Jetzt, wenn dieses Editorial entsteht, sitzen wir – die Redaktion plus unsere Schwerpunktredakteurin für diese Ausgabe, Ulla Wimmer – in Wohnungen, um während der COVID-19-Pandemie sowohl aus Selbstschutz als auch aus Solidarität das Ansteckungsrisiko gering zu halten. Diese Ausgabe entstand also, mehr noch als andere, online, über Landes- und Sprachgrenzen hinweg. Persönlich war diese Situation für einige von uns belastender als für andere. Starke Eindrücke hinterließ sie bei uns allen.
Aber selbstverständlich waren und sind wir nicht allein. Kolleg*innen in zahlreichen Öffentlichen Bibliotheken (und anderen) fanden sich von der gleichen Situation betroffen und hatten dennoch ständig Entscheidungen zu treffen: Die, die aufgefordert waren, trotz Pandemie zur Arbeit zu erscheinen und dafür beispielsweise mit dem ÖPNV quer durch Städte fahren mussten – sollten sie es tun oder besser Wege suchen daheim zu bleiben? Was war wichtiger: Die eigene Angst, Vorsicht, der Wunsch, solidarisch zu handeln – oder die Einschätzung, dass die Arbeit in der Bibliothek unbedingt jetzt, vor Ort und nicht in ein paar Monaten oder daheim getan werden müsste? Personal und Bibliotheken mussten auch entscheiden, was wichtiger war: Der klar geäußerte Wunsch von medizinischen Expert*innen und Regierungen, alle unnötigen Reisen und Kontakte zu vermeiden – oder der Wunsch von Bibliotheken, als relevant zu gelten und weiter Angebote zu unterbreiten? Der Wunsch von Nutzer*innen, Medien geschickt zu bekommen oder der Wunsch von Post- und Paketlieferunternehmen, möglichst nicht noch mehr Pakete in die schon überlasteten Systeme zu geben? Auch Kolleg*innen, die daheim blieben, mussten entscheiden, wie sie mit der Situation umgehen: Sollten sie Angst haben? Hoffen? Die Situation vor allem realistisch sehen? Aber was ist, was war realistisch? Sich Innerhalb der vier Wände, die plötzlich zum Hauptaufenthaltsort wurden, Kontemplation suchen – oder an ihnen verzweifeln? Den Tagen Struktur geben oder sich treiben lassen? Doch noch hinausgehen, zum Spazieren, oder vollständig daheim bleiben? Und das alles nicht als Gedankenexperiment, sondern in Echtzeit.
Was war und ist wichtig? Was muss getan werden und was nicht? Uns allen stell(t)en sich während der Pandemie diese oder doch ähnliche Fragen. Wir haben sie unterschiedlich beantwortet und werden nach der Pandemie Zeit haben, uns klar zu werden, ob es gute Entscheidungen waren oder weniger gute. Ob wir alleine so entschieden haben oder ob die meisten unsere Entscheidungen teilten.
Interessanterweise kamen auch viele Texte dieser Ausgabe auf solche Fragen zurück, wenn auch in einem ganz anderen Kontext, nämlich der Frage des Bezugs von Forschung und Praxis Öffentlicher Bibliotheken: Was ist wichtig und was nicht? Wann? Schon beim Call war uns klar, dass sehr verschiedene Akteur*innen sehr unterschiedliche Antworten darauf haben. Das zeigte sich dann tatsächlich in den Texten. Während viele allgemein dafür plädieren, dass es einen Platz für Forschung geben muss, wenn man gut funktionierende und sich entwickelnde Öffentliche Bibliotheken haben möchte, zeigen sich doch sehr unterschiedliche Antworten. Während ein Beitrag (Rebekka Putzke) eine Position aus einer Öffentlichen Bibliothek heraus entwickelt, problematisiert ein anderer (Mahmoud Hemila) auf der Basis der Erfahrungen bei der Forschung für eine Bachelorarbeit die Grenzen solcher Forschung in der Praxis. Einige Beiträge (Sarah Juen, Sina Menzel, Sari Herde) zeigen, dass die Praxis Öffentlicher Bibliotheken durchaus Thema wissenschaftlicher Arbeit sein kann. Abschließend thematisieren drei Beiträge aus der Wissenschaft grundsätzlich die Beziehung von Forschung und Praxis. Einmal als Aufforderung an das Öffentliche Bibliothekswesen sich zu ändern (Karsten Schuldt), einmal als Untersuchungsgegenstand selber (Ulla Wimmer) und einmal am Beispiel Brasiliens auf eine ganz andere Art, als dies im DACH-Raum normalerweise geschieht, nämlich nicht als potentielles Gegeneinander, sondern Miteinander (Elias Junior, Cardos Machado & Bezerra Cardoso).
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Mit dieser Ausgabe wird die LIBREAS. Library Ideas für uns unglaubliche 15 Jahre alt. Grundsätzlich war geplant, dies größer zu feiern. Ob und wie es noch dazu kommen wird, wird wohl vor allem durch den Lauf der Pandemie und ihren Nachwirkungen entschieden werden. So oder so wollen wir uns aber bei allen bedanken, die uns bislang begleitet haben: Ihr wart und seid großartig!
Eure / Ihre Redaktion LIBREAS. Libreas
(Berlin, Dresden, Göttingen, Lausanne, München)