> > > LIBREAS. Library Ideas # 21

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Das Konzept Wunderkammer heute


Zitiervorschlag
Ben Kaden, "Das Konzept Wunderkammer heute. ". LIBREAS. Library Ideas, 21 ().


Sind Wunderkammern Orte der Informationsvisualisierung? Nun – sie lassen sich schon als solche lesen. Aber die Lesart ist ganz auf Seiten des Rezipienten. In ihrer ursprünglichen Intention sollten sie dagegen weniger auf etwas tatsächlich Gegebenes verweisen als auf eine einzige Information: die der Schöpfung. Diese drückte sich dann sowohl in den natürlichen wie auch den teilweise ergreifend detailliert ausgeführten handwerklichen Exponaten aus. Um die Aura ging es, um Staunen und Verzücktsein.

Heute stellt sich die Frage bestenfalls ausnahmsweise. Und zwar nicht nur deshalb, weil man selten die Gelegenheit hat, in eine Wunderkammer zu treten. Sondern auch, weil sich fast keine der erhaltenen den Anspruch stellt, das Konzept für die Gegenwart zu aktualisieren. Aufklärung und Staunen galten eben doch lange Zeit als unvereinbare Phänomene und bestenfalls durfte man noch über die Unaufgeklärtheit der Anderen staunen. Und was von der Kultur des Staunens übrig blieb, wurde zur Wissensvermittlung qua Museum dokumentiert.

Mittlerweilesteuern wir jedoch ziemlich gradlinig in ein nachsystematisches Zeitalter, in dem Eklektizismus seine negative Konnotation einbüßt und in dem das Neben- und Miteinander scheinbar nur schwer kombinierbarer Elemente zum Leitprogramm gehört. In den gegenwärtigen Lebenswirklichkeiten gilt Erfahrung nicht weniger, häufig mehr als Wissen (und Erfahrungsbegierde ersetzt den Wissensdurst). Nicht nur aber auch die wachsende Eventausrichtung musealer Sammlung trägt der Entwicklung Rechnung. Viele Menschen möchten die Welt als Faszinosum und nicht als Schulbank erleben.

Das mehr oder weniger unsystematische Beieinander kurioser Objekte ist da ganz im Geist der Zeit, auch wenn die Gewohnheit meist nach wie vor Erklärungstafeln und eine kontextuelle Verortung einfordert. Es schließt sich auch nicht aus. Die Abwesenheit solcher Sammlungen lässt sich allerdings vor allem dadurch erklären, dass sie – so und so – Ressourcen erfordern, die nicht unbedingt allseits gegeben sind. Im Fall der Sammlung Olbricht kommt das, was man für eine zeitgenössische Interpretation des Wunderkammerkonzeptes benötigt, aber zusammen. Und so findet sich im me (=moving energies) Collectors room in der Berliner Auguststraße eine solche Kammer, die mit Objektformen aufwartet, welche man vermutlich auch in Barock und Renaissance so in solchen Räumen zur Schau gestellt hätte: vom Korallen-Kruzifix bis zum Narwalzahn, von der Kreuzuhr über den gefüllten Kleinodien-Schrank bis zum Schrumpfkopf findet sich eine Sammlung an Kuriosa quer durch den Garten der Vorsystematik und Prätypologie. Hineingemischt residiert eine Arbeit von Mathew Weir aus dem Jahr 2009 und fällt in dieser Vanitas-Sammlung gar nicht weiter auf.

Die Zusammenstellung und die räumliche Präsentation sind ohne Zweifel auf Inszenierung ausgerichtet und bedienen damit folgerichtig tatsächlich die vorwissenschaftliche Begegnung mit den Objekten. Zugleich jedoch funktioniert sie in diesem Kontext erklärtermaßen als Ausdruck und Vermittlung eines bestimmten grundsätzlichen Prinzips des Geistes – nämlich das, das sich hinter dem Wort Inspiration verbirgt. Es geht hier eben nicht vorrangig um die museale und dokumentierende Konservierung barocker Idee, sondern um Aktivierung und Dialog. Folgerichtig finden sich zwei Meter den Flur hinunter gleich Arbeiten von Daniel und Geo Fuchs aus der Sammlung von Selim Varol, also Objekte, die auf den ersten Blick kaum gegensätzlicher sein könnten. Wenn man weiterläuft, steigt man an einer mit Skateboard-Decks behängten Wand hinab in einen mit Streetart gefüllten Saal und steht vor Shepard Faireys großformatigem Imperativ „Obey“, der daran erinnert, wie wir auch heute Folge leisten, nur eben vielleicht anderen Handlungswerten und Instanzen verpflichtet.

Die Gegenpole werden sich mit der nächsten Ausstellung ändern – die Wunderkammer jedoch bleibt konstant Kontrapunkt, egal ob nun zu Gerhard Richter, William N. Copley oder Cindy Sherman. Und sie ist von Zeit zu Zeit, wie eine Ausstellung aus dem Frühjahr 2012 („Through the Looking Glass“ – http://www.me-berlin.com/ausblickdrei-jungkuratorinnen-zu-gast-im-me-collectors-room/) zeigt, durchaus auch direkt Bezugsgröße.

Auf diese Weise entsteht eine ungewöhnliche Fassung der im frühen 21. Jahrhundert typischen Remix-Kultur. Diese entblößt die etablierte kulturelle Praxis des Rückgriffs auf etwas Bestehendes zur Schaffung von etwas Neuem und erhebt sie zum erklärten Prinzip. Hier wird die Wunderkammer, deren Objekte allesamt ein Memento Mori in sich tragen, Ausgangspunkt einer Variation und des Arrangements.

Diese Verbindung derart offen auszuführen scheint in der aktuellen Kunstwelt selbst nicht unbedingt Standard zu sein. Jedenfalls zitiert die New York Times den französischen Kunsthistoriker, Kurator und Journalisten Damien Sausset mit der Einschätzung, dass das Sammlungskonzept Thomas Olbrichts in dieser Soziosphäre eine Art Ausnahme darstellt und zugleich eine Modellfunktion übernehmen könnte: „Here the past is not rejected, it is reactivated, re-actualized by contemporary works.“ Und die Kuratorin Allegra Pesenti postuliert im Anschluss eine Art kunsthistorische Wende in der Kunstproduktion.

Der Blick zurück zum Zwecke der Anregung (inklusive eines historisierenden Arbeitens selbst) und des Dialogs ist kein Tabu, sondern könnte zum Trend, wenn nicht gar zur Bedingung werden. In gewisser Weise greift dadurch die Verwissenschaftlichung aus einem anderen Winkel wieder auf diese Repräsentationsrahmen zu, gilt in ihr doch die klar nachweisbare Quellenlinie zum Stand der Forschung als unverzichtbar. Das Neue im Sinne einer Creatio ex nihilo hätte in der akademischen Welt gar keine Chance, selbst wenn es so etwas gäbe. Zentral sind und bleiben die Referenzen. Inwieweit sich dieses Prinzip tatsächlich auch im künstlerischen Schaffen umfassend niederschlägt, bleibt offen. Erinnerungskulturen und kunsthistorisch elaborierte Stiltranszendenz scheinen jedoch derzeit zwei maßgebliche Trends zu markieren.

Das Wunderkammerobjekt als Zeugnis entspricht dabei sicher mehr einem Zeichen und zugleich Zeitspeicher als einer Visualisierung. Visualisiert wird in einer postmodernen Wunderkammer wie der der Sammlung Olbricht vor allem der Gedanke der Vergänglichkeit, der allerdings im selben Augenblock darin relativiert scheint, dass die sehr alten Objekte nach wie vor existieren und dies offensichtlich in einer Weise, die fruchtbar für neues Schaffen ist. Dadurch, dass wir die Objekte sehen, auf uns wirken lassen und aus dieser Wirkung heraus handeln, behalten sie ihre Aktualität.

Das zweite visualisierte Konzept, das in dieser Zusammenstellung zum Ausdruck kommt, ist demnach das der Möglich- und Notwendigkeit, solche Spuren zu erhalten und zugänglich zu machen. Die Grundkonstanten dahinter – die Narrative von Leben, Tod und vielleicht auch Liebe – bleiben bis heute unentrinnbare Basis menschlichen Handelns, auch wenn sich im Alltag allerlei davor zu lagern scheint. Wir müssen uns trotzdem und gezwungenermaßen regelmäßig zu derartigen Fragen verhalten. Ein Großteil des kulturellen Schaffens dürfte Ergebnis dieses Verhaltens sein. Binden wir das alles nun doch irgendwie an die Wissensökonomie zurück, dann muss man immerhin zugestehen, dass es unzweifelhaft sinnvoll ist, sein eigenes Wissen im Dialog mit dem bisher gedachten und ausgeführten Strategien zu prüfen und zu entwickeln.

Der Besuch in einer solchen Wunderkammer eröffnet im Herbst 2012 wie vielleicht auch im Herbst 1712 die Gelegenheit, sich mit dieser Frage nach dem Wechselspiel(raum) zwischen dem Erhabenen, dem Gegebenen und dem Vergehenden auseinanderzusetzen. Und natürlich mit der, wie wir heute damit umgehen und wie man einst damit umging. Der Mise en Scène im Fall der Sammlung Olbricht ist insofern besonders zeitgemäß, da sie die Brechung mit dem Sentiment genau in dem Moment ermöglicht, in dem es vielleicht überhand zu nehmen scheint. Denn man biegt einfach nur um die Ecke, geht an einer halben Giraffe vorbei und steht prompt an einem anderen Extrempunkt der Kultur. Nämlich von Angesicht zu diamantenem Angesicht eines glitzernden Frank Kozik Bunnys.

Das Konzept Wunderkammer heute

Das Konzept Wunderkammer heute

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Ben Kaden ist Bibliotheks- und Informationswissenschaftler und Gründungsherausgeber des eJournals LIBREAS. Library Ideas.