Hinführung1
Ohne einen breiten und zuverlässigen Zugang zu Fachpublikationen ist wissenschaftliches Arbeiten nicht möglich. Als Folge von Marktkonzentrationen liegt das wissenschaftliche Publikationswesen vor allem im Bereich der Zeitschriften derzeit in den Händen einiger weniger internationaler Konzernverlage. Diese vertreiben ihre Inhalte für sie selbst hoch profitabel an wissenschaftliche Einrichtungen, vor allem an Bibliotheken. Da wissenschaftliche Veröffentlichungen im Forschungsprozess nicht substituiert werden können, gelingt es einigen, besonders wichtigen Verlagen, sehr ambitionierte und zudem stetig steigende Preise für ihre Produkte zu verlangen.
Die Erwerbungsetats von Bibliotheken und Forschungseinrichtungen können mit diesen Preissteigerungen schon seit vielen Jahren nicht mehr mithalten. Die Folge dieser Entwicklung ist auf der einen Seite, dass sich viele Forschungseinrichtungen notwendige Fachliteratur nicht mehr in der erforderlichen Breite leisten können oder dass der Erwerb der Produkte der Konzernverlage zu Lasten von Büchern und anderen Publikationen kleiner und mittlerer Wissenschaftsverlage geht. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von der so genannten Zeitschriftenkrise.2
Dem bezahlten Zugang bei den Konzernverlagen stellt die Open-Access-Bewegung als Reaktion auf die Zeitschriftenkrise die Idee frei zugänglicher wissenschaftlicher Inhalte gegenüber. Sie hat in den letzten Jahren beachtliche Erfolge erzielt und ist dabei, insbesondere in den Natur- und Technikwissenschaften, zu einem führenden Publikationsparadigma zu werden. Dessen ungeachtet spielen kostenpflichtige Publikationen in Konzernverlagen immer noch eine große Rolle, nicht zuletzt deshalb, weil sie im Wissenschaftsmanagement für die Messung wissenschaftlicher Reputation von hoher Bedeutung sind.
Die Zeitschriftenkrise erschwert zwar den Zugang zu wissenschaftlichen Publikationen, macht ihn aber nicht unmöglich. So können Bibliotheken vor Ort nicht verfügbare Inhalte durch ihre Lieferdienste wie Fernleihe oder Dokumentdirektlieferung relativ schnell besorgen. Über persönliche Kontakte unter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern haben sich zudem gut funktionierende Netzwerke etabliert, über die nahezu jede Veröffentlichung erreichbar ist. Beide Wege sind legal, denn § 53a UrhG gestattet jedenfalls in Papierform die Dokumentlieferung durch Bibliotheken, und die zwischen einzelnen Personen übermittelte Kopie ist eine nach § 53 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 UrhG zulässige Vervielfältigung zum eigenen wissenschaftlichen Gebrauch, die auch ein anderer als der Begünstigte herstellen darf.
Bibliotheken und persönliche Kontakte als Alternativen zu einem direkt beim Verlag lizenzierten Zugang haben freilich den Nachteil der Umständlichkeit und der zeitlichen Verzögerung. Auf dieses Problem reagieren so genannte Schattenbibliotheken
, die über das Internet eine große Zahl von Veröffentlichungen an einer Stelle für den sofortigen Zugriff verfügbar machen. Die derzeit bekannteste und wohl auch größte Bibliothek
dieser Art ist Sci-Hub aus Kasachstan mit rund 58 Millionen Wissenschaftspublikationen.3
Die Nutzung von Sci-Hub ist denkbar einfach und funktioniert nach dem von Google bekannten Ein-Schlitz-Prinzip
:
Man braucht nur die DOI einer gewünschten Publikation einzugeben und hat nach zwei Klicks sofort den Volltext auf dem Bildschirm. Gerade diese Einfachheit hat dazu geführt, dass Sci-Hub auch von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern genutzt wird, die einen legalen Zugang über Verlagsangebote an ihren Institutionen haben.4
Es steht außer Frage, dass das Angebot von Sci-Hub eine massive Urheberrechtsverletzung darstellt und rechtswidrig ist. Doch gilt dies auch für die Nutzung dieser Schattenbibliothek?
Vervielfältigung zum eigenen wissenschaftlichen Gebrauch?
Die übliche Art, Publikationen über Sci-Hub zu beziehen, besteht darin, einen Aufsatz mit Hilfe seiner DOI, die meist leicht auf Verlagswebseiten oder in Literaturdatenbanken zu finden ist, aufzurufen und den so erhaltenen Text entweder abzuspeichern oder für die intensive Lektüre auszudrucken. Die in beiden Fällen erzeugte Vervielfältigung greift in das Recht des Urhebers aus § 16 UrhG bzw. in dem Verlag meist umfassend und ausschließlich eingeräumte Nutzungsrechte ein. Sie ist mangels einer vertraglich mit dem Rechteinhaber vereinbarten Nutzung nur dann zulässig, wenn eine Schrankenbestimmung eingreift. In Betracht kommt hier insbesondere die Vervielfältigung zum eigenen wissenschaftlichen Gebrauch nach § 53 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 UrhG.
Auf den ersten Blick scheinen die Voraussetzungen unproblematisch gegeben zu sein. Die offensichtliche Rechtswidrigkeit der Vorlage schließt nach § 53 Abs. 1 S. 1 UrhG lediglich eine Privatkopie aus. Da dieses Erfordernis gerade nicht für die anderen Anwendungsfälle von § 53 UrhG, also auch nicht bei Vervielfältigungen für den eigenen wissenschaftlichen Gebrauch, gilt,5 könnte man im Gegenschluss folgern, dass es auf die Legalität der Quelle in diesem Fall eben nicht ankommt und daher Vervielfältigungen, die über Sci-Hub ermöglicht werden, rechtlich nicht zu beanstanden sind.
Doch so einfach ist die Sache nicht. Als im Zuge des so genannten Zweiten Korbes
§ 53 Abs. 1 UrhG im Jahr 2007 um das Erfordernis einer nicht offensichtlich rechtswidrigen Quelle ergänzt worden ist, wollte der Gesetzgeber dies nicht als Einschränkung einer vorher nahezu schrankenlosen Privatkopierfreiheit, sondern lediglich als Klarstellung eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes verstanden wissen.6
Es liegt daher nahe, auch bei Vervielfältigungen für den eigenen wissenschaftlichen Gebrauch die Verwendung einer rechtmäßig zugänglich gemachten Vorlage zu fordern. Als Anknüpfungspunkt im Wortlaut der Schrankenbestimmung könnte dabei das Merkmal der Gebotenheit
dienen. Dieser unbestimmte Rechtsbegriff unterliegt der Auslegung. Ein wichtiger Auslegungsmaßstab ist dabei die Richtlinie 2001/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2001 zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte in der Informationsgesellschaft (InfoSoc.-Richtlinie).7 In seinem Urteil über die Verleihbarkeit von E-Books durch Bibliotheken hat der EuGH jüngst den allgemeinen Grundsatz angeführt, dass eine Vervielfältigung oder sonstige auf einer urheberrechtlichen Ausnahmebestimmung gestützte Nutzung auf Grundlage einer unrechtmäßigen Quelle dem Ziel des Urheberschutzes, wie er durch die europäischen Richtlinien gewährt wird, zuwiderlaufe und daher nicht erlaubt werden könne.8
Von daher wird man auch eine Vervielfältigung für den eigenen wissenschaftlichen Gebrauch, die über die Nutzung von Sci-Hub ermöglicht wird, als nicht geboten im Sinne von § 53 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 UrhG werten müssen. Sie ist damit rechtswidrig.
Rechtmäßige Nutzung?
Diese Rechtswidrigkeit bezieht sich auf eigene Ausdrucke oder dauerhafte Abspeicherungen. In beiden Fällen sind jedoch neben dem bloßen Aufruf des über Sci-Hub angebotenen Werkes noch weitere Handlungen erforderlich. Wie aber ist die Situation zu bewerten, wenn ein Werk bei Sci-Hub lediglich aufgerufen und am Bildschirm gelesen wird, ohne dass darüber hinaus dauerhafte Vervielfältigungen erstellt werden? Anders gefragt: Ist auch das bloße Lesen eines Werkes bei Sci-Hub ebenfalls unzulässig?
Einschlägig zur Beantwortung dieser Frage ist nicht § 53 UrhG, sondern § 44a Nr. 2 UrhG. Danach sind vorübergehende, rein technisch bedingte Vervielfältigungshandlungen erlaubt, um eine rechtmäßige Nutzung eines Werkes zu ermöglichen. Diese Vervielfältigungen dürfen zudem keinen eigenen wirtschaftlichen Wert haben.
Die zunächst entscheidende Frage ist, ob das bloße Lesen am Bildschirm eines über Sci-Hub bezogenen Werkes eine rechtmäßige Nutzung
im Sinne des Gesetzes ist. Spontan würde man sagen, dass die Nutzung einer illegalen Schattenbibliothek wohl kaum rechtmäßig genannt werden könne.9 Doch darauf kommt es in diesem Fall nicht an. Entscheidend bei § 44a UrhG ist nämlich allein die Perspektive des Nutzenden und das, was er oder sie in einer konkreten Nutzungssituation tut.
Bewertet werden muss daher allein der Vorgang des Lesens am Bildschirm. Nach ganz herrschender Meinung in der Urheberrechtswissenschaft ist die bloße Wahrnehmung eines urheberrechtlich geschützten Werkes, der rein rezeptive Werkgenuss also, von den urheberrechtlichen Ausschließlichkeitsrechten gar nicht erfasst und damit eine per se rechtmäßige Nutzung.10
In der Literatur wird diese Ansicht, die vor allem im Zusammenhang mit dem Streaming von illegal ins Netz gestellten Kinofilmen oder Pornographie diskutiert worden ist, von gewichtigen Stimmen geteilt.11 Selbst das BMJV ist der Ansicht, dass der bloße Werkgenuss im Internet urheberrechtlich unbedenklich ist.12 Da zudem die Vervielfältigung des über Sci-Hub zugänglichen Werkes auf dem Bildschirm spätestens mit dem Schließen des Browsers bzw. des Herunterfahrens des Rechners gelöscht wird, ist sie auch hinreichend flüchtig.13 Schließlich kann die Vervielfältigung als solche wirtschaftlich nicht verwertet werden, da sie nicht weitergegeben werden kann und überdies nicht vollständig ist, weil ja immer nur ein Ausschnitt des Werkes am Bildschirm zu sehen ist. Damit wäre das bloße Lesen von Aufsätzen aus einer Schattenbibliothek offenbar legal!14
An dieser Stelle freilich könnte man das oben genannte Argument des EuGH anführen, wonach es nicht sein könne, unrechtmäßige Quellen zum Ausgangspunkt für weitere, dann aber legale Nutzungen zu machen. Dieses Argument ist jedoch eher schwach.
Zum einen geht es beim bloßen Werkgenuss gerade nicht um Nutzungen im Sinne des Urheberrechts. So wie niemand auf die Idee kommt, das Lesen von Raubdrucken oder das Anhören illegal gebrannter CDs zu verbieten, so wird man auch das Lesen von Raubkopien am Bildschirm nicht anders zu beurteilen haben.15
Zum anderen gibt es auch einen entscheidenden Unterschied zu einer dauerhaft angefertigten Kopie. Wer sich mit Hilfe einer Schattenbibliothek selbst gleichsam eine eigene Schattenbibliothek aufbaut, ist in der Lage, die abgespeicherten Inhalte anderen zur Verfügung zu stellen und damit selbst Teil eines illegalen Netzwerkes zu werden. Diese Möglichkeit besteht beim bloßen Lesen nicht. Um einen Aufsatz erneut zu konsultieren, muss er jedes Mal neu in der Schattenbibliothek aufgerufen werden. Wird die Schattenbibliothek abgeschaltet, ist auch die Lesemöglichkeit nicht mehr gegeben. Hier wird deutlich, dass die Anfertigung eigener Kopien gegenüber dem bloßen Lesen eine ganz andere Qualität hat.16 Rechteinhaber können den Schaden, den ihnen eine Schattenbibliothek zufügt, mit Blick auf die Raubleser
sofort unterbinden, wenn es ihnen gelingt, die Schattenbibliothek abzuschalten. Kopien jedoch, die Nutzer der Schattenbibliothek angefertigt haben, können die Rechteinhaber praktisch nicht mehr kontrollieren. Wenn ein hohes Schutzniveau im Bereich des Urheberrechts das Ziel ist, muss die Rechtsordnung diesen Kontrollverlust, der beim bloßen Lesen nicht eintritt, verhindern.
Weiterführende Überlegungen
Die offenbar nicht eindeutig rechtswidrige Nutzung einer eindeutig rechtswidrigen Schattenbibliothek wirft einige Fragen auf. Zunächst wäre zu überlegen, ob eine Auslegung von § 44a UrhG, wie hier vorgeschlagen, in einem möglichen Rechtsstreit vor Gericht Bestand hätte. Prognosen sind hier natürlich schwierig, einige Grundlinien möglicher Argumentationen lassen sich gleichwohl aufzeigen. Denkbar ist zunächst, beim Merkmal der rechtmäßigen Nutzung
anzusetzen und die Nutzung einer Schattenbibliothek auch im bloßen Lesezugriff als rechtswidrig zu bewerten.17 Allerdings müsste dann die sinnvolle Doktrin vom urheberrechtsfreien Werkgenuss relativiert werden.18
Interessanter ist es daher, das Merkmal der eigenen wirtschaftlichen Bedeutung
näher zu betrachten.19 Bislang wird hier meist auf die Vervielfältigungshandlung bzw. die dabei erzeugten Kopien abgestellt und nach deren unmittelbarer wirtschaftlicher Bedeutung gefragt. Eine solche Bedeutung setzt aber in der Regel die Möglichkeit voraus, dass die erzeugten Kopien irgendwie weitergegeben werden können.
Hier freilich stellt sich das Problem, dass eine Weitergabe von flüchtigen oder begleitenden Kopien schon vom Begriff schwer möglich ist. Soll also das Merkmal der eigenen wirtschaftlichen Bedeutung
einen substanziellen Anwendungsbereich haben, so könnte man überlegen, die wirtschaftliche Bedeutung der fraglichen Vervielfältigungen umfassender zu bestimmen. Hierfür spricht, dass § 44a UrhG ja nicht vom Wert
der Vervielfältigung spricht, was den Blick auf die Kopie selbst verengt, sondern von der Bedeutung
, womit auch ökonomische Umstände und Konsequenzen der erzeugten Kopie gemeint sein können. Eine wirtschaftliche Bedeutung
dieser Art kommt einer flüchtigen Lesekopie in mehrfacher Hinsicht zu.
Zunächst kann man darauf abstellen, dass der Betrachter eines illegal zugänglich gemachten Aufsatzes sich den eigenen Erwerb erspart. Dieses Argument ist bei wissenschaftlichen Fachaufsätzen wenig sinnvoll. Das liegt daran, dass diese Aufsätze in aller Regel nicht von den Leserinnen und Lesern erworben,20 sondern über einen durch Bibliotheken und Forschungseinrichtungen bereitgestellten und für die Nutzerinnen und Nutzer selbst kostenfreien Zugang genutzt werden. Steht ein solcher Zugang nicht zur Verfügung, kann der gewünschte Beitrag gegen eine sehr geringe Gebühr über die Fernleihe bezogen werden. Die Nutzung einer Schattenbibliothek erspart hier offenbar kein Geld. Oder doch?
Tatsächlich ist auch ein bloß lesender Zugriff Gegenstand eigener, auf individuelle Endnutzerinnen und Endnutzer zugeschnittener kommerzieller Angebote. Ein Beispiel hierfür ist der Dienst DeepDyve
(https://www.deepdyve.com). Dort kann gegen Zahlung von 40 $ im Monat auf über 10.000 wissenschaftliche Zeitschriften lesend zugegriffen werden. Genau diese Kosten ersparen sich Nutzerinnen und Nutzer von Sci-Hub, wenn sie Inhalte, die sie über Angebote wie DeepDyve zu angemessenen Bedingungen legal nutzen können, nicht dort, sondern über eine Schattenbibliothek beziehen. Insoweit kann man mit guten Gründen argumentieren, dass auch flüchtige Kopien für das bloße Lesen am Bildschirm eine wirtschaftliche Bedeutung haben, jedenfalls dann, wenn eben dieses Lesen gegen ein Entgelt zu angemessene Bedingungen angeboten wird, wenn es also ein entsprechendes Geschäftsmodell gibt, das durch die Nutzung illegaler Quellen unmittelbar beeinträchtigt wird.21
Schließlich kann noch überlegt werden, welche Auswirkung die Nutzung von Schattenbibliotheken wie Sci-Hub auf die weitere Verwertung von wissenschaftlichen Publikationen hat. Dabei geht es weniger um den unmittelbaren Vertrieb von Inhalten, sondern mehr darum, dass im Sinne von Big Data die Nutzung digital verfügbarer Publikationen eine immer wichtiger werdende Quelle für wissenschaftsunterstützende Dienstleistungen wie die Messung von Reputation und dergleichen wird. Nutzungsdaten sind aber nur dann aussagekräftig, wenn sie die tatsächliche Nutzung auch weitgehend vollständig erfassen. Vor diesem Hintergrund stellen Schattenbibliotheken ein ernstes Problem für alle Art bibliometrischer Erfassung von Nutzungsvorgängen und darauf aufbauender Verwertung in anderen Informationsprodukten dar.22
Auch wenn diese Auswirkungen wohl zu abstrakt sind, um sie im Merkmal der eigenen wirtschaftlichen Bedeutung
im Rahmen von § 44a UrhG zu berücksichtigen, so sind sie doch für die informationsfachliche Einordnung der Nutzung von Schattenbibliotheken nicht unwichtig. Die klammheimliche Freude, dass durch das Angebot von Schattenbibliotheken wie Sci-Hub nun den wenig geliebten Konzernverlagen eins ausgewischt wird,23 könnte so auch für Freunde des offenen Zugangs getrübt werden, soweit sie sich für bessere Reputationsmessungen als den hierfür im Grunde vollkommen ungeeigneten Impact-Faktor interessieren, denn Schattenbibliotheken werden ihre Nutzerdaten sicher nicht dauerhaft und zuverlässig zur Verfügung stellen.24
Da hier zudem ein mögliches neues Geschäftsfeld gerade für große Konzernverlage liegt, werden auch diese die Herausforderungen, die eine Schattenbibliothek wie Sci-Hub nicht nur beim Zugang, sondern vor allem beim Nutzungskomfort bietet, sehr ernst nehmen müssen. Diese Verlage laufen sonst Gefahr, durch überzogene Renditeerwartungen bei dem von ihnen vertriebenen Content, die zu Zugangsengpässen bei Bibliotheken und damit zu einem Ausweichen auf Schattenbibliotheken führen, die für sie wirtschaftlich hochinteressante Entwicklung neuer Analyseinstrumente für die wissenschaftliche Reputationsmessung selbst zu hintertreiben.
Als Ergebnis kann an dieser Stelle festgehalten werden, dass mit Blick auf die Existenz legaler kommerzieller Angebote für die bloße Lektüre wissenschaftlicher Beiträge im Internet auch das Lesen von Inhalten über Sci-Hub von wirtschaftlicher Bedeutung ist, so dass eine Berufung auf § 44a Nr. 2 UrhG für diese Inhalte ausscheidet, wenn man das Merkmal der eigenen wirtschaftlichen Bedeutung
auch auf ersparte eigene Aufwendungen bzw. die Existenz eigenständiger Verwertungswege für die bei Sci-Hub gewählte Nutzungsform erstrecken möchte.
Fazit
Im Licht des Urheberrechts ist und bleibt Sci-Hub für den Nutzer eine Schattenbibliothek. Ausdrucke und Abspeicherungen von über Sci-Hub zugänglich gemachten Werken sind nicht zulässig. Selbst das bloße Lesen findet in einer rechtlichen Grauzone statt. Auch wenn die Nutzung von Sci-Hub daher nicht unbedenklich ist, wird in der Praxis vielleicht weniger das nicht restlos klare Recht, sondern am Ende das eigene Gewissen darüber entscheiden, ob man den Verlockungen von 58 Millionen frei zugänglichen Wissenschaftspublikationen nachgeben will oder nicht. Rechtliche Gründe sprechen wohl dafür, das besser nicht zu tun.
Informationsethischer Nachtrag
Die informationsethische Frage, die Schattenbibliotheken mit wissenschaftlichen Inhalten aufwerfen, ist nur vordergründig einfach zu lösen. Einerseits gilt hier die Besonderheit, dass wissenschaftliche Autorinnen und Autoren in aller Regel nicht vergütet werden und ihnen daher, im Gegensatz etwa zu Künstlerinnen und Künstlern bei der Musik- und Filmpiraterie, kein persönlicher Schaden zugefügt wird.
Andererseits bedingt ein professionelles wissenschaftliches Publikationswesen hohe Kosten, so dass die Verlage als wesentliche Akteure in diesem System um dessen Funktionsfähigkeit willen auf Einnahmen angewiesen sind.
Letztlich ist alles eine Frage der Balance. Schattenbibliotheken reagieren hier auf offenbar unausgewogene Entwicklungen der letzten Jahre mit dem Risiko freilich, neben den schwarzen Schafen unter den Verlagen auch dem für die Wissenschaft unverzichtbaren Publikations- und Reputationssystem als solchem einen irreparablen Schaden zuzufügen. Daher muss die Bereitstellung einfacher und bezahlbarer legaler Zugriffsmöglichkeiten das Ziel sein. Dass populäre Schattenbibliotheken aber erst den dafür notwendigen Handlungsdruck erzeugen müssen, erschwert mit Blick auf das anzustrebende Ziel eine eindeutige informationsethische Einordnung ihrer Nutzung. 25
Dieser Beitrag stellt lediglich eine persönliche Meinungsäußerung des Verfassers dar. Das Manuskript wurde am 14. Dezember 2016 abgeschlossen.↩
Keller, Alice: Elektronische Zeitschriften im Wandel, Wiesbaden 2001, S. 78 ff.↩
Zu nennen wäre hier auch Library Genesis oder LibGen mit 52 Millionen Artikeln.↩
Eine Studie an der Universität Utrecht kommt zu dem Ergebnis, dass 75% der dort über Sci-Hub bezogenen Artikel auch legal (Lizenzen/Open Access) zugänglich waren, vgl. Kramer, Sci-Hub: access or convenience? A Utrecht case study. https://im2punt0.wordpress.com/2016/06/20/sci-hub-utrecht-case-study-part-1/ und https://im2punt0.wordpress.com/2016/06/20/sci-hub-access-or-convenience-a-utrecht-case-study-part-2/. Siehe zur Frage der Nutzergruppen von Sci-Hub auch Bohannon, John: Who‘s downloading pirated papers? Everyone. in: Science 352 (2016), S. 508-512.↩
So ausdrücklich Loewenheim, in: Schricker/Loewenheim, Urheberrecht, 4. Aufl. 2010, § 53, Rn. 21.↩
Vgl. BT-Drs. 15/1066, S. 2:
Durch Ergänzung des § 53 Abs. 1 Satz 1 – neu – UrhG wird klargestellt, dass die nach § 53 Abs. 1 – neu – UrhG privilegierten Privatkopien nur zulässig sind, wenn sie aus legalem Ausgangsmaterial gewonnen werden
; Busch, Zur urheberrechtlichen Einordnung der Nutzung von Streamingangeboten, in: GRUR 2011, 502.↩Durch Auslegung des Merkmals der Gebotenheit hat der BGH bereits bei § 52a UrhG das mit Blick auf § 53a UrhG naheliegende Gegenschlussargument bei der Frage nach dem Vorrang angemessener Verlagsangebote neutralisiert, vgl. BGH ZUM 2014, S. 530 (Meilensteine der Psychologie).↩
Vgl. EuGH C-174/15, Rn. S. 66-71.↩
So im Ergebnis Busch, Thomas: Zur urheberrechtlichen Einordnung der Nutzung von Streamingangeboten. in: GRUR 2011, S. 501-503.↩
Vgl. auch Erwägungsgrund 33 der InfoSoc.-Richtlinie:
Eine Nutzung sollte als rechtmäßig gelten, soweit sie vom Rechtsinhaber zugelassen bzw. nicht durch Gesetze beschränkt ist.
Nicht durch Gesetze beschränkt wäre eben der rezeptive Werkgenuss.↩Zum Diskussionsstand vgl. Dreier, in: Dreier/Schulze, UrhG, 5. Aufl. 2015, § 44a, Rn. 8 sowie Wiebe, in: Spindler/Schuster, Recht der elektronischen Medien, 3. Aufl. 2015, § 44a UrhG, Rn. 10 f.↩
Vgl. BT-Drs. 18/246, S. 3↩
Vgl. von Welser, in: Wandtke/Bullinger, UrhG, 4. Aufl., 2014, § 44a, Rn. 3.↩
So im Ergebnis auch Dreier, in: Dreier/Schulze, UrhG, 5. Aufl., 2015, § 53, Rn. 12b, wonach in den Fällen, in denen eine Kopie nach § 53 UrhG zulässig ist, eine Nutzung nach § 44a UrhG gleichwohl legal sein kann. Siehe auch Starcke, Andreas: Kinoticket oder Online-Stream? In: JURA 2016, S. 1290-1292.↩
So argumentieren Fangerow, Kathleen; Schulz, Daniela: Die Nutzung von Angeboten auf www.kino.to - Eine urheberrechtliche Analyse des Film-Streamings im Internet. In: GRUR 2010, S. 681. Ensthaler, Streaming und Urheberrechtsverletzung, in: NJW 2014, S. 1554 freilich wirft die Frage auf,
ob dieser freie Werkgenuss in der digitalen Welt erhalten bleiben soll.
↩So differenziert im Ergebnis auch Wiebe, in: Spindler/Schuster, Recht der elektronischen Medien, 3. Aufl. 2015, § 44a UrhG, Rn. 11, anders dagegen Marly, Jochen: Bildschirmkopien, Cache-Kopien und Streaming als urheberrechtliche Herausforderungen. In: EuZW 2014, S. 619.↩
Vgl. Busch, Zur urheberrechtlichen Einordnung der Nutzung von Streamingangeboten, in: GRUR 2011, S. 501.↩
Nach Rehbinder/Peukert, Urheberrecht, 17. Aufl., 2015, Rn. 608 soll sie bei der digitalen Werknutzung nicht mehr gelten, so auch Marly, Jochen: Bildschirmkopien, Cache-Kopien und Streaming als urheberrechtliche Herausforderungen. In: EuZW 2014, S. 618:
reine Werknutzung zugleich zustimmungspflichtige Vervielfältigung.
↩Vgl. Marly, Jochen: Bildschirmkopien, Cache-Kopien und Streaming als urheberrechtliche Herausforderungen. In: EuZW 2014, S. 619.↩
Dass einzelne Beiträge für 30 € und mehr einzeln bezogen werden können, spielt in der Praxis keine Rolle. Solche Angebote zur Phantasiepreisen werden von Leserinnen und Lesern an Hochschulen und anderen Forschungseinrichtungen nicht genutzt.↩
Vgl. LG München I, in: MMR 2007, S. 329 sowie im Ergebnis Ensthaler, Jürgen: Streaming und Urheberrechtsverletzung. In: NJW 2014, S. 1555, der § 44a UrhG immer dann verneint, wenn die in Frage stehende Nutzung einer wirtschaftlich bedeutsamen Verwertungsmöglichkeit entspricht.↩
Darauf weist etwa McNutt, Marcia: My love-hate of Sci-Hub. In: Science 352 (2016), S. 497 hin.↩
Vgl. Russel, Carrie; Sanchez, Ed: Sci-Hub unmasked – Piracy, information policy, and your library. In: College and Research Libraries News 77 (2016), S. 122.↩
Allerdings gibt es bei Sci-Hub eine bemerkenswerte Offenheit, vgl. Elbakyan, Alexandra; Bohannon, John: Data from: Who‘s downloading pirated papers? Everyone. Dryad Digital Repository. 2006. Online unter: http://dx.doi.org/10.5061/dryad.q447c.↩
Gegen die Nutzung von Sci-Hub aus ethischer Sicht sprechen sich Saleem, Faheed; Hasaali, Mohamed Azmi; ul Haq, Noman: Sci-Hub & ethical issues. In: Research in Social and Administrative Pharmacy 13 (2017), S. 253 aus. Kritisch aus Bibliothekssicht sind Russel, Carrie; Sanchez, Ed; Sci-Hub unmasked – Piracy, information policy, and your library. In: College and Research Libraries News 77 (2016), S. 125, die Open Access und bessere Dokumentlieferung als Lösung anbieten. Eine realistische Sicht auf die seit Jahren übliche Praxis des digitalen Austausches von Fachpublikationen bietet Heathers, James: Why Sci-Hub Will Win. 02.05.2016, online unter: https://medium.com/@jamesheathers/why-sci-hub-will-win-595b53aae9fa#.tscdkaz0v. Siehe auch Steinhauer, Eric W: Urheberrechtsnovelle - Das Urheberrecht in der Wissenschaft, oder
The Dirty Way Of Information
. In: H-Soz-Kult, 27.09.2007 http://www.hsozkult.de/debate/id/diskussionen-938.↩
Prof. Dr. Eric W. Steinhauer, Verwaltungsdirektor an der Fernuniversität in Hagen, Honorarprofessor an der Humboldt-Universität zu Berlin.
Prof. Dr. Eric W. Steinhauer hat Rechtswissenschaft, katholische Theologie, Philosophie, Politik- und Erziehungswissenschaft in Münster und Hagen studiert. Er promovierte zum Dr. jur. in Münster. Nach dem Bibliotheksreferedariat in Freiburg/Brsg. und München war er wissenschaftlicher Bibliothekar in Ilmenau, Magdeburg und arbeitet in dieser Position derzeit in Hagen. Seit 2014 hat er eine Honorarprofessor am Institut für Bibliotheks- und Informationswissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Bibliotheks- und Urheberrecht, digitales kulturelles Gedächtnis, Kulturwissenschaft der Bibliothek.