Am Anfang war die Philosophie... bzw. die Philosophie stand am Anfang der Wissenschaft als Ur- und Omniwissenschaft, als die Suche nach Antworten auf die Letztfragen. Die Geschichte der Wissenschaft ist ein Progress, bei dem sich aus den Antwortmöglichkeiten auf spezifische Fragen spezifische Wissenschaften entwickelten, d.h. eine Pluralisierung und Differenzierung der gestellten Fragen und Bereiche auf die diese Fragen zu beziehen sind.
Diese Wissenschaften, ob Medizin, Astronomie, Biologie, Philologie stellten und stellen ihre Fragen ergo immer innerhalb eines spezifischen Bezugssystems, fragen also immer unter bestimmten Bedingungen.
Gleiches gilt natürlich auch für die Bibliothekswissenschaft, deren Bezugssystem vom Namen her die Institution Bibliothek im weitesten Sinne ist. Dieses Bezugssystem existiert nicht unabhängig von anderen Systemen, sondern steht vielmehr mit diesen in Wechselwirkung - ein Faktum, welchem unter den Stichworten "Inter-" bzw. "Transdisziplinarität" seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verstärkt Rechnung getragen wird. John Donnes "No man is an island" lässt sich auch auf die Wissenschaft übertragen: "No subject is an island".
Der Philosophie kommt in diesem System der Bezugssysteme, welches unter der Bezeichnung "Wissenschaftssystem" oder auch "die Wissenschaft" geführt wird, eine besondere Bedeutung zu, fragt sie doch nach Dingen, die als Ursprungs- oder Letztfragen prinzipiell in Bezug zu den elementaren Seinsgegebenheiten stehen. Auch innerhalb der Philosophie haben sich verschiedene eigene Bezugssysteme von der Ästhetik über die Erkenntnistheorie, die Moralphilosophie oder die Ontologie bis hin zu spezialisierten Formen wie z.B. Rechts- oder Staatsphilosophie entwickelt, wobei immer nach dem Wesen bzw. den Seinsmöglichkeiten der jeweiligen Bezugsobjekte gefragt wird.
Wir haben also etwas, auf das man sich bezieht und dadurch, dass man sich auf dieses bezieht, postuliert man dessen Existenz. Natürlich gab es auch Versuche sich auf das Nicht-Sein zu beziehen (z.B. Barthes, 2002[Fn1]), wobei sich dieses Nicht-Sein überzeugend nur über einen Bezug zum Seienden, sei es durch Negation, Privation oder Noch-nicht-Sein oder als Vorgrund des Seins, fassen lies.
Da nun alles, auf das man sich bezieht, d.h. auch in der Wissenschaft fragend orientiert, existiert, lässt sich auch jeder Bezugsgegenstand philosophisch angehen, in dem man nach den Bedingungen seines "Seins" bzw. seiner "Seinsmöglichkeiten" oder auch der Möglichkeiten der "Wahrnehmung dieses Seins" durch den Wissenschaftler fragt.
Die etwas unselige Diskussion um die Existenz einer Bibliothekswissenschaft erübrigt sich - jedenfalls nach Meinung der LIBREAS-Redaktion - vor diesem Hintergrund: selbstverständlich ist die Bibliothek - wie der Mensch (Anthropologie, Medizin, Psychologie...), die Naturgesetze (Physik, Biologie, Chemie...), die Gesellschaft und ihre Funktionsformen (Jura, Ökonomie, Soziologie, Politik...) und besonders Resultate kultureller Entwicklung wie Literatur, Kunst, Computertechnik und Landwirtschaft etc. - als Bezugssystem für die Anwendung systematischer Fragestellungen und damit für eine wissenschaftliche Beschäftigung geeignet.
Wie diese konkret ausgestaltet wird, ist sicher eine andere Frage, wenn man jedoch die verschiedenen Funktionszwecke der Bibliothek extrahiert, die da wären:
Sammlung der auf Datenträgern verfügbaren Repräsentationen menschlicher Wahrnehmung und Reflexion,
Erschließung, d.h. klassifikatorisch Ordnung dieser Repräsentation, woraus sich als Nebeneffekt eine Ordnung des Seins in seiner in dieser Form repräsentierten Darstellung ergibt,
Verfügbarmachung dieser erschlossenen Repräsentation der Welt
ergibt sich durchaus eine ausreichende Komplexität, um hier die Notwendigkeit einer wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Gegenstand als sinnvoll anzusehen. Setzt man dazu die (Brockhaus-)Definition von Wissenschaft als "Inbegriff menschl. Wissens einer Epoche, das systematisch gesammelt, aufbewahrt, gelehrt und tradiert wird" (Brockhaus, 2001, Bd. 24, S. 291), so ist es schon schwer, die Parallelen zwischen dem in der Wissenschaft an sich gegebenen Funktionszweck und den in der Bibliothek anzutreffenden Funktionszwecken zu übersehen. Man kann im Prinzip "Repräsentationen..." und "Wissen" in der jeweiligen Beschreibung austauschen und erhält eine interessante Übereinstimmung.
Letztlich, so lässt sich als These formulieren, ist nach den oben aufgeführten grundlegenden Funktionszwecken der Bibliothek diese grundsätzlich "wissenschaftlich" und eine Bibliothekswissenschaft ließe sich zweifellos auch als Untergebiet einer Wissenschaftswissenschaft verorten.
Von den Schwerpunktbeiträgen der vorliegenden Ausgabe von LIBREAS stößt der Beitrag von Søren Brier sicherlich am konkretesten und tiefsten in den Existenzgrund des Faches.
Der dänische Wissenschaftstheoretiker beschäftigt sich sehr ausführlich mit dem Grundkonflikt zwischen der informationalen bzw. informationstheoretischen und dem zeichen- bzw. kommunikationstheoretischen semiotischen Paradigma um die Definitionshoheit des Faches, wobei seine Lösungsempfehlung zugunsten eines nach Peircschen Überlegungen geprägten Konzeptes ausfällt.
Der stark kognitionswissenschaftlich ausgerichtete Beitrag des Sprach-, Informations- und Kommunikationswissenschaftlers Algirdas Budrevicius von der Universität in Vilnius, den wir als Übersetzung eines 2002 in der litauischen Zeitschrift Informacijos Mokslai erschienenen Artikels bringen, beschäftigt sich ebenfalls mit einem zeichenbasierten Ansatz, der "Semognostik", in welchem das Phänomen des Bedeutungs-Wissens (meaning-knowledge) und eine bedeutungsorientierte Sicht auf das Phänomen "Information" vor dem Hintergrund der Entwicklung von technischen datenverarbeitenden Systemen zentral sind.
Auch Rafael Capurro setzt sich in seinem Text, den wir hier als Übersetzung eines Papers aus dem Jahr 1997 vorlegen, mit dem Phänomen des "Wissens" auseinander. Seine Frage zielt nach der Beständigkeit und Vergänglich- bzw. Veränderlichkeit vom Wissen, was vor dem Hintergrund der zunehmenden Virtualisierung der Repräsentationsflächen für Wissen durch die Entwicklung elektronischer Kommunikationsmöglichkeiten nach wie vor von zunehmender Aktualität ist.
Eine sehr schöne Reflexion über die moralische Dimension der Anreicherung von Katalogisaten mit Zusatzinformationen wie Leserrezensionen, dem so genannten "Catalogue Enrichment" stellt der Beitrag von Joachim Eberhardt dar. Er kommt zu dem Ergebnis, dass eine solche Praxis angesichts der im Normalfall eher weniger zu erwartenden Negativeffekte vermutlich moralisch wenig problematisch ist. Allerdings kommt der Bibliothek eine gewisse Sorgfaltspflicht zu.[Fn2]
In virtuellen Kommunikationskontexten werden Wissensrepräsentationen nicht nur gesammelt und verfügbar gehalten, sondern auch erzeugt. Einen sehr erfolgversprechenden Ansatz stellen dabei so genannte Wiki-Systeme dar, in denen unmittelbar am Bildschirm kollaborativ Texte verfasst werden können. Die bekannteste Variante stellt sicherlich die Wikipedia dar, in der es allerdings weniger um Erkenntnisgewinn und mehr um die Sammlung von Fakten geht, die aber dennoch auch das Potential (nicht zuletzt über das neue Phänomen der Wikimetrics [Fn3] ) besitzt, mittelbar selbst als Erkenntnisgegenstand zu dienen und unmittelbar durch dynamische Hypertextualisierungen von Wissenselementen neue Wissenszusammenhänge zugänglich zu machen. Rainer Kuhlen stellt in seinem Text zur Wikipedia Entwicklung, Funktionsweise und Potential des Angebots in Bezug auf die Fachinformation dar.
Trotz aller Virtualisierung von Lebens- und Wissenszusammenhängen kommt der Bibliothek als physischem Ort nach wie vor eine hohe Bedeutung zu, wobei zukünftig vermutlich die Transformation der Bedeutung als Zugangsort zu physischen Medien hin zum Arbeitsraum weiter an Bedeutung gewinnen wird. Die Rolle des Zugangsortes bezieht sich zunehmend auf über elektronische Netzwerke verfügbare, zugangsbeschränkte Informationsbestände, zu denen die Bibliothek Nutzungslizenzen erwirbt und die sie entsprechend in einem als "Bibliothek" gekennzeichneten physischen Raum begrenzt und kontrolliert zur Verfügung stellt. Allerdings stehen diese Entwicklungen noch relativ am Anfang, so ist kaum absehbar, wie sich die technischen Möglichkeiten der Zugangskontrolle in 5-10 Jahren darstellen. Sicher ist, dass auch hier der Trend in Richtung einer räumlichen Flexibilisierung weist. So tritt eine andere Funktion zusätzlich ins Zentrum: die der Bibliothek als Repräsentationsort.
Dieser in den letzten Jahren scheinbar zunehmende Trend manifestiert sich zunächst besonders in Bibliotheken von nationaler Bedeutung, wie der BnF in Paris, dem "Schwarzen Diamanten" in Kopenhagen, der British Library oder auch der neuen Bibliothek in Alexandria.
Die Bibliothek wird ganz bewusst zum architektonischen Ereignis stilisiert. Auch Universitäten scheinen die Möglichkeit der Bibliothek als bauliches Aushängeschild zunehmend zu erkennen und greifen, wie z.B. die Beispiele Dresden oder Cottbus zeigen, auf auffälligere Entwürfe zurück, die weit über das für das Funktionieren einer Bibliothek Notwendige herausreichen. Entsprechend entwickeln sich Bibliothek zum beliebten Betätigungsfeld für die "Größen" unter den Architekten. Einer dieser ist Sir Norman Forster, dessen Büro die Freie Universität in Berlin den Entwurf für ihre neue philologische Bibliothek verdankt. Dem Entwurf kommt zusätzlich eine besondere Rolle zu, da er in einen anderen, architektonisch sehr speziellen und ambitionierten Gebäudekomplex integriert (bzw. "implantiert") wurde: die so genannte "Rostlaube". Christoph Tempel beleuchtet in seinem Text aus architekturtheoretischer Perspektive einerseits die Frage, inwieweit diese Allianz gelungen ist und andererseits den Bibliotheksneubau selbst.
Eine dieser Repräsentationsbibliotheken, die BnF von Dominique Perrault in Paris, könnte für Anne Christophe, angehende Kuratorin und Studentin an der École nationale de Chartes in der Rue de Sorbonne, potentieller Arbeitsplatz sein. Ob sie das tatsächlich möchte, wissen wir nicht, aber immerhin wissen wir nun, dass die Ausbildung dieser Kuratorin etwas ganz Spezielles ist, denn Anne hat uns einen schönen Text zur ihrer Schule und ihrem Ausbildungsgang in Französisch und Englisch geschickt, den wir zusätzlich auch noch ins Deutsche übertrugen.
Libriana sind sicherlich höchstens zufällig Gegenstände der Arbeit der Kuratoren von der École, jedoch unter Umständen für bibliotheksorientierte Menschen mit ausgeprägtem Sammeltrieb Lebensinhalt. Ganz so schlimm ist es bei der LIBREAS-Redaktion noch nicht. Dennoch freut sie sich, ein kleines postalisches Bibliotheksartefakt zu präsentieren und aufzuzeigen, welche (bibliothekshistorischen) Anschlussmöglichkeiten sich hieraus ergeben können.
Um schließlich nicht nur die Ansprüche an die cognitio intellectiva, sondern auch die cognitio sensitiva unserer Leser zu bedienen, gibt es in dieser Ausgabe zusätzlich zwei kleine künstlerisch-kreative Arbeiten, die das Thema Buch und Bibliothek visuell offensiv variieren.
Abschließend bleiben nur noch der Dank an die Autoren für die wirklich ausnahmslos vorzügliche Zusammenarbeit und der Ausblick auf unsere Frühjahrsausgabe, die den Schwerpunkt „Bibliothekskultur“ verfolgen soll. Über Beiträge, gern auch assoziativ-kreativer Art freuen wir uns sehr.
[Fn 1]
Barthes, Roland (2002) Le neutre : notes de cours au Collège
de France, 1977-1978.Paris : Éd. du Seuil (zurück)
[Fn
2]
Wobei man allerdings quasi analog dazu
überlegen könnte, wie sich die Risiken bei negativen Rezensionen
in kommerziellen Kontexten, wie z.B. dem Angebot von Amazon, auswirken,
wenn hier u.U. eine Kaufentscheidung und damit eine Einkommensmöglichkeit
für Verlag und Händler direkt unterbunden wird und inwieweit
ein Relativierungselement wie die "War diese Rezension für
Sie hilfreich?"-Funktion als
Kontrollinstanz wirken kann. (zurück)
[Fn
3]
vgl. z.B. URL < http://wm.sieheauch.de/
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