oder irgendeine weibliche Person unseres Anhangs in ihrer moralischen Haltung in Frage stellen; oder Kolleginnen verbal, oral, taktil, oder anderweitig belästigen, was sich notfalls auch provozieren lässt, wenn man denn nun um jeden Preis einen Senioren verhauen möchte. Das aber verprellte unsere künftige Hauptklientel.

Weit ehrbarer ist es, bei derartigen Benutzern sich einer rhetorisch gehobenen Sprache zu befleißigen und hunderterlei Argumente anzuführen. Dabei ist unbedingt immer bei Plato zu beginnen. Man erwähnt die Komplexität der Kausalitäten in diesem besonderen Fall und erinnert an einen eigenen, kürzlich im Institut für Forschung an (um? in?) Philosophie gehaltenen Vortrag über die inhärente Widerborstigkeit bedruckter Materie, ihre leibniz'sche Wesenheit des Monadischen, und ihre ganz un-newton'sche Tendenz zur Selbstauflösung in Raum und Zeit, woraus folgt, dass dem Ansinnen des geschätzten Kunden hic et nunc nur schwerlich entsprochen werden könne.

Sekundärliteratur:

Arant, Wendi (2002) The image and role of the librarian. New York: Haworth Information Press

Langley, Anne (2003) The role of the academic librarian. Oxford: Chandos Publishing

Ledlmaier, Karl (1988) Natur und Geist – ein nicht hintergehbares Verhältnis? Heidegger oder künstliche Intelligenz? Klagenfurt

Neumann, Walter G. (1989) Die Philosophie des Nichts in der Moderne. Sein und Nichts bei Hegel, Marx, Heidegger und Sartre. Essen: Verlag die blaue Eule

Nickel, Jost (Pseud. von: Dietmar Bittrich) (1984) In der Bibliothek. Hörspiel. Regie: Dietrich Auerbach. Produktion Rias Berlin und Hessischer Rundfunk

Fußnoten

[Fn 1]
Der Autor dankt Michael Quasthoff , Dietrich zur Nedden, Carola Birkemeier und Mi-Andi
(zurück)

[Fn 2]
literarisch neuerdings wohlgeformt bei: Detlef Opitz: Der Büchermörder. Ein Criminal. Frankfurt/ a.M. 2005; Rezension des Verf. demnächst in AKMB-News; zuvor auch Heiko Postma: Wer irrt hier durch den Bücherwald?. Hannover 2000; Jörg Kowalski: Tinius oder die Bibliothek im Kopf. Dobis/Bernburg 1998; Johann Georg Tinius: Merkwürdiges und lehrreiches Leben des M. Johann Georg Tinius, Pfarrers zu Poserna in der Inspektion Weissenfels von ihm selbst entworfen. Berlin: Friedenauer Presse, [1989 ?]. 1989.; Ernst Arnold: Der Pfarrer und Magister Tinius. Ein Raubmörder aus Büchersammelsucht. Leipzig 1977; Paul Gurk: Magister Tinius. Bremen 1947; u.a.m. (zurück)

[Fn 3]
vgl. hierzu: Rainer und Charlotte Strzolka: Suchmaschinenkunde. Hannover 2006
(zurück)

[Fn 4]
vgl. Blätter zur Berufskunde N.F.: Berufe die auf den Hund gekommen sind Bde 1 und 2. (zurück)

[Fn 5]
Dem Trend der Zeit entsprechend wird statt „Benutzerin“ von der „Kundin“ gesprochen. Alternativ und ohne Rangfolge könnte man auch von „Klientin“, „Patientin“, „Mandantin“ u. ä. sprechen – die neue Beliebigkeit lässt grüssen
(zurück)

[Fn 6]
Inetbib vom 17. November 2005
(zurück)


Rainer Strzolka arbeitet als Bibliothekar in Niedersachsen und nimmt diverse Lehraufträge wahr, u.a. zur Literaturwissenschaft, Fotografie und Hörspielforschung.