> > > LIBREAS. Library Ideas # 34

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Zu disparat als Debattenbeitrag

Rezension zu: Schöpfel, Joachim ; Herb, Ulrich (edit.). Open Divide: Critical Studies on Open Access. Sacramento, CA: Library Juice Press, 2018


Zitiervorschlag
Karsten Schuldt, "Zu disparat als Debattenbeitrag. Rezension zu: Schöpfel, Joachim ; Herb, Ulrich (edit.). Open Divide: Critical Studies on Open Access. Sacramento, CA: Library Juice Press, 2018". LIBREAS. Library Ideas, 34 ().


Dass Open Access durch die Etablierung kommerzieller Formen, also vor allem die Durchsetzung von Open Access Gebühren, vulgo Article Processing Charges, bei Publikation in Zeitschriften der grossen Wissenschaftsverlage und die Übernahme dieser Gebühren durch Bibliotheken, Forschungseinrichtungen und Forschungsförderer, nicht mehr das ist, was am Anfange dieser Bewegung diskutiert wurde, ist eine weit verbreitete Einschätzung. Egal, was man als den Beginn dieser Bewegung ansieht (zumeist wird bekanntlich auf die Budapest Open Access Initiative von 2002 oder die Berlin Declaration on Open Access von 2003 verwiesen), ist dies auch einfach ersichtlich. Das Versprechen – um daran nochmal zu erinnern –, mit Open Access einen weltweiten Zugang zu wissenschaftlichem Wissen zu schaffen, damit die Wissensunterschiede zwischen dem globalen Norden und Süden aufzuheben, eine bessere und fairere gesellschaftliche Nutzung dieses Wissens zu ermöglichen und grundsätzlich zu einer besseren Welt beizutragen, scheint verschwunden zu sein. Auch diese Zeitschrift thematisierte diesen Eindruck in einem Schwerpunkt in der Ausgabe #32 (2017).

Das nun zu besprechende, dünne Buch tritt an, diese Einschätzung weiter zu vertiefen und vor allem auch Blickwinkel aus dem globalen Süden einzubeziehen. Notwendig ist dies. Das Unbehagen mit der jetzigen Situation zu thematisieren, Möglichkeiten zu schaffen, dieses Unbehagen zu diskutieren und zu analysieren, ist wohl der einzige Weg, eine Position zu entwickeln, um den grossen Wissenschaftsverlagen die Deutungshoheit im Bereich Open Access wieder zu nehmen. Dass das notwendig ist, sollte spätestens nach der Lektüre der besseren Artikel in diesem Buch verständlich sein. Insoweit ist das Buch zu begrüssen. Es bedürfte mehr solcher Publikationen.

Allerdings: Das Buch ist ein Herausgeberwerk und als solches erstaunlich divergent, sowohl was den Inhalt und die Ziele der Texte angeht als auch die Textformen und die Qualität der Texte. Die ordnende Hand des Herausgeberteams – die an sich beide inhaltlich durch vorhergehende Publikationen gut als kritische Experten im Themenfeld positioniert sind –, welche in einem solchen Werk zu erwarten wäre, fehlt. Die Texte stehen, wie in einer Zeitschrift, ohne jeden Bezug nebeneinander. Teilweise widersprechen sie sich direkt. Dies ist direkt bei den beiden, hintereinanderstehenden Texten von Florence Piron und Iryna Kuchma zu sehen. Im ersten wird die neokoloniale Ausrichtung des Open Access-Diskurses (dazu unten mehr) kritisiert, vor allem die Idee, der globale Süden müsste die Wissenschaftsentwicklung des globalen Nordens aufholen, im zweiten wird praktisch in einem Jubelartikel eine Initiative vorgestellt, die dem globalen Süden genau dieses Aufholen ermöglichen soll. Diese Divergenz zieht sich durch das ganze Buch und macht es schwierig zu lesen. Es gibt auch einige Texte, bei denen der Bezug zum Thema des Buches selber gar nicht klar ist, besonders der von Soenke Zehle, dessen Inhalt dem Rezensenten auch bei zweifachen Lesen nicht verständlich wurde, der aber mit Open Access offenbar nicht wirklich etwas zu tun hat, und der von Beatriz de los Arcos und Martin Weller, welcher gar nicht über Open Access, sondern über Open Educational Ressources spricht.

Es soll aber nicht der Eindruck entstehen, alle Texte im Band wären unwichtig oder beliebig. Sie sind einfach nicht als Gesamtheit wahrnehmbar. Im ersten von zwei Teilen finden sich vor allem Texte, die sich mit der Geschichte von Open Access beschäftigen. Hier wird auch offen diskutiert, ob sich die ursprünglichen Versprechen eigentlich halten lassen oder ob sie nicht eher schon von Beginn an als neoliberal zu bezeichnen wären. Hat Open Access nicht eher den Effekt, dass nicht die Gesellschaft – die ja, so die verbreitete Argumentation, für die Produktion wissenschaftlichen Wissens zahlt – profitiert, sondern vor allem die Wirtschaft, die so noch direkter und ohne eigene Kosten auf dieses Wissen zurückgreifen kann, während die Gesellschaft wenig mit diesem Wissen anzufangen weiss, da zur sinnvollen Nutzung von Wissen mehr gehört, als das es frei ist? Ist Open Access nicht zu einem weiteren Werkzeug geworden, um die Arbeit von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zu kontrollieren? Und sicher: Ist der Fakt, dass die grossen Wissenschaftsverlage Open Access als Geschäftsmodell integriert haben – aber was sollen Verlage als Wirtschaftsunternehmen auch sonst tun – ein starker Hinweis dafür, dass Open Access sich in eine falsche Richtung entwickelt hat? Es ist, wie gesagt, wichtig, solche Fragen zu stellen und zu diskutieren, wenn zum Beispiel Forschende oder Bibliotheken (wieder) zu proaktiven Beteiligten der Debatten werden wollen.

Der zweite Teil des Buches beschäftigt sich mit dem globalen Süden. Hierzu hatte einer der Herausgeber, Joachim Schöpfel, vor drei Jahren schon ein Buch vorgelegt (vergleiche Schöpfel 2015), allerdings werden jetzt nicht nur, wie noch 2015, die BRICS-Staaten betrachten, sondern weitere Staaten einbezogen. In diesem Teil finden sich, wie schon erwähnt, sehr disparate Texte. Gewichtig sind hier die Texte, welche explizit diskutieren, ob Open Access in seiner jetzigen, kommerziellen Form nicht zu einen neocolonial tool geworden ist und ob dies nicht auch schon in der frühen Bewegung angelegt war. Wenn Open Access heute vor allem daran gebunden wird, ob Universitäten oder Staaten die allfälligen Open Access Gebühren zahlen (können) oder nicht, ist es dann nicht so, dass die eh schon vorhandenen Unterschiede in der Dissemination von Wissen verstärkt werden? Also: Ist es dann nicht nur so, dass Forschende aus dem globalen Süden ihre Forschungsergebnisse nicht nur nicht mehr sichtbar veröffentlichen können, sondern dass zudem das Wissen, welches sie selber wahrnehmen, das aus dem globalen Norden ist? Werden dann nicht Forschungsinteressen und -perspektiven aus dem globalen Norden als das gesamte mögliche Wissen präsentiert, noch mehr als jetzt schon? Und: Ist dies erst ein Ergebnis der Kommerzialisierung von Open Access oder war dies schon angelegt in der Vorstellung, eine Lösung für die Ungleichheit in der Welt wäre, wenn das Wissen des globalen Nordens auch dem globalen Süden zugänglich gemacht würde? Waren die eher technischen Debatten – wie das Wissen zugänglich machen, welche Technik nutzen – der frühen Open Access-Bewegung, in denen kaum über eine systematische Änderung der Wissensproduktion selber nachgedacht wurde, nicht schon ein Problem? Wurde hier nicht auch schon vertreten, dass der Rest der Welt den Forschungstraditionen des globalen Nordens folgen sollte, ohne dass sich dieser selbst verändern müssten? Einige der Texte im zweiten Teil des Buches diskutieren, wie angesichts der Realität in verschiedenen Staaten und schon vorhandener Versuche von Open Access im globalen Süden, dieses grundsätzlich an den Überzeugungen zu Open Access ansetzenden Probleme anzugehen seien. Zu erwähnen sind der Text von Florence Piron, welche auch fordert, über andere Modelle von Wissenschaft nachzudenken, und das Interview mit Leslie Chan, einem der Gründer von Bioline, welche die Publikation von Wissen aus der Biologie aus dem globalen Süden ermöglicht. Chan, der aus der Perspektive eines kanadischen Forschenden, welcher Wissen aus dem globalen Süden nutzt, spricht, erwähnt aber auch – und das ist ein wichtiges Ende dieses Buches, welches zeigt, wie die Situation gerade tatsächlich ist – das Beispiel von Zeitschriften aus Indien, die über Bioline so gewichtig wurden, dass sie von einem der grossen Wissenschaftsverlage aufgekauft, in dessen System integriert und dem ursprünglichen Redakteur, der jetzt verschwunden ist, entrissen wurden. Neokolonialismus in seiner am einfachsten zu fassenden Form.

Das Buch ist zu empfehlen als Teil einer notwendigen Debatte, solange das Ziel dieser Debatte ist, Open Access sinnvoll zu entwickeln, also nicht nur den grossen Verlagen abspenstig zu machen, sondern auch über die impliziten Annahmen im Diskurs um Open Access nachzudenken und diese zu verändern (was auch heisst, über die Ungerechtigkeiten der heutigen Form von Wissensproduktion nachzudenken). Aber nur Teile des Buches tragen tatsächlich zu dieser Debatte bei. Andere lenken davon ab. Dies sollte beim Lesen beachtet werden. Es ist aber zu hoffen – insbesondere, wenn immer noch das Ziel gilt, dass die Welt durch Wissenschaft und Wissenschaftskommunikation besser werden soll – dass die Debatte selbst weitergeführt wird.

Literatur

Schöpfel, Joachim (edit). Learning from the BRICS: Open Access to Scientific Information in Emerging Countries. Sacramento, CA: Litwin, 2015


Karsten Schuldt (Chur / Berlin) ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Schweizerischen Institut für Informationswissenschaft, HTW Chur und Redaktor der LIBREAS. Library Ideas.