> > > LIBREAS. Library Ideas # 23

Annotate via hypothes.is

Download PDF @ edoc HU Berlin
urn:nbn:de:kobv:11-100212663

Wissenschaftliche Bibliotheken als Akteure im Forschungsdatenmanagement

Vor dem Hintergrund der fortschreitenden Digitalisierung der Wissenschaft steigt das Aufkommen an Daten, die in wissenschaftlichen Forschungsprozessen entstanden sind bzw. permanent entstehen, rasant an. Wissenschaftspolitische Akteure erwarten zunehmend einen organisierten Umgang mit Forschungsdaten. Mit dem Management digitaler Forschungsdaten sind allerdings vielfältige und disziplinspezifische Herausforderungen verbunden, die es zu bewältigen gilt. Der folgende Beitrag beschäftigt sich mit der Frage, ob und warum wissenschaftliche Bibliotheken diese Herausforderungen annehmen sollten und beleuchtet ihre Handlungsmöglichkeiten im Forschungsdatenmanagement.


Zitiervorschlag
Christiane Laura Martin, "Wissenschaftliche Bibliotheken als Akteure im Forschungsdatenmanagement. ". LIBREAS. Library Ideas, 23 ().


Einleitung

Daten gehören zu den zentralen und unverzichtbaren Ressourcen, die im wissenschaftlichen Forschungsprozess entstehen. Da die fortschreitende Digitalisierung der Wissenschaft zu einem rasant ansteigenden Aufkommen digitaler Forschungsdaten führt, gewinnt der professionelle Umgang mit den digitalen Informationsobjekten an Dringlichkeit. Ziel des Umgangs mit Forschungsdaten ist ein möglichst umfassender und komfortabler Zugriff auf Datenbestände. Dies nicht nur, um Forschungsergebnisse zu verifizieren und zu interpretieren, sondern vor allem, um Forschungsdaten produktiv nachnutzen zu können. So ist die Praxis des Data Sharing in einigen Fachdisziplinen seit Längerem etabliert, für andere Wissenschaftsbereiche müssen entsprechende Strukturen und Rahmenbedingen erst aufgebaut werden. [Fn 1]

Die Frage, wie Datenmanagement und Langzeitarchivierung von Forschungsdaten effektiv und funktional organisiert werden können, ist vielschichtig und wirft eine Reihe weiterer Fragen auf. Diese betreffen Prozesse der Archivierung und Bereitstellung von Daten, die Datenplanung für Forschungsprojekte, die Bereitstellung der technischen Infrastruktur, die Organisation und Verknüpfung der Metadaten, die Vergabe von persistenten Identifikatoren für die Forschungsdaten und schließlich die Auswahl eines entsprechenden institutionellen, nationalen oder fachlichen Archivs. Grundsätzlich geht es dabei um Aspekte der Verantwortlichkeit, Qualitätssicherungsmaßnahmen, Anreize für Forschende sowie um rechtliche Aspekte. Diese vielfältigen Herausforderungen an das Forschungsdatenmanagement gilt es zu bewältigen, wenn man den dynamischen Lebenszyklus digitaler Forschungsdaten handhabbar gestalten möchte.

Die Notwendigkeit der Implementierung eines nachhaltigen und wissenschaftsadäquaten Forschungsdatenmanagements kristallisiert sich in vielen Wissenschaftsdisziplinen zunehmend heraus. Entsprechend wachsen die Erwartungen von Forschungsförderern und Hochschulen an ein kontinuierliches und langfristiges Datenmanagement. Dies hat zur Folge, dass von Seiten der wissenschaftspolitischen Akteure an infrastrukturelle Serviceeinrichtungen als Teil des Wissenschaftssystems vermehrt die Forderung gestellt wird, sich dieses komplexen Handlungsspektrums anzunehmen.

Diese Forderungen gehen auch an Bibliotheken nicht vorüber. In ihrer Funktion als Infrastruktureinrichtung und Wissenschaftsdienstleister konzentrieren sich wissenschaftliche Bibliotheken auf Forschungsergebnisse, auf Dokumente und Publikationen, um sie zu erschließen und den Benutzern zur Verfügung zu stellen. Die Erschließung bezog sich bislang jedoch eher auf traditionelle Publikationsformen wie Dissertationen, Habilitationsschriften oder wissenschaftliche Aufsätze – der Umgang mit digitalen Forschungsdaten stand bislang nicht im Mittelpunkt bibliothekarischer Arbeit. Dennoch werden in der bibliothekarischen Fachdiskussion wissenschaftliche Bibliotheken deutlich als Akteure im Forschungsdatenmanagement verortet. [Fn 2] Für wissenschaftliche Bibliotheken bietet das Forschungsdatenmanagement einerseits die Chance, an der Entwicklung organisatorischer und technischer Lösungen mitzuwirken und Verantwortung in diesem Bereich zu übernehmen. Andererseits ist dieses Engagement mit Risiken und Investitionen verbunden, die Bibliotheken vor größere Probleme stellen können. Daher stellt sich die Frage, ob und warum wissenschaftliche Bibliotheken diese Herausforderungen annehmen und sich in diesem – für sie neuen – Handlungsfeld engagieren sollten. Entscheidend dabei ist, welche spezifischen Potentiale und Kompetenzen sich identifizieren lassen, die Bibliotheken für die Bewältigung der anstehenden Aufgaben qualifiziert und ihnen eine Positionierung als funktionaler Partner der Wissenschaft im Forschungsdatenmanagement erlaubt. Denn nur, wenn wissenschaftliche Bibliotheken bereits über Schlüsselkompetenzen verfügen, auf denen ein solches Engagement im Bereich der digitalen Forschungsdaten aufbauen kann, ist eine Implementierung überhaupt erst sinnvoll.

Vor dem Hintergrund der Diskussion über eine dauerhafte Zugänglichkeit digitaler Forschungsdaten beleuchtet dieser Artikel die Rolle und Handlungsmöglichkeiten wissenschaftlicher Bibliotheken im Forschungsdatenmanagement. Dabei ist die Ist-Situation, wie sie sich aus dem Blickwinkel der Infrastruktureinrichtungen darstellt, von Interesse. Illustriert wird die Situation mit Auszügen aus Experteninterviews, die im Dezember 2012 mit Personen geführt wurden, welche aufgrund ihrer beruflichen Position einen engen Bezug zum Kontext Forschungsdatenmanagement und Bibliotheken haben und über Expertenwissen hinsichtlich der Chancen und Probleme verfügen.

Kollaboration von Bibliotheken und Fachwissenschaften

Dem grundlegenden bibliothekarischen Verständnis, Zugang zu Wissen zu vermitteln sowie Qualitätsarbeit bei der Sammlung und Erschließung von Wissensressourcen zu leisten, wird vor der angeführten technologischen Weiterentwicklung und dem damit einhergehenden Wandel der Wissenschaft Rechnung getragen. Digitale Forschungsdaten als spezifisches Potential nutzbar und nachnutzbar zu machen, ermöglicht wissenschaftlichen Bibliotheken eine ihrer Kernaufgaben – die Sicherung der Qualität wissenschaftlicher Informationsversorgung – zu erfüllen und eröffnet Informationsspezialisten neue Gestaltungsräume und modifizierte Aufgabenfelder.

Eine wichtige Voraussetzung für das Gelingen von Forschungsdatenmanagement ist die enge Zusammenarbeit zwischen den Wissenschaftlern und der Infrastruktureinrichtung der jeweiligen Institution. Am Beispiel der ETH Zürich zeigt Matthias Töwe, Leiter des Projektes Digitaler Datenerhalt, dass die ETH-Bibliothek in Bezug auf ihre Kompetenzen in der Langfristsicherung von Ressourcen unter den Forschenden einen „Vertrauensvorschuss” gegenüber anderen möglichen Einrichtungen (wie beispielsweise externe Datenzentren) genießt:

„Wir haben zum Teil auch explizit die Rückmeldung bekommen, doch, Bibliothek ist die richtige Adresse, die kümmert sich schließlich schon lange darum, Dinge zu beschreiben, dass man sie langfristig wiederfinden kann; sie zugänglich zu machen. Ein gewisses Verständnis dafür, wo wir unsere Rolle sehen, gibt’s auch bei vielen Forschenden. Und dass jemand grundsätzlich gesagt hätte, nein, wieso denn jetzt ausgerechnet die Bibliothek, das haben wir gar nicht erlebt.”

Das Management von Forschungsdaten ist für wissenschaftliche Bibliotheken ein neues Handlungsfeld, mit dem viele Herausforderungen verbunden sind. Dennoch erscheint es aus Bibliothekssicht sinnvoll, schon zum jetzigen Zeitpunkt in enger Kooperation mit den Forschenden, Dienstleistungen rund um ein Forschungsdatenmanagement zu entwickeln und anzubieten. Die Intention der Dienstleistungsangebote wissenschaftlicher Bibliotheken sollte sein, dass Forschende sich nicht mit informationsfachlichen Aufgaben beschäftigen müssen, die in den Handlungsbereich von Bibliotheken gehören. Dazu zählen beispielsweise die Empfehlung von Austauschformaten, die Entwicklung von Metadatenstandards, die Sicherstellung der Referenzierung sowie die Vergabe der DOI-Nummern. Diese Grundidee spiegelt sich auch in der Aussage von Matthias Töwe wider:

„Wir sehen unseren Beitrag tatsächlich als den einer Infrastruktureinrichtung, die Dienstleistungen erbringt, um die Forschenden eigentlich von einer Aufgabe zu entlasten, die sie zwar ganz klar haben, die aber eigentlich nicht ihr Kerngeschäft sein sollte, in dem Sinne, dass sie da wirklich viel Zeit investieren.” Die so freigesetzten Ressourcen können Wissenschaftler anderweitig nutzen. Die Frage ist vielmehr, ob Forschende um das Dienstleistungsangebot „ihrer” Bibliothek wissen und dieses ihren Bedürfnissen gerecht wird. Dies zu realisieren, fällt in den Bereich Marketing und Kommunikation. Im Falle der ETH-Bibliothek hat sich gezeigt, „dass wir da eher offene Türen einrennen damit.” [Fn 3]

Ein wesentlicher Gedanke ist, dass Infrastruktureinrichtungen in ihrem Dienstleistungsangebot nur so gut sein können wie die Qualität ihrer Zusammenarbeit mit der Wissenschaft. „Das Know-how, wie die Daten entstanden sind, gepaart mit Methodenwissen zu ihrer Verzeichnung und Beschreibung, öffnet das Tor zu einer nachhaltigen Archivierung (…).” [Fn 4] Beiden Akteuren – den Fachwissenschaften und den Bibliotheken – kommt somit eine entscheidende Rolle im Umgang mit Forschungsdaten zu. Forschende beurteilen, zu welchem Zeitpunkt welche Daten in welcher Form für die Sekundärnutzung bereitgestellt werden. Sie treffen Annahmen darüber, wer diese Daten später für welche Zwecke nutzen wird. [Fn 5] Bibliotheken begleiten den Forschungsprozess von Beginn an, statt wie bisher an dessen Ende zu stehen. Sie übernehmen die Organisation aller Informationen über die Datenbestände und bilden die Schnittstelle zwischen inhaltlichen Fragen und technischen Aspekten.

Erweiterung des Daten- und Informationsmanagements

Die Veränderungen in der digitalen Informationsversorgung ziehen Umgestaltungen im Dienstleistungsportfolio wissenschaftlicher Bibliotheken nach sich. Der Schwerpunkt bewegt sich vom bedarfsgerechten Aufbau eines kohärenten Bibliotheksbestandes hin zum Ausbau von Serviceleistungen für aggregierte digitale Bestände. Eine solche Verschiebung sollte jedoch traditionelle Printbestände nicht vernachlässigen. Vielmehr geht es darum, jene Potentiale auszuschöpfen, die sich aufgrund der digitalen Verfügbarkeit von Informationen für die erweiterten Aufgabenbereiche ergeben. Dabei verändert sich, so Matthias Töwe, die Rolle der Bibliotheken ein Stück weit:

„Sie verschiebt sich weg davon, Daten anzusammeln, wie wir’s bisher gemacht haben, Zeitschriften zu lizenzieren und so weiter und die bereitzustellen. Die Dienstleistung muss eigentlich früher anfangen, dass man eben den Forschungsprozess begleitet und die Planung und Produktion der Daten nach Möglichkeit schon, wie soll ich sagen, doch sehr wohl beeinflussen kann. Also nicht nur, dass man hinterher da steht und nehmen muss, was dann auf einen zukommt, sondern dass man mehr wie ein Verwaltungsarchiv versucht, schon im vorarchivischen Bereich einzugreifen, Kriterien festzulegen und vielleicht auch auf Probleme aufmerksam zu machen.”

Die von wissenschaftlichen Bibliotheken angebotenen Dienstleistungen beziehen sich auf Verwaltung, Aufbereitung und Qualitätssicherung der Daten, da diese besondere Expertise und Kenntnisse im Informationsmanagement erfordern. [Fn 6] Zugleich reicht ihr Aufgabenbereich weit über eine rein technische Verarbeitung hinaus. Er beinhaltet zusätzlich ein vertieftes Verständnis über die wissenschaftlichen Arbeitsprozesse. Dies auch vor dem Hintergrund, das Vertrauen in die bibliothekarischen Dienstleistungen zu vertiefen und die Potenziale des offenen Zugangs zu Forschungsdaten zu verdeutlichen.

Digitale Langzeitarchivierung

Zu den zentralen Aufgaben im Management von Forschungsdaten gehört auch die digitale Langzeitarchivierung. Sie hat sich mittlerweile als Bezeichnung für Aktivitäten etabliert, die der Absicherung der Benutzbarkeit digitaler Objekte über einen langen Zeitraum hinweg dienen. Dabei ist die Zeitspanne, in der digitale Objekte nutzbar gehalten werden sollen, nicht näher fixiert. Bibliotheken haben die Bedeutung der digitalen Langzeitarchivierung erkannt und arbeiten längst an technischen und organisatorischen Lösungen für eine zuverlässige Archivierung elektronischer Ressourcen. [Fn 7] Im Hinblick auf Forschungsdaten wird deutlich, dass ein strukturiertes Datenmanagement mit einer stabilen Policy Voraussetzung für die Langzeitarchivierung und Langzeitverfügbarkeit ist, da sich daraus genaue Vorgaben ableiten lassen, wie die Objekte langzeitarchiviert werden müssen:

„Je weiter man eigentlich in Richtung Langzeitarchivierung kommt, umso mehr treten technische Fragen in den Vordergrund, und dann wird die Diskussion etwas homogener. Weil man es dann irgendwann nur noch – in Anführungszeichen – mit Daten zu tun hat. Woher die gekommen sind, ist dann für die Langzeitarchivierung gar nicht mehr so entscheidend. Wenn man vorher sauber gearbeitet hat, sollte man dann die Voraussetzung haben, dass man dann nur noch Langzeitarchivierung machen muss. Was natürlich komplex genug ist.” [Fn 8]

Auch hier zeigt sich, dass die Qualität der Metadaten entscheidend ist für die Qualität der Prozesse der digitalen Langzeitarchivierung. Für Bibliotheken ist es daher naheliegend, möglichst frühzeitig in diese Prozesse einzugreifen und ihren Erkenntnisvorsprung in den Bereichen Standardisierung und Interoperabilität in diesem Segment einzubringen.

Gleichwohl ist die digitale Langzeitarchivierung von Unsicherheiten gekennzeichnet. Diese beziehen sich auf die Definition von Erwartungsperspektiven, aber auch auf die technische und rechtlich-organisatorische Realisierung, da vorhandene Beschreibungen und Modelle oftmals schwer in die Praxis übertragbar sind. [Fn 9] Abschließende Lösungen sind für die verschiedenen Herausforderungen noch nicht gefunden. Vielmehr sollte Langzeitarchivierung als ein Prozess verstanden werden, als Gegenstand dauernder Entwicklung. „Alles was wir jetzt tun, nichts davon ist der Weisheit letzter Schluss, sondern es ist der Versuch, jetzt möglichst viele Fehler zu vermeiden, aber eigentlich retten wir uns nur so weit, dass die nächste Generation sich dann wieder den Kopf zerbrechen kann.” [Fn 10]

Besteht für die Zukunft die Befürchtung, dass sich Bibliotheken in der Langzeitarchivierung übernehmen könnten, wenn die Datenmengen Größenordnungen erreichen, die aus heutiger Sicht schwierig zu handhaben sind? Dazu die Einschätzung von Matthias Töwe:

„Ich kann es mir schon vorstellen, dass wir als Bibliotheken auch an Grenzen stoßen werden. Wir arbeiten im Moment noch vor allem mit Pilotpartnern, deswegen merken wir das nicht so ganz, aber wir sehen schon, dass man das in dieser Tiefe natürlich auch nicht ohne entsprechende Ressourcen flächendeckend tun kann. Das kann beliebig ausufern, im Grunde genommen.”

In diesem Kontext wird deutlich, dass unter dem wachsenden Druck wirtschaftlicher Vorgaben keine Institution allein alle digitalen Materialien dauerhaft archivieren kann. Daher bedarf es in der Langzeitarchivierung einer engen Zusammenarbeit der verschiedenen Akteure in Kooperationsnetzwerken und einer intensiven Partizipation von Bibliotheken daran.

Die Schnittstellenfunktion der Bibliotheken

Die Funktion, die wissenschaftliche Bibliotheken im Forschungsdatenmanagement übernehmen, kann wie bereits erwähnt als die eines Vermittlers zwischen den technologischen Rahmenbedingungen und den Ansprüchen und Bedürfnissen der Forschenden gesehen werden. Mit einem Bündel an informationsbezogenen Dienstleistungen können Bibliotheken an die Wissenschaftler der jeweiligen Einrichtung herantreten. Gleichzeitig stellt sich die Frage, welche Bedürfnisse und Erwartungen von Seiten der Forschenden bezüglich des Forschungsdaten­managements geäußert werden. Für die Entwicklung eines bibliothekarischen Angebotes ist es sinnvoll, zu eruieren, welche Beiträge aus den disziplinspezifischen Blickwinkeln erwartet werden. Eine umfassende Analyse der Situation, wie sie sich derzeit an der ETH Zürich darstellt, zeigt die Studie von Susanne Scheid. [Fn 11]

Die neuen Herausforderungen an Bibliotheken orientieren sich unter anderem an den Erwartungen, die Forschende an sie stellen. Die infrastrukturellen Angebote müssen sich den Bedürfnissen anpassen; diese in Umfragen zu erkunden, ist ein erster Schritt. Wie ist jedoch vorzugehen, wenn Nutzer diese Dienstleistungen nicht kennen bzw. diese gar nicht in Anspruch nehmen wollen? Nach Einschätzung von Peter Farago, dem Direktor der FORS, des Schweizer Kompetenzzentrums Sozialwissenschaften in Lausanne, wird ein Forschungsdatenmanagement in den Sozialwissenschaften gerade nicht von einer Bibliothek erwartet, sondern von einem Datenarchiv. Mit den Daten gehe man nicht zu einer Bibliothek, so Farago. Ebenfalls ist seiner Meinung nach die Erzeugung der Metadaten kein Bereich, in dem Bibliotheken mitwirken können:

„Das kann ich mir schwer vorstellen, weil wie gesagt, das sind ja Dinge, eigentlich sollten die Forschenden das selber machen. Und wenn die nicht, dann machen wir‘s hier, weil wir ja auch den direkten Kontakt, also, wenn die dann ihre Daten bei uns hinterlegen, dann haben wir den direkten Kontakt mit diesen Leuten, können Rückfragen stellen und so weiter. Es gehört einfach zu unserem Leistungsspektrum, dass wir das tun. Und für die Datensätze, die wir selber produzieren, sowieso. Nein, ich sehe in unseren Bereichen, was die Datenarchivierung und Dokumentation angeht, sehe ich eigentlich gar keine Rolle für Bibliotheken.”

Auch in der Aussage von Stefan Buerli, einem Mitarbeiter der FORS, klingt an, dass das Bedürfnis, Bibliotheken als Orte der Organisation und Bereitstellung von Forschungsdaten zu nutzen, unter Sozialwissenschaftlern offenbar gering ausgeprägt ist:

„Ehrlicherweise muss man sagen, verschwinden Daten auf den Hard Disk von irgendwelchen Forschern. Aber ich denke, dass sie erstens nicht bereit wären, das in eine Bibliothek abzugeben, aus Datenschutzgründen oder anderen Gründen. Und zweitens, um dann die Daten auch längerfristig aufzubewahren, braucht es schon so was wie einen Datenverleger, also Leute, die spezialisiert sind. (…) Was nicht der gleiche Job ist, wie ein Bibliothekar, auch wenn es ein bisschen in die gleiche Richtung geht.”

Einerseits lassen die Aussagen von Peter Farago und Stefan Buerli eine Unkenntnis jener Leistungen erkennen, die von Bibliotheken in der wissenschaftlichen Informationsversorgung bereits erbracht werden. Andererseits spiegeln die Einschätzungen auch eine gewisse Abgrenzungsmentalität gegenüber Bibliotheken wider. Diese Haltung ist bis zu einem bestimmten Punkt nachvollziehbar, denn wissenschaftliche Bibliotheken betreten mit ihrem Engagement im Forschungsdatenmanagement bereits besetzte Handlungsfelder. Dabei konkurrieren sie mit anderen Akteuren wie Datenzentren um die Dominanz in diesem Feld. Boundary objects, Grenzobjekte – hier verstanden im Sinne des Boundary-Konzepts von Susan Leigh Star und James R. Griesemer [Fn 12] – übernehmen in diesem Zusammenhang eine wichtige Funktion. Den Autoren zufolge trennen boundary objects unterschiedliche soziale Handlungsfelder und stellen gleichzeitig eine Verbindung zwischen ihnen her. Allerdings assoziieren die unterschiedlichen Akteure mit den Grenzobjekten jeweils eigene Perspektiven. Daher sind diese nicht als starr und unveränderlich zu betrachten, sondern vielmehr als Ergebnisse von Aushandlungsprozessen.

Ein Erfolg wäre, wenn es gelänge, dass die verschiedenen Akteure im Forschungsdatenmanagement ihre Handlungsmuster überdenken und eine Zusammenarbeit sowie den Austausch untereinander anstreben. Statt eine Konkurrenzsituation zu verfestigen, sollten Forschende und Vertreter klassischer Datenzentren wissenschaftliche Bibliotheken als funktionale Partner im Forschungsdatenmanagement akzeptieren. Die gegenwärtige digitale Umbruchsituation, von der alle Akteure betroffen sind, kann helfen, die Schnittstellenfunktion von Bibliotheken zu konsolidieren.

Erweiterte Tätigkeitsfelder für und wachsende Anforderungen an wissenschaftliche Bibliothekare

Damit die wissenschaftlichen Bibliotheken ihren Platz im Forschungsdatenmanagement erfolgreich ausfüllen können, sind bestimmte Voraussetzungen erforderlich. Zum einen ist die Erweiterung bestehender Tätigkeitsfelder notwendig. Gleichzeitig verändern und erweitern sich die Erwartungen an das professionelle Handeln und die Kompetenzen der wissenschaftlichen Bibliothekare bzw. Informationswissenschaftler.

Erweiterte Tätigkeitsfelder

Im Zusammenhang mit dem Forschungsdatenmanagement werden die Verantwortungs- und Aufgabenprofile im Berufsfeld wissenschaftlicher Bibliothekare neu definiert. Aufkommende Konzepte wie „Data Librarian” oder „Data Curator” [Fn 13] beleben die Diskussion und tragen den neuen Schwerpunkt bereits im Namen. Einerseits geht es bei diesen Konzepten um eine Erweiterung und Neupositionierung des Berufsbildes wissenschaftlicher Bibliothekar, andererseits zielen sie auf die Implementierung neuer Tätigkeitsfelder in Bibliotheken und anderen Infrastruktureinrichtungen. Ob der erweiterte Bedarf zu einer Verschiebung der Schwerpunkte innerhalb der bisherigen Aufgabenbereiche führen wird oder zur Schaffung neuer Stellen, wird die Zukunft zeigen. Dies hängt von unterschiedlichen Voraussetzungen ab, nicht zuletzt von institutionellen Rahmenbedingungen.

In den letzten Jahren rückte mit dem Begriff des „Embedded Librarian” der Aspekt der (frühzeitigen) Einbindung des wissenschaftlichen Bibliothekars in Projekt- und Unternehmensstrukturen in den Fokus. Dieser Anspruch wird im Konzept des „Liaison Librarian” noch vertieft und erweitert. [Fn 14] Es geht um Veränderung der Arbeits- und Kommunikationsweise der Bibliothekare, deren Aufgabe vornehmlich im Halten und Pflegen von fachlichen Kontakten zu den Wissenschaftsbereichen gesehen wird. Diese Beziehungen erleichtern die Realisierung „gemeinsamer Operationen”. Insbesondere für Mitarbeitende der Universitätsbibliotheken habe das Konzept der „Liaison Librarians” eine besondere Bedeutung im Sinne eines Tätigkeitsprofils, auf das sie sich hin entwickeln. Darin ist inbegriffen, dass traditionelle Dienstleistungen reduziert oder sogar eingestellt werden, um Raum für persönliche Kommunikation zu schaffen. [Fn 15]

Wachsende Anforderungen

Die Veränderungen in der digitalen Informationsversorgung führen zu Umgestaltungen in den Aufgaben und Verantwortlichkeiten von wissenschaftlichen Bibliothekaren bzw. Informationswissenschaftlern. Aufgrund des sich wandelnden Dienstleistungscharakters bestehen vor allem große Herausforderungen in Hinsicht auf neue Tätigkeiten, Techniken und Organisationsformen. [Fn 16]

Welche Anforderungen müssen wissenschaftliche Bibliothekare erfüllen, damit sie eine zentrale Stellung in diesem erweiterten Handlungsfeld einnehmen können? Neben dem technischen Know-how, den Kenntnissen über Datenmanagement und Langzeitarchivierung sowie Methodenkompetenz in den jeweiligen Disziplinen sollte der eigentliche Kern ihrer Fähigkeiten im Bereich Informationskompetenz und Kommunikation liegen, da umfangreiche Beratungs- und Schulungsaufgaben zu erfüllen sind. Matthias Töwe von der ETH-Bibliothek unterstreicht, dass das Forschungsdatenmanagement auch „intellektuell bewältigt” werden muss:

„Man muss durchaus auf Augenhöhe mit den Forschenden sprechen können, man muss sich dafür nicht unbedingt in ihr Fach einmischen, aber man muss zumindest folgen können, welche Daten jetzt wichtig sind aus welchen Gründen, um auch entscheiden zu können, welche Daten man so wie sie sind nimmt, wo es sinnvoller ist, Konvertierungen anzustreben, solche Fragen zu klären.”

Hierin ist vor allem ein Hinweis auf die kommunikative Komponente zu sehen. „Es braucht alles viel Zeit und vor allem Personal, das dem auch gewachsen ist, von der Herausforderung her, und das ist eine ganz große Anstrengung, die da auf uns zukommt.” [Fn 17] Wichtige Kriterien sind neben der fundierten Vorbildung die Bereitschaft, aus der Bibliothek heraus in den Campus und auf die Wissenschaftler zuzugehen, um mit ihnen partnerschaftlich zu kommunizieren. Das bedeutet, die Erwartungen und Bedürfnisse der Forschenden empathisch zu erfassen und mit ihnen als gleichberechtige Partner bei der Bewältigung der Herausforderungen des Forschungsdatenmanagements zusammenzuarbeiten. Möglicherweise wird in Zukunft die Aufgabe, Türen zu öffnen, eine Leistung von zentraler Bedeutung heutiger Fachreferenten sein.

Schlussbetrachtung

Ausgehend von der These, dass sich wissenschaftliche Bibliotheken als Akteure im Forschungsdatenmanagement verstehen, müssen sie sich mit den Grundzügen und Entwicklungstendenzen in diesem Handlungsfeld auseinandersetzen. Demzufolge müssen sie sich auch mit der Implementierung entsprechender Prozesse in das traditionelle Bibliothekswesen befassen. Im Zentrum dieses Artikels standen deshalb Fragen der Positionierung wissenschaftlicher Bibliotheken im Forschungsdatenmanagement. Folgende spezifische Potentiale und Kompetenzen lassen sie als prädestiniert erscheinen, diese Herausforderungen zu bewältigen:

  • Das Sammeln, Erschliessen, Bewahren und Vermitteln von Wissensbeständen ist seit jeher eine klassische Aufgabe von Bibliotheken, die einen großen Erfahrungsschatz auf diesen Gebieten vorweisen können. Es sollte gelingen, diesen auch im Bereich der Dokumentation von digitalisierten Forschungsdaten produktiv zu machen.
  • Wissenschaftliche Bibliotheken verfügen bereits über Spezialkenntnisse in der Entwicklung von Metadaten. Sie arbeiten daran mit, Standards zur Beschreibung und Identifikation äusserst heterogener, fachspezifischer Metadaten zu entwickeln. Dies ist eine Grundvoraussetzung für die dauerhafte Sicherung und Nachnutzbarkeit von Forschungsdaten.
  • Hinsichtlich des Forschungsdatenmanagements ist die Kompetenz der Bibliotheken gefragt, „die Menge und Komplexität der Forschungsdaten strukturiert und standardisiert zu bearbeiten”, [Fn 18] damit sie in umfassender und nutzerfreundlicher Form angeboten werden können – ganz im Sinne des Data-Sharing-Konzepts.

Gleichzeitig gilt es, die Vorteile zu nutzen, welche die Nähe von Wissenschaft und Infrastruktureinrichtung – in der Regel auf einem Campus – hinsichtlich der Zusammenarbeit im Forschungsdatenmanagement bietet. Eminent wichtig ist es dabei, dass wissenschaftliche Bibliothekare und Forschende frühzeitig, d.h. im Vorfeld der Datenerhebung, sowie in allen weiteren Stadien des Forschungsdatenmanagements zusammenwirken. Denn die Basis für eine gelingende, funktionale Partnerschaft ist neben den technologischen, organisatorischen, rechtlichen und personellen Voraussetzungen der Wille aller beteiligten Akteure zur Kollaboration. Dies setzt voraus, die jeweiligen Bedürfnisse und Möglichkeiten des anderen Partners zu kennen und zu beachten, was nur in einem Kommunikationsprozess auf hohem Niveau erreicht werden kann.

Die Einbindung von Forschungsdaten in wissenschaftliche Publikationen sowie ihre Anerkennung als wissenschaftliche Leistung durch Zitierbarkeit bzw. Referenzierbarkeit ist unerlässlich, um den Daten den notwendigen Stellenwert innerhalb des Wissenschaftsgefüges zu geben. Erfährt die Produktion von Forschungsdaten volle Anerkennung, wird ihre Qualität und Verfügbarkeit steigen, was wiederum zur Erhöhung der Reputation wissenschaftlicher Bibliotheken beitragen kann.


Literatur

Altenhöner, Reinhard (2012), Digitale Langzeitarchivierung. In: Handbuch Bibliothek. Geschichte, Aufgaben, Perspektiven. Hrsg. von Konrad Umlauf und Stefan Gradmann. Stuttgart: J.B. Metzler, S. 173-186.

Altenhöner, Reinhard und Gert G. Wagner (2012), Herausforderungen der Archivierung sozial-, verhaltens- und wirtschaftswissenschaftlicher Datenbestände. In: Langzeitarchivierung von Forschungsdaten. Standards und disziplinspezifische Lösungen. Hrsg. von Reinhard Altenhöner und Claudia Oellers. Berlin: SCIVERO, S. 15-18.

Büttner, Stephan, Stefanie Rümpel und Hans-Christoph Hobohm (2011), Informationswissenschaftler im Forschungsdatenmanagement. In: Handbuch Forschungsdatenmanagement. Hrsg. von Stephan Büttner, Hans-Christoph Hobohm und Lars Müller. Bad Honnef: Bock + Herchen, S. 203-218.

Dallmeier-Tiessen, Sünje (2011), Strategien bei der Veröffentlichung von Forschungsdaten. In: Handbuch Forschungsdatenmanagement. Hrsg. von Stephan Büttner, Hans-Christoph Hobohm und Lars Müller. Bad Honnef: Bock + Herchen, S. 157-168.

Dallmeier-Tiessen, Sünje (2012), Die wissenschaftsorientierte Publikation von Forschungsdaten. In: Bibliotheken für die Zukunft – Zukunft für die Bibliotheken, 100. Deutscher Bibliothekartag in Berlin 2011. Hrsg. von Ulrich Hohoff und Daniela Lülfing. Hildesheim: Georg Olms, S. 75-86.

Fühles-Ubach, Simone (2012), Vom „embedded” zum „liaison librarian” – was versprechen die neuen Konzepte? In: Vernetztes Wissen – Daten, Menschen, Systeme. 6. Konferenz der Zentralbibliothek, Forschungszentrum Jülich 5.-7. November 2012. Hrsg. von Bernhard Mittermaier. Jülich, S. 337-350. Online: http://www.dini.de/fileadmin/oa-statistik/projektergebnisse/Bibliothek_21.pdf (Zugriff am 14.03.2013).

Pampel, Heinz, Roland Bertelmann und Hans-Christoph Hobohm (2010), „Data Librarianship”: Rollen, Aufgaben, Kompetenzen. Working Paper Series des Rates für Sozial- und Wirtschaftswissenschaften, Nr. 144. Berlin. Online: http://www.econstor.eu /handle/10419/43622 (Zugriff am 02.01.2013).

Sietmann, Richard (2009), Rip. Mix. Publish. Der Wissenschaft steht ein radikaler Wandel im Umgang mit Forschungsdaten bevor. In: c’t. H. 14, S. 154-161.

Star, Susan Leigh und James R. Griesemer (1989), Institutional Ecology, ’Translations’ and Boundary Objects: Amateurs and Professionals in Berkeley’s Museum of Vertebrate Zoology, 1907-39. In: Social Studies of Science. Jg. 19, H. 3, S. 387-420.

Töwe, Matthias und Susanne Scheid (2011), User expectations in archived research data. Online: http://www.digitalpreservationsummit.de/presentations/toewe.pdf (Zugriff am 09.02.2013).

Winkler-Nees, Stefan (2011a), Know-how der Bibliothekare gefragt. Die Virtualisierung der Wissenschaft stellt neue Aufgaben an die digitale Informationsversorgung. In: BuB – Forum Bibliothek und Information. Jg. 63, H. 5, S. 373.

Winkler-Nees, Stefan (2011b), Anforderungen an wissenschaftliche Informations-infrastrukturen. Working Paper Series des Rates für Sozial- und Wirtschafts-wissenschaften, Nr. 180. Berlin. Online: http://www.ratswd.de/download/ RatSWD_WP_2011/RatSWD_WP_180.pdf (Zugriff am 10.03.2013).


Fußnoten

[01] Vgl. Sietmann (2009: 154). [zurück]

[02] Die Rolle von Bibliotheken im Forschungsdatenmanagement wurde bereits auf dem 4. Leipziger Kongress für Information und Bibliothek 2010 betont und zum 100. Bibliothekartag in Berlin erneut aufgegriffen. Vgl. Winkler-Nees (2011a). [zurück]

[03] Matthias Töwe im Interview vom 07.12.12. [zurück]

[04] Altenhöner und Wagner (2012: 17). [zurück]

[05] Vgl. Dallmeier-Tiessen (2011: 159 f.). [zurück]

[06] Vgl. Winkler-Nees (2011b: 5f.). [zurück]

[07] Altenhöner (2012). [zurück]

[08] Matthias Töwe im Interview vom 07.12.12. [zurück]

[09] Vgl. Altenhöner (2012: 185). [zurück]

[10] Matthias Töwe im Interview vom 07.12.12. [zurück]

[11] Töwe u. Scheid (2011). User expectations in archived research data, URL: http://www.digitalpreservationsummit.de/presentations/toewe.pdf. [zurück]

[12] Star u. Griesemer (1989: 393). [zurück]

[13] Vgl. Büttner u.a. (2011b). Siehe auch Pampel u.a. (2010). [zurück]

[14] Vgl. Fühles-Ubach (2012). [zurück]

[15] Vgl. Fühles-Ubach (2012: 344f.). [zurück]

[16] Vgl. Winkler-Nees (2011: 12f). [zurück]

[17] Matthias Töwe im Interview vom 07.12.12. [zurück]

[18] Dallmeier-Tiessen (2012: 84). [zurück]


Christiane Laura Martin, lic. rer. soc. Fachreferentin für Soziologie an der Universitätsbibliothek Bern. E-Mail: christiane.martin@ub.unibe.ch. Der Text geht auf ihre Masterarbeit zurück, welche die Autorin im Mai 2013 im MAS-Studiengang Bibliotheks- und Informationswissenschaften an der Universität Zürich geschrieben hatte.