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Bewerbungen von bibliothekarischen Hilfsarbeiterinnen an der Königlichen Bibliothek / Preußischen Staatsbibliothek 1916-1943: Ein Werkstattbericht


Zitiervorschlag
Frauke Mahrt-Thomsen, "Bewerbungen von bibliothekarischen Hilfsarbeiterinnen an der Königlichen Bibliothek / Preußischen Staatsbibliothek 1916-1943: Ein Werkstattbericht. ". LIBREAS. Library Ideas, 25 ().


Auf der Suche nach Quellen und Dokumenten zur Bibliothekarinnen-Geschichte in Berlin stieß ich im Hausarchiv der Staatsbibliothek zu Berlin, zugänglich über die Handschriftenabteilung in der Potsdamer Straße, auf einen Schatz besonderer Art: Es handelt sich um Bewerbungsunterlagen von circa 370 Frauen, die sich zwischen 1916 und 1943 um eine Anstellung in der Königlichen Bibliothek/ Preußischen Staatsbibliothek beworben haben. Die Abteilung I, Personalakten, Untergruppe 20 des Hausarchivs enthält fein säuberlich nach Geschlechtern getrennt die Unterlagen zu den Hilfsarbeitern und Hilfsarbeiterinnen der Bibliothek.

In den zehn dickleibigen Aktenbänden zu den Hilfsarbeiterinnen hat die Bibliothek auch die Bewerbungsunterlagen von Frauen abgelegt, die unter anderem als Stenotypistin, Kontoristin, Fotografin hoffen, eine Anstellung in der Staatsbibliothek zu bekommen. Die Mehrzahl der Bewerbungen (circa 300) stammt aber von bibliothekarisch oder akademisch vorgebildeten Frauen, die sich um eine Stelle im mittleren Bibliotheksdienst beworben haben.

Bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges hielt sich insbesondere in wissenschaftlichen Bibliotheken die Gepflogenheit, Mitarbeiterinnen, die nach einem qualifizierten Schulabschluss (Lyzeums-, Obersekunda-, Primareife, oft auch Abitur) und einer mindestens drei- bis vierjährigen Ausbildung die Diplomprüfung für den mittleren Bibliotheksdienst an wissenschaftlichen Bibliotheken und den Dienst an Volksbibliotheken und verwandten Institutionen bestanden haben, als Hilfsarbeiterinnen zu bezeichnen. Die Anforderungen für diese Diplomprüfung wurden vom preußischen Staat erstmals durch den Erlass des Preußischen Kulturministers vom 10.8.1909 geregelt und 1916 und 1930 modifiziert. Zu den Voraussetzungen für die Prüfung gehörten die einjährigen Praktika sowohl in öffentlichen wie in wissenschaftlichen Bibliotheken und in der Regel auch der Besuch einer Bibliotheksschule und von Vorbereitungskursen in Berlin.

Obwohl die Bewerberinnen in den verschiedensten Regionen Deutschlands und nur zu einem kleinen Teil in nichtpreußischen Ländern oder im Ausland aufgewachsen waren, verband die meisten eine gemeinsame Erfahrung: die schulische und kursmäßige Vorbereitung auf die Diplomprüfung in Berlin und sehr oft auch die Absolvierung eines Praktikums an der Königlichen Bibliothek / Preußischen Staatsbibliothek oder an einer der anderen wissenschaftlichen und öffentlichen Bibliotheken Berlins.

Die Frauen, deren Unterlagen in der Acta I, 20 des Hausarchivs aufbewahrt werden, haben aufgrund ihrer damaligen Bewerbung keine Arbeitsstelle in der Staatsbibliothek bekommen, sondern überwiegend nur eine Nummer auf einer Vormerkliste, die immer länger wurde. Viele erhielten aus den verschiedensten, nachfolgend aufgelisteten Gründen, sofort einen ablehnenden Bescheid: 

  • Weil sie trotz bestandener Diplomprüfung in Fächern wie Stenographie und  Maschinenschreiben ein ‚mangelhaft‘ haben. Eine Eintragung in die Vormerkliste war erst nach erfolgreich absolvierter Nachprüfung für diese Fächer möglich.

  • Weil sie im Praktikum / bei der Diplomprüfung ungünstig beurteilt wurden.

  • Weil sie die sächsische Diplomprüfung in Leipzig und nicht die preußische in Berlin absolviert haben.

  • Weil sie vor dem Ersten Weltkrieg nicht in Berlin gewohnt haben (Antwort im August 1919) oder weil es eine Zuzugssperre nach Berlin gibt (Oktober 1934).

  • Weil sie zwar Vollakademikerinnen sind, vielleicht sogar die Laufbahnprüfung für  den höheren Bibliotheksdienst gemacht haben, aber nicht die Diplomprüfung.

  • Weil sie nicht bei der Arbeitsnachweisbehörde gemeldet sind (ab 1930).

  • Weil sie eine Frau, jedoch Männer zu bevorzugen sind (Anweisung des Ministeriums ab Frühjahr 1931).

  • Weil es auf absehbare Zeit keine freie Stellen gibt, zumindest nicht in dem  gewünschten Bereich.

  • Weil die Vormerklisten schon zu lang sind und für eine Weile ganz geschlossen werden (1936, 1939).

In einigen wenigen Fällen haben die Bewerberinnen ein Stellenangebot von der Preußischen Staatsbibliothek erhalten, dieses aber aus verschiedenen Gründen nicht angenommen, und anderem weil sie kurzfristig einen attraktiveren Arbeitsplatz fanden.

Im Jahre 1939 ist die Vormerkliste bereits bei der Nummer 201 angelangt. Nach einer Übersicht der Generaldirektion aus dem gleichen Jahr1 gibt es zu diesem Zeitpunkt 100 Frauen im mittleren Bibliotheksdienst des Hauses. Die Vormerkliste übersteigt diese Zahl um das Doppelte. Selbst wenn eine Reihe von Vormerkungen sich inzwischen erübrigt hatten, weil die betreffenden Frauen inzwischen eine Stelle fanden, entweder bei der Preußischen Staatsbibliothek oder in anderen Einrichtungen, so zeigt diese Zahl doch den großen Bedarf und den Druck, unter dem die Frauen bei der Suche nach einem einigermaßen akzeptablen Arbeitsplatz standen. Viele wollten wahrscheinlich auch trotz anderer Stelle auf der Vormerkliste der Staatsbibliothek bleiben, weil ein Arbeitsplatz dort als attraktiver galt, mit besserer sozialer Absicherung und den Aufstiegschancen in ein Beamtenverhältnis. 

Frauen und der Bibliotheksberuf in den Bewerbungsakten

Die Bewerbungsakten vermitteln insgesamt einen intensiven Eindruck von der schwierigen Situation bibliothekarisch arbeitender Frauen in der Zeit zwischen den Weltkriegen und über den fragilen Zustand der deutschen Gesellschaft nach dem traumatischen Ende des Ersten Weltkrieges.

Die Bewerbungsschreiben, Lebensläufe, Zeugnisse und Briefe von Angehörigen, Freunden und Förderern sind voller Hinweise auf die Brüche, Verwüstungen und Verunsicherungen, die der Krieg und die nachfolgenden Krisen in den meist gutbürgerlichen Herkunftsfamilien angerichtet haben. Sie zeigen auch, wie stark die Bewerberinnen, trotz neu gewonnener Bildungs- und Berufsperspektiven, von ihren Familien noch in einer auffallend geschlechterbezogenen Weise in die Pflicht genommen werden, alten Rollenbildern zu genügen und eigene Weiterentwicklungsmöglichkeiten zurückzustellen.

So durchziehen die Bewerbungsschreiben und Lebensläufe Hinweise auf den Heldentod des Vaters, Gatten oder Verlobten, den Verlust des Familienvermögens, die unversorgte Mutter, die noch in Ausbildung befindlichen Geschwister, die Krankheit und Pflegebedürftigkeit der Eltern, die Arbeitslosigkeit oder vorzeitige Pensionierung des Vaters, die Stellungslosigkeit der Geschwister. Bewerbungen enthalten oft Sätze wie: Vater hat in der Inflation sein Vermögen verloren (E. M., 1927), Ich muss meine Mutter und meine Schwester finanziell unterstützen (Ch. M., 1932) oder: Die äußerst schwierige wirtschaftliche Lage meiner Eltern erfordert, dass ich sofort jede berufliche Tätigkeit ergreife. (W. S., 1935). Sie werden zu der wichtigsten Begründung für die Bewerberinnen, warum sie unbedingt eine Stelle in der Staatsbibliothek haben möchten.

Nicht selten schreiben auch Väter, Freunde und hochgestellte Unterstützer an den Bibliotheksdirektor, um ihm unter Hinweis auf die Sorgen und Nöte der Familie die Einstellung der Kandidatin ans Herz zu legen. So schreibt ein Oberregierungsrat B. l. zu der Bewerberin R. Sch. 1931 an die Bibliothek: […] steht völlig allein und mittellosda, hat seit Jahren eine kranke Mutter unterhalten und jetzt eine erwerbslose Schwester.

Manchmal wird der Druck auf die Generaldirektion zugunsten einer bestimmten Bewerberin sehr direkt. So versucht ein Prof. R. aus dem Wissenschaftsministerium im Frühjahr 1930 die Generaldirektion per Erlass anzuweisen, die Bewerberin G. Sch. einzustellen. Generaldirektor Krüss widerspricht, willigt dann aber in einen sechswöchigen Probedienst der Bewerberin ein.

Häufig haben die Kandidatinnen mit einigen Jahren Berufserfahrung bereits schmerzhafte Einschnitte in ihrer Arbeitsbiographie wegstecken müssen, den wiederholten Verlust ihres Arbeitsplatzes durch Personalabbau und Finanzmittelkürzungen, oder durch die Verfügung, ihren Arbeitsplatz für einen Kriegsheimkehrer freizumachen. Die Stellen, die sie im Verlaufe der Zwanziger Jahre bekommen, sind häufig befristet, und in der Weltwirtschaftskrise werden auch längerfristig Beschäftigte von den Bibliotheken in größerer Zahl entlassen.

Ab 1930 wurde die Preußische Staatsbibliothek vom Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung angewiesen, bei der Besetzung von Stellen im mittleren Bibliotheksdienst Männer zu bevorzugen, weil Frauen dort bereits bei weitem in der Überzahl seien. Als ein Oberregierungsrat Schw. aus dem Wissenschaftsministerium 1930 zugunsten einer Frau v. E. interveniert und diese sich über das ihr zu Ohren gekommene Gerücht der Bevorzugung von Männern beschwert, kann die Bibliotheksleitung nur bestätigen, dass dieses stimmt, aber dass es sich um eine Weisung aus dem eigenen Ministerium handelt.

Natürlich arbeiten im mittleren Bibliotheksdienst in den Zwanziger Jahren bereits deutlich mehr Frauen als Männer. Seit Beginn des Jahrhunderts waren es die Frauen, die in Ermangelung anderer Alternativen – die akademische Ebene blieb ihnen über lange Zeit verschlossen – mit hoher Motivation, Bildungs- und Leistungsbereitschaft in den mittleren Bibliotheksdienst an wissenschaftlichen Bibliotheken und in die Volksbibliotheken strömten und beide Bereiche maßgeblich weiter entwickelten.

Wie auch in anderen qualifizierten Tätigkeitsbereichen wurde das Berufsfeld Bibliothek für sie nur im mittleren Bereich geöffnet, denn in Preußen durften Frauen erst ab 1908 studieren und sich erst ab 1921 um ein Volontariat für den höheren Bibliotheksdienst bewerben. Aber der Zugang zur leitenden Ebene wurde nur einer sehr kleinen Anzahl von Frauen eröffnet und so drängten sie in die mittlere Laufbahn. Das war vielen Bibliotheksdirektoren längere Zeit durchaus sehr willkommen, weil die weiblichen Hilfskräfte bereit waren, viele Ordnungs- und Routineaufgaben mit größtem Fleiß bei sparsamer Entlohnung zu übernehmen und so eine wirksame Entlastung für Bibliotheksbetrieb und das Bibliotheksbudget darstellten.

Nach dem Ersten Weltkrieg baut sich unter den leitenden Bibliotheksdirektoren eine schrittweise Fronde gegen die Feminisierung der mittleren Bibliotheksebene auf. So sendet Fritz Milkau, seit 1921 Nachfolger Adolf von Harnacks als Generaldirektor der Preußischen Staatsbibliothek, seinem Minister am 18.9.1923 eine Stellungnahme betr. die Verwendung von Frauen im mittleren Bibliotheksdienst.2 Er vermeint deutliche Grenzen ihrer physischen und psychischen Belastbarkeit zu sehen, weil sie nicht lange Stunden hintereinander […] stehend mit schweren Bänden hantieren könnten oder weil sie leichter die Ruhe verlieren, eine größere Anfälligkeit für Krankheiten hätten und natürlich würde es zu Unzuträglichkeiten kommen, wenn man auch nur den Versuch machen würde, weibliche Beamte zu Vorgesetzten von männlichen zu machen. Er plädiert deshalb bereits 1923 für eine stärkere Maskulinisierung des mittleren Dienstes.

Als in der großen Wirtschaftskrise immer mehr Männer arbeitslos werden, zögert man auf höherer ministerieller Ebene nicht länger, daraus 1930 ein verbindliches Dekret zu machen: Männer sind, nicht nur bei gleichen Qualifikationen, sondern grundsätzlich und überhaupt, bei Stellenbesetzungen im mittleren Bibliotheksdienst vorzuziehen.

Wenn die geschlechterdiskriminierende Anweisung hier noch in der Form einer offiziellen Anweisung vorgenommen wurde, so geschah es auf der Ebene des höheren Bibliotheksdienstes in einer wesentlich versteckteren Art und Weise. Der Zugang von Frauen zum Höheren Bibliotheksdienst wurde von Anfang an sehr restriktiv gehandhabt und phasenweise de facto unterbunden. Nach den Untersuchungen von Dagmar Jank3 erhielten zwischen 1921 und 1938 45 Frauen die Zulassung als Volontärinnen für den höheren Bibliotheksdienst, davon beendeten 37 ihre Ausbildung und arbeiteten überwiegend bis zu ihrer Pensionierung in wissenschaftlichen Bibliotheken – wenn sie nicht aufgrund des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7.4.1933 wegen ihrer jüdischen Herkunft entlassen wurden wie Clara Stier-Somlo, Helene Wieruszowski und Anneliese Modrze, die alle drei zeitweise oder bis zum Schluss bei der Preußischen Staatsbibliothek gearbeitet haben.

Einige wenige Frauen schafften also den Zugang zu der höheren Bibliothekslaufbahn, aber als in der 35. Sitzung des Preußischen Beirats für Bibliotheksangelegenheiten erneut über die Zulassung von Volontären und Volontärinnen gesprochen wurde, plädierte Hugo Andres Krüss, seit 1925 Generaldirektor der Preußischen Staatsbibliothek, dafür, größere Zurückhaltung bei der Annahme von weiblichen Bewerbern zu üben. Der Vertreter des Kultusministeriums gab dann vor, um die Führerinnen der Frauenbewegung, die schon jetzt nervös seien, nicht weiter zu provozieren, solle man stillschweigend für ein bis zwei Jahre keine Frauen zulassen. Die fünfzehn männlichen Mitglieder des Beirats erhoben keinen Widerspruch.4

In den Bewerbungsakten findet sich das Beispiel von Dr. Edith Adelheid Rothe (Jg. 1897), die 1925 promoviert und 1927 die Prüfung für den Höheren Dienst an wissenschaftlichen Bibliotheken ablegte. 1934 unterzog sie sich zusätzlich der Diplomprüfung für den mittleren Bibliotheksdienst, weil ihr offenbar deutlich gemacht wurde, dass sie nur so eine Chance hätte, überhaupt eine Stelle im Bibliothekswesen zu bekommen. Sie wird von Krüss in die Vormerkliste für die Hilfsarbeiterinnen eingetragen. Selbst diese Eintragung wird anderen Akademikerinnen, die auch die Diplomprüfung absolviert haben, aber bei der immer noch vorgeschriebenen Prüfung in Stenographie und Maschinenschreiben nur ein mangelhaft vorweisen konnten, rigoros verweigert (Bsp. Dr. Jenny Müller, Jg 1895) oder erst vorgenommen, wenn die Bescheinigung über die gelungene Nachprüfung eingereicht wird (Dr. Hildegard Lullies, Jg. 1902).

Einer anderen Bewerberin, die kurz vor der Promotion steht und sich nach der Möglichkeit einer späteren Anstellung in der Staatsbibliothek erkundigt, wird 1937 mitgeteilt, dass man jetzt oder später keine Möglichkeit sieht, sie an der Staatsbibliothek zu beschäftigen, da nur Kräfte mit bibliothekarischer Ausbildung genommen werden, und man sagt ihr in aller Deutlichkeit: Die wissenschaftliche Laufbahn bietet für Frauen zur Zeit keine Aussicht! Die wenigen, bereits im höheren Dienst befindlichen Frauen konnten bleiben (in der Preußischen Staatsbibliothek z.B. Dr. Käthe Iwand und Dr. Luise von Schwartzkoppen), aber ein Neuzugang von Frauen zum höheren Bibliotheksdienst war offensichtlich nicht mehr möglich.

Lebensläufe der Bewerberinnen

Zurück zu der Liste der Bewerberinnen für eine Stelle im mittleren Bibliotheksdienst. Bei einem Blick auf den meistens angegebenen Beruf des Vaters fällt auf, wie durchgängig die Bewerberinnen für eine mäßig bezahlte Hilfsarbeiterinnen-Stelle aus einem ausgesprochen gut- bis großbürgerlichen Milieu stammten. Die Väter sind Landgerichts- und Regierungsräte, Rechtsanwälte, Ärzte, Lehrer, Pfarrer, Professoren, Studienräte und Bibliotheksdirektoren, Fabrikbesitzer, Leutnante und Landwirte, Kartographen, Redakteure und Kaufleute, manchmal auch mittlere Beamte, Zollsekretäre, Postinspektoren, Buchbinder und Stadtgärtner. Proletarische Väter kommen nicht vor, auch kaum kleine Angestellte und Gewerbetreibende, keine Musiker, Maler oder andere Kreative, auch keine Techniker oder Ingenieure. Es ist eine sehr homogene, fast zu sehr in sich abgeschlossene Herkunftsschicht, die den beruflichen Nachwuchs aus den eigenen, am preußischen Beamtentum orientierten Kreisen rekrutiert.

Eine interessante Besonderheit sind die bibliothekarischen Herkunftsfamilien, die Fälle, in denen Töchter, Schwestern oder sonstige Verwandte von Bibliothekaren den bibliothekarischen Beruf ergriffen oder die eheliche Verbindung mit einem Bibliothekar gesucht haben. Schon in der ersten Generation der Bibliothekarinnen gibt es dafür einige markante Beispiele wie Anna Reicke (Tochter des Oberbibliothekars Prof.Dr. Reicke aus Königsberg), Anna Harnack und Martha Schwenke (Töchter des Generaldirektors Adolf von Harnack und des Ersten Direktors Dr. Paul Schwenke an der Königlichen Bibliothek).

In den Hilfsarbeiterinnen-Akten stößt man noch auf eine ganze Reihe weiterer Bewerberinnen aus Bibliothekarsfamilien:

  • Ursula Altmann, Tochter des Leiters der Musikabteilung der Königlichen Bibliothek, Prof. Dr. Wilhelm Altmann

  • Margarethe Fritz, Schwester von Dr. Gottlieb Fritz, dem Leiter der Stadtbibliothek Charlottenburg und Direktor der Berliner Stadtbibliothek

  • Roswitha Fritz, verh. Kohler, Tochter von Gottlieb Fritz

  • Charlotte Goldschmidt, geb. von Orth, Ehefrau des Bibliotheksrats an der UB Münster, Dr. Günther Goldschmidt

  • Margarethe Günther, Tochter des Direktors der Danziger Stadtbibliothek, Prof.Dr. Otto Günther

  • Hildegard Karsten, Nichte des Direktors der Lippischen Landesbibliothek, Dr. Ernst Anemüller

  • Luise Kopfermann, Tochter des Oberbibliothekars Dr.(?) Kopfermann an der Königlichen Bibliothek

  • Marie-Luise Notzke, Tochter des Oberbibliothekars Johannes Notzke, Leiter der Reichsbank-Bibliothek

  • Renate Stier, Tochter des Reichstags-Bibliothekars Dr.jur. Gerhard Stier

  • Maria Luise Trommsdorff, Tochter des Oberbibliothekars an der TH Hannover Dr. Paul Trommsdorff

  • Gertrud Wille, Tochter des stellvertretenden Direktors der UB Berlin Dr. Wille

Nach dem Besuch der Höheren Töchter- oder Mädchenschule, später des Lyzeums und Oberlyzeums und dem Besuch einer Handelsschule oder Frauenschule folgt in einer nicht geringen Anzahl von Lebensläufen der Hinweis auf den Besuch eines Hauswirtschaftskursus oder auf eine Hauswirtschaftslehre. Auch als Erwachsene verbringen viele Bewerberinnen längere Phasen im Elternhaus, um sich nach dem Tode eines Elternteils um den verbliebenen Elternteil zu kümmern, ihm Gesellschaft zu leisten und für den Haushalt zu sorgen. So führt Elise F. (Jg.1891) nach dem Tod der Mutter für volle zwölf Jahre (1909-21) den Haushalt des Vaters und lebt Ilse P. (Jg.1905) von 1922-24 im Haushalt der Eltern und beginnt erst dann mit der Berufsausbildung.

Bei den Angaben zu ihrer Schulzeit ist auffallend, wie häufig die Bewerberinnen – in Abhängigkeit vom Beruf des Vaters und den Ereignissen der Zeitgeschichte – den Wohn- und Schulort gewechselt haben. Manche wachsen zunächst in den östlichen Gebieten Preußens auf, im Warthegau / Westpreußen, Oberschlesien und Memelland. Sie müssen mit ihren Familien nach dem Ende des Ersten Weltkrieges aus diesen Gebieten fliehen, werden zur Minderheit unter der polnischen Regierung oder unter internationale Verwaltung gestellt. Andere fliehen vor den revolutionären Veränderungen in Russland oder Spanien und erreichen Deutschland zum Teil erst auf langen Umwegen. Eine Umsiedlerin kommt durch den Hitler-Stalin-Pakt (1939) aus dem Baltikum ins Deutsche Reich. Für alle diese historischen Umbrüche finden sich Beispiele in den Hilfsarbeiterinnen-Akten. So schreibt E. G. (Jg.1910) in ihrer Bewerbung, dass sie in Konitz/Westpreußen aufwuchs, bis mein Vater starb und wir vor den Polen flüchten mussten. Die Familie G. wiederum bleibt im Memelland, obwohl es 1919 nach den Bestimmungen des Versailler Vertrages unter alliierte Verwaltung gerät und 1923 von Litauen annektiert wird. Der Vater engagiert sich politisch und wird zum Führer der Memelländischen Landwirtschaftspartei, der stärksten Partei der deutschsprachigen Bevölkerung. Seine Tochter absolviert die bibliothekarische Ausbildung in Berlin und als sie kurz vor der Prüfung steht, sucht im März 1932 ein Attaché des Auswärtigen Amtes persönlich den Generaldirektor der Königlichen Bibliothek auf, um ihm den Wunsch des Führers der Memelländischen Landwirtschaftspartei nach einer Stelle für seine Tochter zu überbringen. Krüss antwortet, dass er sehr wohl verstehe, welches Interesse daran besteht, Herrn G. eine Freundlichkeit zu erweisen. Er wäre gern bereit, daran mitzuwirken, doch er hätte keine Möglichkeit dazu, sofern nicht ein Ihnen zur Verfügung stehender Fonds dazu herangezogen werden könnte.

Ich vermute, dass das Auswärtige Amt nicht bereit und in der Lage war, der Preußischen Staatsbibliothek eine Stelle zu schenken.

Zu den bibliothekarischen Ausbildungsverläufen der Bewerberinnen, zu der Art und Weise, wie sie die in Berlin jeweils verfügbaren Bibliotheksschulen und -kurse mit Praktika in allen Teilen Preußens, mit den verschiedensten Privatstudien, Arbeits- und Auslandserfahrungen kombiniert haben, um sich auf die Diplomprüfung für den mittleren Bibliotheksdienst an wissenschaftlichen Bibliotheken und den Dienst an Volksbibliotheken und verwandten Institutionen vorzubereiten und andererseits ihren vielfältigen Interessen zu folgen, wäre ein weiterer Werkstattbericht nötig.

Ein Seitenblick wäre dabei angebracht auf die nicht ganz kleine Zahl bibliothekarischer Bewerberinnen, die zwischendurch glaubten, ihr dauerhaftes Glück in der Ehe zu finden, ihren Arbeitsplatz aufgaben, Kinder bekamen und dann plötzlich von unvorhergesehenen Ereignissen betroffen werden: Der Mann stirbt oder er verliert seine Arbeit oder er lässt sich scheiden und zahlt keinen Unterhalt –  unter Umständen, weil er selber keine Gehalts- oder Pensionszahlungen mehr bekommt. Die Frau hat eventuell vor Jahren ihre Diplomprüfung bestanden, aber kaum Berufserfahrung und muss sich unter äußerst ungünstigen Umständen, vielleicht mitten in der Wirtschaftskrise, wieder einen Arbeitsplatz suchen. Solche dramatischen Lebensverläufe finden sich in nicht geringer Zahl in den Bewerbungsunterlagen oder Bittbriefen von Freunden und Förderern, die den Generaldirektor der Preußischen Staatsbibliothek erreichen.

Nationalsozialismus

Die NS-Zeit findet zunächst mit Verzögerung, dann aber deutlich ihren Niederschlag in den Bewerbungsakten. Ab 1934/35 häufen sich die NS-konformen Grußformeln und Loyalitätsbeweise in den Bewerbungsunterlagen und die Bibliothek zögert nicht, den Anforderungen der neuen Zeit Genüge zu tun. Ab August 1933 wird von den Bewerberinnen die Unterzeichnung einer vorformulierten Arier-Erklärung verlangt, ab Dezember 1933 wird dafür ein Formblatt ausgegeben. 1934 unterzeichnen sowohl eine Bewerberin wie ein Bibliotheksdirektor mit deutschem Gruß. Die Tochter eines Pfarrers rühmt sich, dass sie Mitglied der NSBO (Nationalsozialistischen Betriebsorganisation) der TH Berlin und der DAF (Deutsche Arbeitsfront) ist, ab 1935 verwenden sowohl die Bewerberinnen wie die Bibliotheksdirektoren regelmäßig die Grußformel Heil Hitler!. Die Bibliothekarin I. H. berichtet, dass ihre Mutter schon seit 1931 in der NSDAP ist und der ältere Bruder leider ohne Stellung, aber Rottenführer in der SA. Im gleichen Jahr sind es zwei Bewerberinnen mit Promotion, die in besonderer Weise ihre Loyalität bekunden. Dr. H. B. erklärt freudig, daß ich alte Parteigenossin bin, und Dr. R. W. beginnt ihre Bewerbung mit den Worten: Ich bin 27 Jahre alt und rein arischer Abstammung.

Diese Art Einstieg macht Schule in den Bewerbungsschreiben. Ab 1937 betonen immer mehr Bewerberinnen, dass sie Mitglied der Partei, des BDM, der NS-Volkswohlfahrt und -Frauenschaft sind und beteuern zunehmend auch ihre feste Verankerung in der evangelischen Kirche: Ich bin evangelischer Religion und rein arischer Abstammung,Ich bin 25 Jahre alt, evangelischer Konfession und arischer Abstammung oderIch bin arischer Abstammung, deutscher Staatsangehörigkeit und evangelisch-lutherischen Bekenntnisses.

1938 versichert die Mädelschaftsführerin I. L. R., dass meine Ahnen bis vor 1800 rein arischer Abstammung waren und im gleichen Jahr beteuert H. K. Ich bin 42 Jahre alt und politisch durchaus zuverlässig. 1941 schreibt die Bewerberin H. G. S. aus Wien: Ich werde meinen Vorgesetzten unbedingten Gehorsam leisten. Heil Hitler!

Zwar scheint sich die Stellensituation für bibliothekarisch arbeitende Frauen im Verlauf der Dreißiger Jahre etwas entspannt zu haben, da die bestehenden Einrichtungen schrittweise wieder mit besserer Finanzierung rechnen konnten und zentral und dezentral neue Einrichtungen geschaffen werden, die auch Bibliothekarinnen Arbeitsplätze bieten. So nennen die Bewerberinnen folgende Institutionen, in denen sie nach 1933 eine Arbeitsstelle fanden:

  • Reichsstelle für das Volksbüchereiwesen (Ltr. Fritz Heiligenstaedt)

  • Reichsjugendbücherei

  • Wehrkreisbüchereien, mindestens 18 (Nr.18 befand sich in Salzburg)

  • Kirchenbuchamt, 1936 neu eingerichtet für die Sippenforschung

  • Pressearchiv des Reichsproganda-Ministeriums

Nach Kriegsbeginn kommen neue Aufgaben hinzu: die Verwaltung der Bibliotheken in den besetzten Ländern oder ihre Ausplünderung und die Sichtung und Aufbereitung des Raubguts in heimischen Depots und ähnlichem. Der Überhang auf der Vormerkliste der Staatsbibliothek schmilzt offenbar rasch, nach 1939 gibt es nur noch einige wenige Bewerbungsunterlagen in den Akten.

Die letzte, zu den Akten gelegte Bewerbung stammt vom 17.3.1943 (Anmerkung der Verfasserin: Das war der Tag meiner Geburt!). Die Antwort der Preußischen Staatsbibliothek lautet, dass die Neueinstellung von Personal nicht mehr zulässig ist.


  1. Personalstand der Preußischen Staatsbibliothek, in: Acta PrSB, Generaldirektion Hugo Andres Krüss, Nr. 263 (1939-1944).

  2. Schreiben des Vorsitzenden des Beirats für Bibliotheksangelegenheiten, Fritz Milkau, an den Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, vom 18.9.1923, Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, UIK 8853, Bl.42.

  3. Dagmar Jank: Frauen im höheren Bibliotheksdienst, in: Verein Deutscher Bibliothekare 1900-2000. Festschrift. Wiesbaden 2000, S.302ff.

  4. Zitiert nach Erwin Marks: Aus dem Protokoll geplaudert. In: Laurentius (1992), s.123.


Frauke Mahrt-Thomsen, Jahrgang 1943, aufgewachsen in Schleswig-Holstein, 1964-67 Ausbildung zur Diplom-Bibliothekarin in Berlin, 1967-2008 Tätigkeit an der Stadtbibliothek (Friedrichshain-)Kreuzberg, 1975-2002 als Leiterin einer Stadtteilbibliothek, 1988-2011 Mitglied von Akribie (Arbeitskreis Kritischer BibliothekarInnen), ab 2011 Arbeitskreis Kritische Bibliothek, seit 2008 Mitarbeit im Netzwerk der deutschsprachigen Frauenarchive und -bibliotheken.