Der Methode voraus – Metatheorien
Im enzyklopädisch angelegten Sammelband verschiedener Theorien, Methoden und Praktiken der Informationsverhaltensforschung von Karen E. Fisher et al. findet sich eine recht knappe Einführung von Marcia J. Bates (2005: 10-14) zu den dreizehn gebräuchlichsten Metatheorien1 der Library and Information Science (LIS). Sie seien hier in alphabetischer Reihenfolge kurz wiedergegeben:
- bibliometric
- cognitive
- constructionist
- constructivist
- critical theory
- engineering
- ethnographic
- evolutionary
- historical
- philosophical-analytic
- socio-cognitive
- user-centered design
Auffällig ist hierbei, dass nahezu alle Metatheorien aus anderen Fächern importiert wurden und lediglich die Bibliometrie als der LIS inhärenten Metatheorie bewertet werden kann. Dies muss nun nicht gleich schlecht sein.
Es war schon immer Realität, dass kleinere Fächer kaum eigene Theoriearbeit leisten konnten und auf Impulse von anderen Disziplinen angewiesen waren. Eine weitere Rolle hinsichtlich des Zustands der Theoriebildung und Methodendiskussion im Fach LIS spielt sicher auch der Umstand, dass das Studium per se auf einen relativ fest umrissenen Berufsstand mit verhältnismäßig klaren Tätigkeitsfeldern vorbereiten soll. Es erscheint aus dieser Perspektive zeckmäßig, dass die Auseinandersetzung mit eher praxisnahen Gegenständen wie Recherchefähigkeiten, Kennzahlenverständnis, die Beherrschung der aktuellen EDV und einiger Programmiersprachen, Managementtechniken oder das Befassen mit Implementierungsfragen in der Ausbildung und im späteren Berufsleben richtigerweise im Vordergrund steht. Ist jedoch Wissen über informationswissenschaftlich relevante Theorien und Methoden nicht ebenso wichtig für die Praxis, um beispielsweise Komplexität bewältigen zu können?
Anhand des holistischen Ansatzes der Activity Theory (AT)2 soll in diesem Beitrag für mehr theoretische Substanz in Studien der Informationsverhaltensforschung argumentiert werden. An einigen Stellen wird mit einer generellen Übertragbarkeit der Argumentation für die gesamte Informationswissenschaft kokettiert. Im weiteren Verlauf wird die AT kurz vorgestellt, das derzeitige methodische Profil von Studien aus der Informationsverhaltensforschung skizziert und zwei aktuelle Untersuchungen aus der AT-Forschung besprochen. Am Ende wird der Frage nachgegangen, ob sich die Activity Theory mit dem informationswissenschaftlichen Fundus vereinen lässt.
Die Situation in der Informationsverhaltensforschung
Die Informationsverhaltensforschung verfügt über ein breites, jedoch wenig theoretisch abgesichertes Methodenwissen. Zwei Ansätze aus den Anfängen dieses Teilgebietes erleben einen ständig wiederkehrenden Hype und sind vielleicht aktueller denn je.
Zum einen handelt es sich um George Zipfs Principle of Least Effort (PLE)
(1949), das besagt, dass Menschen den Aufwand für Handlungen im Rahmen einer stetigen Kosten-Nutzen-Rechnung abwägen, was aus dieser Perspektive nachvollziehbar, auch auf den Umgang mit Informationen zutrifft. Dieser Gedanke wird in Peter Pirollis Information Foraging Theory
(1999) aufgenommen und vor allem im Hinblick auf die Informationssuche weiterentwickelt. Pirolli verknüpft Zipfs PLE mit George Millers Ansatz des Informavores
3 und behauptet Menschen nähmen die Welt vor allem durch das Suchen und Nutzen von Informationen wahr, deren Produkt die Grundlage für Entscheidungen bildet.
Menschen sind, so behauptet Miller, informationsverbrauchende Organismen und wägen – ähnlich wie Tiere bei der Nahrungssuche – die Beschaffungskosten für neue Informationen und Wissen ab und sind bereit, auf möglicherweise gewinnbringende Informationen zu verzichten, wenn der Aufwand situativ als zu groß erscheint.4 Verantwortlich sei hierfür das Information Scent Module
, worin zuvor genannte Kosten-Nutzen-Abwägungen angestellt werden ( Hobohm 2013: 113). Flankiert wird diese recht rationale Abwägung über den Informationswert von sozialen Faktoren, vergleichbar ähnlich der Pheromonspur bei Ameisen, die Pirolli mit Information Scent
beschreibt. So kann Pirollis Information Foraging
zumindest nachvollziehbar gestalten, warum Menschen in Informationssystemen häufig nicht über die ersten Treffer hinaus jagen und insbesondere in Zeiten von Social Media Informationen, die von anderen Menschen als relevant eingestuft wurden, – die Beute sozusagen – bevorzugen oder ihnen einen subjektiv höheren Wert verleihen.
Verfahren wie Googles Page Rank, Amazons Recommender System oder auch der Impact Factor scheinen sich aus diesen Beobachtungen einen Vorteil zu verschaffen. Eine hierzu naheliegende Vorhersage wäre, dass fortwährend diejenigen Informationssysteme und -umwelten bevorzugt werden, die diese scheinbar tief in uns verankerten evolutionären Verfahrensweisen bezüglich der Informationsverarbeitung bedienen. Eine weitere Beobachtung ist, die diese Theorie stützt, dass die Menschen in modernen Gesellschaften erheblich mehr Zeit damit verbringen, Informationen finden zu wollen, Daten zu konsumieren oder sich in Informationsumwelten einfach nur treiben zu lassen. Die eigentliche, lebenswichtige Nahrungssuche erfolgt in hochentwickelten Gesellschaften zunehmend nachgeordnet. Marian Dörk et al. widmen sich aus dieser Perspektive des Information Flaneur
heraus der ungerichteten Informationssuche und liefern hier wichtige Impulse für das Interface Design (Dörk et al. 2011: 1222).
Metaphorisch ausgedrückt: Wo damals auf Ziegen gestarrt wurde, starren wir heute auf Bildschirme und lassen uns solange vom bunten Treiben fesseln, bis sich genügend Erfolgsmomente eingestellt haben oder eine Steigerung nicht mehr möglich ist – wir nicht mehr das Gefühl haben, ähnlich wie poikilotherme Tiere, wärmer zu werden.5
Heute leben wir im Imaginären des Bildschirms, des Interface und der Vervielfältigung, der Kommunikation und Vernetzung. Alle unsere Maschinen sind Bildschirme, wir selber sind Bildschirme geworden und das Verhältnis der Menschen zueinander ist das von Bildschirmen geworden.(Jean Baudrilliard 1992: 263)
Sergei L. Rubinstein, bedeutender Vertreter der sowjetischen kulturhistorischen Schule, war Mitte der 1920er Jahre der Ansicht, dass (gegenständliche) Handlungen nicht nur Einfluss auf die Umwelt haben, sondern ebenso den Akteur selbst beeinflussen würden (vgl. auch Häyrynen 1999: 120; Wilson 2006: online). Über die Kybernetik fand diese Perspektive schließlich in die heutigen Neurowissenschaften Eingang, die die Ansicht vertreten, dass sich durch Handeln die Struktur des Gehirns ständig neu organisiert. Hier kann die Brücke zur Information Foraging Theory
geschlagen werden, wenn dies als evolutionärer Prozess verstanden wird, um weiterhin effizient im Rahmen der täglichen Informationsjagd funktionieren zu können. Dieser Prozess hat, so die These, ausdrücklich keine langfristigen negativen Effeke auf das Gehirn zu Folge, wie zum Beispiel von Manfred Spitzer behauptet. Spitzer legt es unverständlicherweise negativ aus, dass Instrumente, die uns den Prozess der Externalisierung6 erleichtern, immer Einfluss auf unser Sein haben. Die Entstehungs- und Nutzungsgeschichte des Menschen und seinen Instrumenten, angefangen über den Faustkeil bis hin zum Hipsteraccessoire der Uhr mit integriertem Taschenrechner oder dem Smartphone, wo Subjekt, Instrument und Objekt oft miteinander verschmelzen zu scheinen, bestätigen diese Annahme jedoch nicht.
Die AT7 reiht sich im Kanon dieser Behauptungen ein, wenn sie unterstellt, Techniken und Maschinen würden nicht nur vom Menschen geschaffen sein, sondern auch der Mensch selbst wird von seinen geschaffenen Objekten bestimmt (vgl. Kaptelinin und Nardi 2012). Dadurch erweitert sich der Kontext menschlichen Informationsverhaltens enorm, da hier die Entwicklungs- und Nutzungsgeschichte von Artefakten Berücksichtigung findet. Die vom Menschen geschaffenen Gegenstände würden schließlich die Erfahrungen von Akteuren reflektieren, die vor ähnlichen Problemen standen, so ein gängiger tätigkeitstheoretischer Ansatz.
Ein Blick in die letzten Untersuchungen zu den Trends in der Informationsverhaltensforschung gibt einiges mehr zu erkennen. Während laut Pertti Vakkari (1993, 2008) der Anteil rein Theorie geleiteter Forschungen stetig zunahmen und um die Jahrtausendwende anteilig ihren Höhepunkt erreichte (Pettigrew 2001), kann zumindest in der von Elke Greifeneder (2014) durchgeführten aktuellen Untersuchung festgehalten werden, dass solche Verfahren einen festen Platz in der informationswissenschaftlichen Publikationskultur zur Informationsverhaltensforschung einnehmen, auch wenn solcherart Studien dennoch rückläufig sind.
Greifeneder fand zudem heraus, dass der Anteil in der Verwendung von Mischtechniken (Mixed Methods) bei 45% lag (n=155), wobei 7% der Studien mehr als zwei Methoden einsetzten und die Methodenvielfalt insgesamt zunähme. Qualitative Methoden, vor allem Interviews, überwiegen. Selbst vor dem Hintergrund bisher wenig bearbeiteter Forschungsfelder wie die Informationsnutzung mittels mobiler Endgeräte oder die Erforschung von Informationsbedürfnissen von besonderen Personengruppen, wie beispielsweise Drogenabhängige oder Personengruppen, welche Schicksalsschläge verarbeiten müssen,8 dürfte die zukünftige Methodenwahl in diesem Teilgebiet wenig verändern, da wie bereits durch diese beiden Beispiele impliziert, die Zukunft eher im Information Seeking
, als in der Gesamtbetrachtung menschlichen Informationsverhaltens liegt (vgl. auch Vakkari 2008: online). Greifeneder schätzt zudem die Chancen einer möglichen Meta-Diskussion über die Methodenwahl in der (nahen) Zukunft erwartungsgemäß als gering ein.
Abschließend und soweit sich das nach Sichtung der Literatur beurteilen lässt, unterteilen sich die Akteure der Informationsverhaltensforschung weiterhin in zwei große Lager: erstere versuchen aus einer holistischen Perspektive heraus mit klaren theoretischen Bezügen menschliches Informationsverhalten begreifbar zu machen, während die zweite große Gruppe sich oft ohne größere theoretische Bezüge in Form eines Schnappschusses Teilproblemen widmet (vgl. Fidel 2012: 148; Wilson 2006: online). Grundsätzlich, soweit ersichtlich, bedarf es jedoch ein Mehr an zusammenführenden Theorien, die dabei helfen die jeweilige Methodenwahl zu begründen.
Auf absehbare Zeit wird sich, so eine Einschätzung, daran wenig ändern. Wie Ben Kaden und Karsten Schuldt im Rahmen eines Informare!-Workshops erörterten (2012), ist in informationswissenschaftlichen Kreisen eher wenig intrinsisches Interesse an aktiver Interdisziplinarität beobachtbar, was unter anderem darin mündet, dass beispielsweise Konzepte zur Steigerung von Informationskompetenz oftmals am breiten Fundament der pädagogischen Forschung scheuklappenhaft vorbei entwickelt werden. Sylvain Cibangu stuft hierzu auch den kaum vorhandenen innerdisziplinären informationswissenschaftlichen Austausch als problematisch ein (2013: 204).
Ein Exot in Gestalt eines Dreieckes betritt den Raum: Activity Theory
Ihren Ursprung hat die AT in der kulturhistorischen Schule der Sowjetunion der 1920er und 1930er Jahre. Konzipiert wurde sie, um die Entstehung des Wissens und deren Vermittlung fundierter beschreiben zu können, wobei anfangs Kinder und Jugendliche im Fokus standen. Spätestens mit der dritten Welle der AT-Forschung, Mitte der 1980er Jahre, wurde es zur gängigen Praxis, tätigkeitstheoretische Überlegungen über eine Dreiecksstruktur9 einzuführen. In diesem Zeitraum fällt auch die Verlagerung des Schwerpunkts weg von lerntheoretischen Überlegungen hin zur Arbeits- und Koorperationsforschung (Kumbruck 2001: 151).
Zentrales Definitionselement bildet das Objekt der Tätigkeit, häufig auch mit Gegenstand der Tätigkeit oder Produkt beschrieben. Yrjo Engeström (1987) behauptet, dass jedes Tätigkeitssystem, nur ein Objekt beinhaltet, auf das alle Akteure motivational ausgerichtet sind und mit ihren Tätigkeiten folglich darauf einwirken. Selbstverständlich kann es in Organisationen oder – eine Ebene niedriger gedacht – hinsichtlich Kollaborationen verschiedene Objekte geben, die dann entsprechend in mehrere Tätigkeitssysteme aufzuteilen sind. Weiterhin besteht ein Tätigkeitssystem aus den Elementen Subjekt, Instrumente, Arbeitsteilung, Gemeinschaft und Regeln (Hackel und Klebl 2008: 3). Jene Elemente stehen untereinander im kontinuierlichen Austausch, bedingen und konstruieren einander. Seit Anfang der 2000er Jahre liegt der Fokus auf verschiedene Tätigkeitssysteme, die in Netzstrukturen analysiert werden. Behindern sich benachbarte und miteinander vernetzte Tätigkeitssysteme gilt es die Ursachen für ein solche Barriere (Widersprüche) zu identifizieren und wenn möglich die Transformation in ein gemeinsames Tätigkeitssystem zu verfolgen, um die Tätigkeit an sich weiterzuentwickeln.
Paulo Barthelmess und Kenneth M. Anderson ist es gelungen, die zuvor dargelegte tätigkeitstheoretische Perspektive überaus kompakt zusammenzufassen:
To summarize, activities are performed by subjects, motivated by a goal, transforming an object into an outcome. An object may be shared by a community of actors, that work together to reach a desired outcome. Tools, rules and division of labor mediate the relationship between subjects, community and object. Activities are carried out by actions, which in turn are realized as sets of operations." (Barthelmess und Anderson 2002: 17)
Obwohl in den letzten zehn Jahren relativ intensiv, vor allem international, bearbeitet (Wilson 2006; Widen-Wulff und Davonport 2007; Allen 2011; Roos 2012; Isah und Byström 2015), findet sich bis auf wenige Bruchstücke in den aktuellen deutschsprachigen Handbüchern wie den Grundlagen der praktischen Information und Dokumentation
(Kuhlen et al. 2013) oder dem Handbuch Methoden der Bibliotheks- und Informationswissenschaft
(Umlauf et al. 2013) nichts zur AT. Für die LIS des deutschsprachigen Raums ist sie infolgedessen nicht einmal in die Kategorie eines Randthemas einzuordnen und auch alles andere als hipster. Das Ergebnis für deutschsprachige Zeitschriften wie die Information, Wissenschaft und Praxis fällt ähnlich aus.
Über die Ursache hierfür kann bestenfalls spekuliert werden, dies wäre jedoch allemal eine ausführliche Auseinandersetzung in einem eigenen Artikel wert. Ein Problem ist sicher, dass der überwiegende Teil an Studien aus dem Bereich der Informationsverhaltensforschung einer Momentaufnahme – eines Schnappschusses – wie es Thomas Wilson (2006) oder Raya Fidel (2012: 148) formulierten, gleicht. Auf der anderen Seite bestehen keinerlei Einwände darüber, dass sich solcherart systemorientierte Ansätze, wie hier beschrieben, ungleich schwerer operationalisieren lassen und in Folge des Forschungsalltages durchaus mehr Zeit für ein solches Vorhaben aufgewendet werden müsste, wobei unklar ist, ob die Ergebnisse am Ende über Allgemeinplätze hinaus gehen könnten.
Dies führt letztlich zu der These, dass Akteure nicht nur in Bezug auf die Jagd nach neuen Informationen bereit sind auf diese zu verzichten, wenn ihnen der Aufwand als zu groß erscheint und ihre Wissensbasis zur Bewältigung alltäglicher Herausforderungen und Problemstellungen ausreicht, sondern auch auf die Wahl der Instrumente, wenn diese zur Beantwortung von Phänomenen augenscheinlich genügen. Selbst innerhalb der AT-Forschung herrschen große Unterschiede, die Operationalisierung sowie intensive Auseinandersetzung und Befolgung tätigkeitstheoretischer Überlegungen betreffend, wie Amanda Quek und Hanifa Shah (2004) nachwiesen.
Zwei tätigkeitstheoretische Studien, deren Operationalisierung als gelungen zu werten sind, sollen hier kurz wiedergegeben werden. Die erste handelt von der Informationspraxis von Molekularmedizinern und stammt von Anniki Roos (2012). Unter der Prämisse, holistische Forschung erschiene zunehmend lohnenswerter im Rahmen informationswissenschaftlicher Untersuchungen, da Informationsumwelten selbst komplexer würden und lediglich die ganzheitliche Perspektive den neuen Anforderungen gewachsen sein könnte, nutzt sie hier AT als Instrument, um zunächst die Komplexität molekularmedizinischer Forschung zu strukturieren. Anschließend kombinierte sie die tätigkeitstheoretische Perspektive mit Birger Hjørlands Domain Analysis
(1995). Diese Theorie geht davon aus, Information wäre letztlich nur im Kontext der ihr zugrundeliegenden Wissensorganisation, der Sprache, den eingesetzten Kommunikationsmitteln und Informationssystemen zu verstehen und wäre insgesamt eine Reflexion auf die gesellschaftliche Rolle der gegenständlichen Tätigkeit mitsamt deren Objekt(en) (Roos 2012: online). Sie erhoffte sich dadurch ein tiefergreifendes Verständnis in Bezug auf die Nutzung und problemlösungsorientierte Suche nach Informationen seitens der Mediziner, weshalb sie auch Befragungen durchführte.
Roos schildert die Informationsumwelt von Molekularmedizinern als datenintensiv, welche geprägt ist in wiederkehrenden, längeren Recherchen in vorzugsweise medizinischen Datenbanken wie PubMed und die Benutzung von Software beispielsweise zur Datenauswertung oder Berechnung von Modellen. Des Weiteren ist die Arbeit gekennzeichnet von einem relativ strukturierten Forschungsalltag (vgl. dazu Abb. 4, Roos 2012: online). Sie identifiziert Recherchetätigkeiten als nachrangig zu bewertende Handlungen, die nur einen kleinen Teil der eigentlichen Forschungsalltags von Molekularmedizinern einnehmen würden. Sie interpretiert dies als einen Hinweis für die recht geringe Nutzung der bibliothekarischen Angebote und deutet an, die hiesigen Information Professionals
könnten die Mediziner am ehesten durch die Entwicklung komfortabler zu nutzender Interfaces, Filterfunktionen oder enger vernetzten Schnittstellen zwischen den Informationsmitteln und weniger mit Initiativen, die auf eine persönlicheren Kontakt (embedded) mit den Forschern hinauslaufen, unterstützen.
Die zweite Studie von Judith Brown et al. (2013) legt den Fokus auf die Erfassung und Strukturierung der in einem großen Datencenter
beobachteten Tätigkeiten. Neben der Beobachtung wurde auch mit halbstrukturierten Interviews gearbeitet (n=10), die sich an der Activity Checklist
orientierten (vgl. Kaptelinin et al. 1999). Aufgabe dieser Einrichtung war das Customer-Relationship-Management. In einem zweiten Schritt wurden Widersprüche identifiziert, die die Arbeit intraorganisational behindern.
Zum einen konnte die Forschergruppe sichtbar machen, dass teils veraltete IT wie das Ticket-System, Arbeitsabläufe künstlich komplizierter gestalten würde, beispielsweise würden zu lange Schilderungen innerhalb eines einzigen Tickets die Mitarbeiter oft überfordern und das Management von mehreren bridge calls sei fehlerfrei nur schwer möglich zu realisieren. Zum anderen würden die Räumlichkeiten face-to-face Kommunikation behindern und so einen effektiveren Arbeitsablauf behindern. Neben einigen weiteren Optimierungsmöglichkeiten, machen die Autoren jedoch auf einen wichtigen Punkt hinsichtlich des Studiendesigns aufmerksam: viele der im Datencenter herrschenden Widersprüche wären in Laborsituationen oder anders konzipierten Feldstudien folglich nur sehr schwer zu reproduzieren gewesen (Brown et al. 2013: 273).
Tätigkeitstheoretische Forschung dürfe deshalb nicht allein am Desktop
geschehen (vgl. Quek und Shah 2004: 7; Wilson 2008: 139), sondern müsse zwingend den Weg in die Praxis finden.
Don’t be square! Versuch einer Argumentation für mehr Activity Theory in der Informationswissenschaft
Es ist erstaunlich wie leichtfüßig sich tätigkeitstheoretische Überlegungen mit dem informationswissenschaftlichen Fundus verknüpfen lassen, schließlich müssen sich Metatheorien laut Brian Campbell Vickery für eine Vielzahl von in der LIS bearbeiteten Gegenständen als fruchtbar erweisen (Vickery 1997: 458). Denkbar wäre neben der jetzt schon wiederkehrenden Anwendung in der Informationsverhaltensforschung der (internationalen) LIS, ebenso eine intensivere Beschäftigung im Rahmen des Qualitätsmanagements von Informationsservices oder beispielsweise der Informationskompetenzforschung. Hier könnte, neben der lerntheoretischen Perspektive der AT, durchaus auch die interdisziplinäre Bearbeitung tätigkeitstheoretischer Gegenstände helfen, allen voran in der Psychologie, der Informatik und eben der Pädagogik. Hilfreich ist hier sicher die weitestgehend interdisziplinäre Übereinstimmung über Basiselemente und -prinzipien der AT (Widen-Wulff und Davenport 2007: online) und die minimalere Kontextdimension des Tätigkeitssystems, im Vergleich zu einem abstrakten gesellschaftlichen System, was jedoch nichtsdestotrotz die Auseinandersetzung mit komplexen Organisationen und Formen der Kollaboration zulässt. So ist beispielsweise die Wikipedia nicht nur im Sinne des tätigkeitstheoretischen Vokabulars als Instrument, sondern auch als Gemeinschaft zu verstehen – eine Perspektive, die sich auch bei Clay Shirky finden lässt (2008: 136).
Des weiteren wird dafür plädiert, sich der impliziten Wissensdimension (Polanyi 1985) nicht länger über den Handlungsbegriff, sondern über die dreiteilige hierarchische Struktur der Tätigkeit zu nähern. Im Gegensatz zur viel bewusster und zielgerichteten Auslegung von Handlungen, umfasst Tätigkeit auch die nicht expliziten und nicht explizierbaren Aspekte menschlicher Tätigkeit. Die CSCW-Forschung, das Konzept der Communities of Practice (Zboralski 2007) sowie Ikujiro Nonaka und Hirotaka Takeuchi mit ihrem SECI-Modell,10 widmen sich dem impliziten Wissen hinsichtlich schwer zu erfassender kollektiver Aktivität. Die AT könnte hier ebenfalls Anwendung finden, da sie sich ebenso Fragestellungen zum schwer antizipierbaren, situierten Handeln widmet und die Mitmenschen als Teil des Kontextes begreift, auf den sich die Akteure einstellen.
Nardi (1996: 90-95) argumentiert ausdrücklich für eine abwechslungsreiche, um nicht zu sagen experimentelle Methodengestaltung, hinsichtlich tätigkeitstheoretischer Untersuchungen. Es sei hier ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die AT nicht nur als Metatheorie zu verstehen ist, sondern auch Instrumente zur Analyse mitliefert (vgl. Korpela 1997; Kaptelinin 1999).
Abschließend kann hier insgesamt nur für eine energische Auseinandersetzung mit theoretischen Bezügen appelliert werden, die sich dann hoffentlich sichtbarer in der Methodenwahl und -diskussion wiederfinden. Ausbildung sowie das spätere Berufsleben müssen hier Möglichkeiten schaffen, Theorie und Praxis enger miteinander zu verzahnen, um das Fach mit Kollektiven an Theory-illumined Practioner
(Cibangu 2013: 207) zu versorgen.
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Metatheorien beinhalten Aussagen über Theorie, geben an, welche Begriffe hinzugezogen werden sollten und wie sie miteinander in Beziehung zu setzen sind. (Bates 2005: 2)↩
Die Activity Theory kann den soziokognitiven Metatheorien zugeordnet werden.↩
Miller entwickelte hier die Theorie des Menschen als informationsverbrauchenden Organismus.↩
Hier beispielsweise die Recherche in einem Informationssystem.↩
In Anlehnung an Jakob Nielsens Metapher:
Informavores will keep clicking as long as they sense (to mix metaphors) that they’re getting warmer – the scent must keep getting stronger and stronger, or people give up.
, unter anderem nachgewiesen hier: http://www.nngroup.com/articles/information-scent/↩Externalisierung beschreibt die Neuentwicklung, beziehungsweise Transformation menschlich geschaffener Instrumente (Artefakte).↩
In deutschsprachigen Raum ist sie unter dem Begriff Tätigkeitstheorie bekannt.↩
Unter dem Titel
A Shared Space and a Space for Sharing: A Transdisciplinary Exploration of Online Trust and Empathy
versucht die britische University of Sheffield in Rahmen eines Forschungsprojektes diese Frage zu beantworten. Für weitere Informationen siehe dazu: https://www.sheffield.ac.uk/is/research/projects/sharedspace (06.05.2015)↩Häufig wird hierfür auch der Begriff
Tätigkeitssystem
verwendet.↩Die “Wissensspirale oder auch SECI-Prozess (Socialisation, Externalisation, Combination and Internalisation). Nonaka und Takeuchi gingen hier den so wichtigen Schritt Wissen nicht mehr als objektive Entität zu betrachten, sondern als einen sozialen Konstruktionsprozess. Das Werk prägte vor allem die zweite Generation des Wissensmanagements.↩
Christoph Szepanski, studierte Bibliotheksmanagement (BA) und Informationswissenschaften (MA) in Potsdam, ist seit 2012 Redaktionsmitglied der LIBREAS. Library Ideas und beschäftigt sich seit seiner Masterthesis mit der Activity Theory.