Smiljana Antonijević verspricht im Titel ihres Buches eine ethnographische Studie zu Forschenden in den Digital Humanities. Als Forschungsprojekt ist das ein sinnvolles Unterfangen. Die Digital Humanities werden, je nach Fall als vorhergesagter Trend oder als schon institutionalisierte Forschungsrichtung, seit einigen Jahren als Begründung für strategische Planungen von Forschungseinrichtungen und Forschungsförderinstitutionen verwendet, forschungspolitisch werden sie als Zielsetzung für die wissenschaftspolitische Steuerung genutzt, Hochschulbibliotheken scheinen sich zum Teil sehr stark an den vorgeblichen Anforderungen dieser Forschenden zu orientieren – und gleichzeitig ist nicht klar, was genau diese Forschenden tun. Dabei war Antonjjević für dieses Projekt – das ihre Promotion darstellt – gut positioniert, da sie in den Niederlanden selber in Digital Humanities-Projekten tätig war. Ihre Forschung betrieb sie dort und in den USA. Dies schränkt die Aussagekraft ihrer Studie geographisch ein; da die Digital Humanities allerdings zumeist für Forschungslandschaften im Globalen Norden konzipiert werden, scheint diese Einschränkung vertretbar. Die Studie basiert vor allem auf Beobachtungen und Interviews, die zwischen 2010 und 2013 in 23 Institutionen in Europa und den USA mit 258 Partizipierenden durchgeführt wurden. Für eine ethnographische, also stark qualitativ orientierte Forschung, ist dies beachtlich. Was die Studie einschränkt, ist der Drang der Autorin, die Digital Humanities nicht nur zu untersuchen, sondern gleichzeitig verbessern zu wollen. Dies scheint ihr den Blick auf die Widersprüche, die sie selber aufdeckt, zu verstellen.
Was das Buch nicht ist, ist eine Darstellung des gesamten ethnographischen Forschungsprozesses dieses Promotionsprojektes. Die Autorin deutet nur kurz an, wie sie bei den Interviews und Beobachtungen vorging und zitiert oft direkt aus den Interviews. Grundsätzlich aber ist das Buch eine schnell zu lesende Zusammenfassung der Forschungsergebnisse.
Das Herkommen der Digital Humanities
In einem ersten, kurzen Kapitel stellt die Autorin die Entstehung der Digital Humanties aus den Computational linguistics
dar, die – so ihre Erklärung – ab ungefähr 2005 in die Digital Humanties
transformiert wurden, verbunden mit neuen Versprechen und Vorstellungen. Diese Darstellung – die nicht unbedingt von allen in den Digital Humanities Aktiven geteilt wird (vergleiche Thompson Klein 2015, Burdick et al. 2012) – erklärt zum Beispiel den Fokus der meisten Digital Humanities-Projekte auf Text Corpora und auf Verfahren, die in der Linguistik genutzt werden können, obgleich Humanities selbstverständlich weit mehr Felder (und Medientypen, mit oder an denen geforscht wird) umfasst. Gleichzeitig ist es eine in anderen Punkten recht unkritische Darstellung, die nicht darauf eingeht, was diese Projekte in den Universitäten und Forschungseinrichtungen eigentlich tatsächlich verändern. Diese unkritische Haltung, welche zwar die Tätigkeiten der untersuchten Forschenden objektiv darstellt, aber gleichzeitig die Vorstellung von den Digital Humanities als Zukunft der Humanities nicht diskutiert, findet sich im gesamten Buch. Mehr noch: Die Autorin geht gerade in diesem, ersten Kapitel auf einige wenige Kritiken an den Digital Humanities ein – aber nur auf einige, was den Eindruck hinterlässt, dass sie auf andere Kritiken nicht antworten will – und widerspricht diesen. Insbesondere postuliert sie, dass diese Projekte nicht im Übermass Forschungsgelder für Infrastrukturprojekte binden würde, die ansonsten in anderer geisteswissenschaftlicher Forschung eingesetzt würde, sondern dass Forschungsgelder in den gesamten Humanities immer zu wenig und deshalb umkämpft sind.
Die banalen digitalen Tätigkeiten
In den Interviews orientierte sich die Autorin an einem Forschungs-Workflow (Collect, Find, Analyze, Write, Communicate, Organize, Annotate, Cite, Reflect, Archive, Share), den sie zum Beispiel den interviewten Forschenden als idealtypischen Verlauf einer Forschungsaktivität vorlegte, um mit ihnen im Interview über diesen zu diskutieren. Der Workflow, als Kreislauf konzipiert, ähnelt dem im Bibliothekswesen oft zitieren Research Data Lifecycle, ist aber nicht mit diesem identisch. Angesichts der grossen Versprechen beziehungsweise Ankündigungen, dass die Digital Humanities die Forschungsprozesse und -fragen in den Humanities radikal ändern würden (siehe zum Beispiel Burdick et al. 2012), ist das, was die Interviews und Beobachtungen konkret zeigen, erstaunlich banal. Die Forschenden recherchieren digital und setzen zum Schreiben digitale Werkzeuge ein, wobei immer wieder Google-Produkte im Vordergrund stehen. Einige Forschende annotieren PDF-Dokumente. Ansonsten werden digitale Werkzeuge nur in Ausnahmefällen benutzt. So fand die Autorin zum Beispiel keine verbreitete Praxis der Analyse von Daten mit digitalen Instrumenten. Auch Literaturverwaltungssoftware wurde kaum eingesetzt, obwohl die meisten Forschenden Einführungen für diese besucht hatten. Unterschiede bestanden zwischen Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften (Sciences), aber nur in Teilbereichen. So schreiben viele Forschende in den Humanities mit Word, während viele in den Sciences – die zum Teil als Kontrollgruppe befragt wurden – LaTeX verwenden. Aber die grossen, datengetriebenen Forschungsprojekte, von denen in der Literatur zu den Digital Humanities seit einigen Jahren als zukünftige Praxis berichtet wird (und auf die sich beispielsweise Bibliotheken ausrichten), fand die Autorin quasi nicht.
Der grosse Unterschied zur Forschungspraxis früherer Jahrzehnte scheint die bessere Recherchierbarkeit und Verfügbarkeit von Dokumenten zu sein, nicht etwa das Entstehen von neuen Paradigmen oder Forschungsfragen.
Die Frage des Teilens von Daten (Sharing) evoziert interessante Ergebnisse, da die Haltung dazu vor allem im US-amerikanischen Universitätssystem von der Position der Forschenden abzuhängen scheint. Grundsätzlich sind Forschende zum Teilen bereit und haben auch bestimmte Praxen entwickelt (allerdings oft für sich allein, nicht in Gruppen oder Institutionen). Dies gilt jedoch nicht, wenn sie auf eine akademische Karriere hinarbeiten und sich in sogenannten Tenure Tracks (also befristeten Stellen, bei denen sie regelmässig evaluiert werden und diese Evaluationsergebnisse über die weitere Beschäftigung entscheiden) befinden. Auf diesen Stellen, die zum Teil auch in europäischen Universitäten eingeführt wurden (insbesondere in Form von Junior-Professuren), um die Qualität der Professorinnen und Professoren sicherzustellen, verwehren sich die Forschenden dem Teilen von Forschungsdaten. Offenbar sind sie – durch das akademische System – so sehr auf die eigenen Konkurrenzvorteile bedacht, dass sie im Gegensatz zu anderen Forschenden – die zumeist auf festen Stellen angestellt sind – ihre Forschungen verschliessen. Die Autorin bespricht dies nicht weiter, aber es erinnert sehr an die Feststellungen von Richard Münch (2011), dass der akademische Kapitalismus
die Qualität der Forschung bedroht.
Grundsätzlich stellen die in der Studie befragten Forschenden fest, dass sie sich die digitalen Fähigkeiten bis hin zum Programmieren selber beigebracht hätten. Ganz nachvollziehbar ist das nicht, da auch die Angebote von Bibliotheken und Digital Humanities Center erwähnt werden. Die Autorin verweigert zu Recht, das Feld zu glätten und stellt eher den Widerspruch dar. Vorwerfen kann man ihr, dass sie es ohne weitere Diskussion dieser Differenz tut. Allerdings verweisen die Forschenden auch darauf, dass sie sich oft von ihren Departements nicht dabei unterstützt sehen, neue Tools und Fähigkeiten zu erlernen, eine Aussage, die sich vor allem auf Arbeitszeit, die (nicht) zur Verfügung gestellt wird, bezieht und nicht etwa auf Weiterbildungsangebote. Ein ähnlicher Widerspruch ist der von Forschenden geäusserte Wunsch, dass es Tools geben sollte, die den Forschungsprozess ineinandergreifend digital gestatten, also zum Beispiel die Recherche in Datenbanken, die Analyse, das Schreiben und Teilen von Daten, in einem Tool, während sie gleichzeitig die Tools, die sie kennen, selbst dann, wenn sie unzufrieden sind, weiter verwenden, solange sie damit ihre Aufgaben erfüllen können. Gleichzeitig gab es diese Tools als Virtuelle Forschungsumgebungen
für einige Jahre in grosser Zahl, ohne das sie von vielen Forschenden genutzt wurden. Die reine Aussage, dass sie sich solche Tools wünschen würden, ist offenbar keine Aussage darüber, was sie wirklich tun. An diesem Punkt wäre es von Vorteil gewesen, wenn die Autorin vertiefend die Entscheidungsprozesse der Forschenden für oder gegen Tools untersucht hätte. (Vergleiche dazu eher Bender 2016)
Einen anderen Unterschied, den die Autorin erkennt, ist der, dass jüngere Forschende eher dazu tendieren, digitale Tools zu nutzen (aber es geht dabei weiterhin nicht vorrangig um Tools zur Analyse von Daten, sondern zum Beispiel um Google-Docs), als ältere; wobei ältere Forschende trotzdem wissenschaftlich erfolgreich sind.
Die Autorin präsentierte diese Ergebnisse, aber es fehlt zumeist eine weitere Diskussion. Bei den wenigen weitergehenden Darstellungen scheint sie dahin zu tendieren, erklären zu wollen, wie sich die Vorstellungen von den Digital Humanities dennoch umsetzen lassen. Allerdings ist nicht klar, wieso. Ihre Ergebnisse scheinen eher in eine andere Richtung zu deuten, nämlich dahin, dass die Digital Humanities in der Forschungsrealität keine wirklichen Auswirkungen haben, sondern dass sich eher da, wo es möglich ist, langsam digitale Tools durchsetzen und dass das Internet – inklusive der Digitalisierungsprojekte in Bibliotheken – eine schnellere, umfassendere Recherche und Zugänglichkeit erlaubt, als zuvor. Dies ist nicht zu missachten, aber es widerlegt die Vorstellungen von den angeblich radikal neuen Digital Humanities aus der Sicht der Personen, die davon am meisten betroffen sein sollten. Es scheint eher der digitale Wandel zu sein, den die Autorin beschreibt und der sich auch in der restlichen Gesellschaft beachten lässt, keinesfalls aber eine neue Wende in den Humanities. Wie gesagt, kommt die Autorin nicht zu diesem Schluss, sondern interpretiert eher, dass das Feld der Digital Humanities sich langsam, forschungsfeld-bezogen unterschiedlich, entwickeln würde. Dem Rezensenten scheint diese Interpretation nicht nachvollziehbar; aber es ist der Autorin anzurechnen, dass sie Ergebnisse so darstellt, dass unterschiedliche Interpretationen möglich sind.
Bibliotheken und Digital Humanities Center
Die Aktivitäten von Bibliotheken im Bezug auf die Digital Humanities gehen an den Forschenden nicht unbemerkt vorbei. Sie haben aber nicht den Einfluss, der sich in der bibliothekarischen Literatur zu den Digital Humanities erhofft wird. (Siehe zum Beispiel Hartsell-Gundy, Braunstein & Golomb 2015) Viele Forschende haben Erfahrungen mit spezifischen Veranstaltungen, die von Bibliotheken für Forschende in den Digital Humanities angeboten werden. An einer Stelle geht die Autorin darauf ein, dass eine Anzahl von Forschenden diese sehr positiv bewerten, aber ein Grossteil ihnen eher eine beschränkte Sinnhaftigkeit zuschreibt. (Antonijević 2015:76) Bibliotheken würden, so die Forschenden, in den Veranstaltungen zu sehr auf Fragen des Bestandes fokussiert sein und dann, wenn es zu Forschungsfragen kommt, keine weiterführende Informationen anbieten können. Der Austausch mit direkten Fachkolleginnen und -kollegen sei für die Praxis weit hilfreicher.
Ausführlicher zum Thema werden Bibliotheken im Kapitel zu Digital Humanities Center behandelt, von denen die Autorin im Rahmen ihrer Forschung insgesamt elf besucht hat. Viele dieser Center sind einer Bibliothek angegliedert – zum Teil auch räumlich – oder in diese integriert. Dabei stellt die Autorin fest, dass die ersten dieser Center schon in den 1980er Jahren gegründet wurden, also keine neue Entwicklung darstellen, und bis in den 1990er Jahre Bottom-Up-Initiativen darstellten, während sie seitdem vor allem Top Down von Universitätsleitungen oder im Rahmen von Forschungsförderungen gegründet werden. Antonijević beschreibt die Arbeit dieser Center als langsam aber stetig. Es scheint kaum Einrichtungen zu geben, die einen Ansturm von Forschenden erleben. Viele Einrichtungen scheinen auch keine klare Auffassung davon zu haben, was Ihre genaue Aufgabe sein soll. Sie müssten fast immer auf die Forschenden zu gehen und versuchen, diese davon zu überzeugen, dass die Center sie bei ihrer Arbeit unterstützen können. In der Interpretation der Darstellung dieser Arbeit weicht die Wahrnehmung des Rezensenten wieder massiv von der der Autorin ab. Sie beschreibt diese Arbeit positiv, macht sich teilweise Gedanken dazu, wie sie verbessert werden könnte. Für den Rezensenten scheint ersichtlich, dass die beschriebenen Digital Humanities Center keine wirklichen Aufgaben für die Forschung erfüllen, sondern vor allem aufgrund missgeleiteter Annahmen und Wünschen von Verwaltungen und Fördereinrichtungen bestehen. Es muss aber erneut positiv betont werden, dass die Autorin ihre Darstellung so gestaltet hat, dass mehrere Interpretationen möglich sind.
Bemerkenswert ist, dass sie aber selber die Anbindung an die Bibliotheken als ein mögliches Problem für die Etablierung der Center in der Forschungspraxis ansieht. Durch diese Zuordnung würden die Center von den Forschenden als Teil der Infrastruktureinrichtungen und nicht der Forschungspraxis angesehen werden. (Vergleiche für eine andere Darstellung und Interpretation der nicht wirklich funktionierenden Integration solcher Top-Down etablierten Center in den Forschungsbetrieb Thompson Klein 2015)
Fazit
Der Titel der Studie und auch die Einleitung lassen eine tiefergehende Darstellung der Praxis der Digital Humanities erwarten, als sie letztlich geliefert werden. Dennoch ist die Darstellung erfrischend offen und transparent. Die Autorin deutet ihre Ergebnisse selber sehr in eine Richtung – als Möglichkeit der Digital Humanities und gerade der Digital Humanities Center, besser zu werden –, die sich nicht wirklich aus den Ergebnissen herzuleiten scheint. Sichtbar wird in den Beschreibungen eher, dass es die Digital Humanities gar nicht in der Weise gibt, wie sie gerne beschrieben werden. Neue Fragestellungen, Forschungspraxen oder Paradigmen werden nicht erkennbar, sondern vielmehr Forschende, die sich, wenn sie das selber als sinnvoll ansehen, digitaler Tools bedienen. Daneben existiert ein Diskurs um Digital Humanities, der nicht wirklich von der Forschung, sondern von Fördereinrichtungen und Universitätsleitungen geführt wird, sich zwar in Digital Humanities Center manifestiert, aber kaum Einfluss auf die tatsächliche Forschungspraxis hat. Die in der Literatur oft postulierte Verstärkung der interdisziplinären Zusammenarbeit zeigt sich quasi nicht. Entgegen ihrer eigenen Interpretation scheint Antonijević viele der Vermutungen, die aus kritischen Perspektiven über die Digital Humanities angestellt werden, zu bestätigen.
Wie angedeutet, ist das Buch in einem leicht zugänglichen Englisch geschrieben und lädt vor allem ein, sich selber, über die allfälligen Beispielsammlungen und Manifeste zur Digital Humanities hinaus, ein Bild vom (geisteswissenschaftlichen) Forschungsalltag im digitalen Zeitalter zu machen, der bezogen auf die Nutzung digitaler Tools, recht banal und – vorausgesetzt, man wurde zuvor von den Versprechen und Ankündigungen mitgerissen – ernüchternd erscheint.
Literatur
Bender, Michael. Forschungsumgebungen in den Digital Humanities : Nutzerbedarf, Wissenstransfer, Textualität (Sprache und Wissen; 22). Berlin ; Boston: De Gruyter, 2016
Burdick, Anne ; Drucker, Johanna ; Lunenfeld, Peter ; Presner, Todd ; Schnapp, Jeffrey (2012). Digital_Humanities. Cambridge ; London: The MIT Press, 2012
Hartsell-Gundy, Arianne ; Braunstein, Laura ; Golomb, Liorah (edit.) (2015). Digital Humanities in the Library: Challenges and Opportunities for Subject Specialists. Chicago: American Library Association, 2015
Münch, Richard (2011). Akademischer Kapitalismus: Über die politische Ökonomie der Hochschulreform (Edition Suhrkamp, 2633). Berlin: Suhrkamp Verlag, 2011
Thompson Klein, Julie (2015). Interdisciplining digital humanities: boundary work in an emerging field (Digital Humanities). Ann Arbor: University of Michigan Press, 2015
Karsten Schuldt (Chur / Berlin). Wissenschaftlicher Mitarbeiter Schweizerisches Institut für Informationswissenschaft, HTW Chur; Lehrbeauftragter FH Potsdam, Redakteur LIBREAS. Library Ideas.