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Angriff von unten. Tiefgreifende Veränderungen durch elektronische Literatur

Der Artikel »Angriff von unten« von Johanna Mauermann und Oliver Bendel befasst sich mit den tiefgreifenden Veränderungen auf dem Literaturmarkt durch die voranschreitende Verbreitung von elektronischer Literatur. Er zeigt auf, dass die Impulse vor allem »von unten« kommen, vorbei am traditionellen Literaturbetrieb. Dieser befasst sich erst allmählich mit den neuen Formaten, Plattformen und Vertriebswegen. Die Autoren erstellen das Portfolio der elektronischen Literatur zweier Länder, Japans und Deutschlands (und am Rande der deutschsprachigen Schweiz). Japan deshalb, weil elektronische Literatur dort inzwischen einen hohen Stellenwert hat, auch für den Buchmarkt. Deutschland und Schweiz, weil sich hier ähnliche Strukturen entwickelt haben, deren Erforschung in den Händen der hiesigen Wissenschaftler und des Literaturbetriebs liegt. Die Autoren gelangen zu dem Schluss, dass im »Schreiben 2.0« insgesamt viel Potenzial steckt. Es gilt daher, die aktuellen Entwicklungen zu erfassen, zu bewerten und zum gegenseitigen Austausch aufzufordern.


Zitiervorschlag
Johanna Mauermann, Oliver Bendel, "Angriff von unten. Tiefgreifende Veränderungen durch elektronische Literatur. ". LIBREAS. Library Ideas, 20 ().


1. Einleitung

Der Literaturbetrieb ist seit ein paar Jahren im Umbruch. Die ersten Anzeichen waren schon um das Jahr 1995 zu erkennen, als das Web sich durchgesetzt hatte. Um 2005 verdichteten sich die Hinweise, neue Anbieter loteten Möglichkeiten aus und schufen neuartige Plattformen. Spätestens 2010 merkten auch die klassischen Anbieter, dass sie reagieren mussten. Wie in anderen Bereichen hat die Digitalisierung den Anstoß für diesen Umbruch gegeben. Die Musikbranche hat durch Formate, Player und Plattformen gewaltige Veränderungen erfahren. Etwas Ähnliches passiert nun im Literaturmarkt. Die Veränderungen beziehen sich unter anderem auf Produktion, Inhalt, Vertrieb und Geräte. Ganz normale Sterbliche beginnen zu schreiben; Autorinnen und Autoren schließen sich zusammen. Sie halten sich an keine Konventionen oder schaffen ihre eigenen; sie experimentieren, sie schreiben Texte um und fort, sie annotieren sie mit Erklärungen und Übersetzungen oder reichern sie multimedial an. Man lädt sich Gedichte und Romane über das Handy herunter – oder benutzt virtuelle oder reale E-Book-Reader und Tablet-Computer.

Die Anfänge der Netzliteratur reichen in die Zeit des klassischen Internets zurück. Noch bevor das WWW erfunden worden war, hatte man die Potenziale von Hypertexten untersucht. Diese wiederum haben Vorläufer im Nichtelektronischen; gerne wird im Literarischen auf Arno Schmidts »Zettels Traum« verwiesen (Schmidt 2004). [Fn 1] Auch die Computerlyrik ist eine ältere Dame und dem Experiment verpflichtet. Im Web wurden tausende Projekte zum Leben erweckt. Elfriede Jelinek pflegt seit den 90er-Jahren ihre dynamischen Texte auf zahlreichen Seiten. Schließlich weitete sich die Entdeckerfreude auf das mobile Netz aus. In Japan entstand vor zehn Jahren der Handyroman. Man war früh online mit mobilen Geräten und auf der Suche nach Content. Es war ein Mann in den Vierzigern, mit dem jugendlich anmutenden Pseudonym »Yoshi«, der das Bedürfnis entdeckte und befriedigte. Ein beispielloser Siegeszug elektronischer, mobiler Literatur folgte. Handyliteratur ist in Japan zwar nicht mehr das beherrschende Thema, aber nach wie vor populär; schon sind in mehreren Ländern neue Bewegungen entstanden, die sich teils an der Tradition orientieren, teils eigene Wege gehen.

Yoshi hat seine Texte über seine Homepage zur Verfügung gestellt. Als dann etliche Mädchen anfingen, für andere Mädchen (und für Jungen und Erwachsene) zu schreiben, wurden professionelle mobile Produktions- und Vertriebsplattformen aufgebaut. Als die Handyromane boomten, sprangen die klassischen Verlage auf. Sie hatten die Entwicklung zuerst verschlafen und konnten trotzdem von ihr profitieren. In Österreich und Deutschland waren cosmoblonde (eine Berliner Agentur) und Blackbetty Mobilmedia (ein Wiener Unternehmen, das seine Anstrengungen nicht überlebt hat und liquidiert wurde) unter den Pionieren. Sie bauten Plattformen auf und nutzten Premium-SMS-Dienste. Die Handyromane und mobilen Bücher waren im deutschsprachigen Raum anfangs vor allem Java-Anwendungen, die man sich wie Klingeltöne, Logos und Videos herunterladen konnte. Für die Kids ein perfektes Abhol- und Abrechnungssystem. Durch iPhone und iPad sowie Kindle und andere Systeme und Geräte erhöhte sich der Druck, weitere Formate anzubieten und mit Dienstleistern wie Apple, Amazon, Vodafone und Thalia zu kooperieren. Handyromane und E-Books gibt es heute für viele Plattformen und in unterschiedlichen Formaten. Beliebt ist etwa ePub, das von Handys und Smartphones, aber auch von einigen E-Book-Readern verstanden wird. Handybücher geraten auf andere Geräte, so wie E-Books auf das Handy.

In Deutschland sind inzwischen ähnliche Plattformen wie in Japan entstanden. Benutzer erstellen Texte, die für Handys, Lesegeräte und Computer zur Verfügung stehen. Es handelt sich um User-generated Content, der im besten Fall hochwertige Literatur, im schlimmsten Fall Sprachmüll darstellt. Web-2.0-Prinzipien werden in verschiedener Hinsicht angewandt. Man produziert eben Literatur von unten; man schließt sich in Gruppen zusammen, wodurch im Extremfall sogar der Autor verschwindet; und man liest, kommentiert und bewertet sich gegenseitig.

Wir begrüßen grundsätzlich Entwicklungen, die Autorinnen und Autoren von Abhängigkeiten befreien, die solchen Talenten eine Veröffentlichung ermöglichen, denen der Zugang zu einem klassischen Verlag verschlossen wäre. Wir sehen aber auch, dass viele Leute schreiben, die nicht schreiben können – und dennoch wild entschlossen sind, das Geschriebene einer möglichst großen Öffentlichkeit zu präsentieren. Das Phänomen ist freilich nicht neu; nur haben sich bisher viele mit Produktionen im Eigenverlag und mit Einträgen in sozialen Netzwerken, mit Posts und Tweets begnügt. Nun schreiben sie Romane beziehungsweise Romanteile und Geschichten für ein potenziell großes Publikum. Die meisten sind dieser Herausforderung nicht gewachsen und scheitern in erzählerischer oder formaler Hinsicht. Auf diesen Makel dürfte sich der traditionelle Buchbetrieb stürzen, aber er sollte sich nicht zu früh freuen. Zum einen sind eben doch echte Talente dabei, die sonst keine Chance gehabt hätten. [Fn 2] Zum anderen verändert sich der Lesergeschmack, und zwar auch durch das Gelesene. Das kann man wiederum beklagen; zunächst einmal muss man es aber einfach konstatieren. Und man muss konstatieren, dass der Lesergeschmack schon seit zehn, zwanzig Jahren nicht mehr den Idealen von Literaturwissenschaftlern und -kritikern entspricht; man muss nur eine durchschnittliche Buchhandlung betreten oder sich die Bestsellerlisten anschauen. [Fn 3]

2. Die Situation in Japan

2.1 Warum Japan?

Warum ist der Blick nach Japan in diesem Zusammenhang gerechtfertigt, ja geboten? Japan ist bekannt für technische Innovationen und Computerspiele, vom Klassiker Walkman von Sony bis zu Nintendos Spielkonsole Wii. Gleichzeitig gilt das Land als führende Nation des mobilen Internets. In Japan wurde 1999 der weltweit erste Internetdienst für Handys eingeführt, der »I-mode« des Mobilfunkanbieters NTT DoCoMo (Joffe 2003: 74f.). Bis heute nutzen in keinem Land der Welt mehr Bürgerinnen und Bürger ihr Handy für mobile Dienste als in Japan. Im September 2010 waren es über 96 Millionen, gut 75 Prozent der Gesamtbevölkerung, in Deutschland dagegen nur 20 Prozent (vgl. Japanisches Statistikbüro 2011).

Die Japaner sind nicht nur ein lesendes Volk – bekanntlich wird in Japan mehr Papier für Manga als für Toilettenpapier benötigt. Sie sind auch ein schreibendes Volk. Zum Beispiel gibt es mehr Blogs auf Japanisch als in englischer Sprache (Coulmas 2008). In Japans größtem sozialem Netzwerk Mixi (http://mixi.jp) führt fast jeder zweite Benutzer ein Online-Tagebuch. Auch Twitter kann in Japan phänomenale Erfolge verbuchen. Platz 1 im Ranking »meistversendete Twitter-Nachrichten pro Sekunde« hält Japan laut Twitter zusammen mit den USA, und zwar im Kontext des Finales der FIFA-Frauen-Weltmeisterschaft 2011 in Deutschland. Mit nur einigen Tweets weniger folgen die Neujahrsgrüße für das Jahr 2011, diesmal rein in japanischer Hand (Frickel 2011).

Kurzum: Die japanische Medienaffinität ist enorm. Neue Medien beziehungsweise die damit verbundenen technischen Entwicklungen werden schnell angeeignet und dann von großen Teilen der Bevölkerung stark genutzt. Die vielen Blogs, Microblogs und sozialen Netzwerke zeigen vor allem eines: Das Bedürfnis, sich mitzuteilen, ist enorm. Hier versteckt sich ein Potenzial für neue textuelle Schöpfungen, für ein Aufeinandertreffen von schriftstellerischen Ambitionen, (mobilem) Internet und Wirtschaftsmärkten. Aber eben auch für jede Menge Daten- und Sprachmüll.

Japan ist keineswegs das einzige Land, in dem das Schreiben von unten eine immer größere Rolle gewinnt und elektronische Literatur ins Bewusstsein der Öffentlichkeit rückt. Es gilt zu bedenken, dass sich japanische Entwicklungen nicht eins zu eins auf andere Länder übertragen lassen: Kulturelle Eigenheiten führen zu unterschiedlichen Formen der Technikaneignung und Literaturproduktion. Einige Beispiele aus Japan zeigen trotzdem, wie durch das Wirken von Subkulturen, aber auch bekannten Autoren neue Literaturformate entstanden sind, die den klassischen japanischen Buchmarkt aufgemischt haben. Das kommt einem auch hierzulande bekannt vor. Bis zum heutigen Zeitpunkt zeigt sich jedoch kein klassischer Literaturmarkt aktiver darin, die neuen Märkte für sich zu erschließen, als der japanische.

2.2 Netzliteratur

Wie im deutschsprachigen Raum ist der Begriff »Netzliteratur« in Japan facettenreich, von »netto shôsetsu« (»Netz-Romane«) über das »onrainu noberu« (»Online-Novel«) bis hin zu »uebbu shôsetsu« (»Web-Romane«). Allgemein ist »Netzliteratur« jedoch ein Überbegriff für alles, was online und digital entstanden ist. Wenn es sich sowohl um online als auch offline entstandene, digital veröffentlichte Texte handelt, ist von »denshi shoseki« (»elektronische Literatur«) die Rede.

Der weltweit bekannteste Text der japanischen Netzliteratur ist »Densha otoko« (»Train Man/Der Bahnmann«, 2004) von Nakano Hitori. Das Buch basiert auf Auszügen aus einem Internetforum und ist durchgehend in Form eines Chatdialogs erzählt. Folglich existiert auch der Autor nicht – Nakano Hitori ist lediglich ein vom Verlag Shinchôsha erfundener fiktiver Urheber. Sein Name übersetzt sich mit »einer von vielen«. Dies soll zeigen, dass das Buch nicht einen Autor hat, sondern von der Masse der Chatnutzer verfasst wurde. Es handelt sich somit um ein kollaboratives Werk.

»Densha otoko« erzählt die angeblich wahre Geschichte eines begeisterten Anime- und Mangafans, eines sogenannten Otaku. Otakus werden in ihrer Umgebung häufig als Außenseiter der Gesellschaft betrachtet, weil sie zurückgezogen leben und sich ausschließlich ihrem exzessiv betriebenen Hobby widmen. Der Otaku verliebt sich in ein Mädchen aus gutem Hause, nachdem er es mit mehr Glück als Verstand in der Bahn vor einem Betrunkenen gerettet hat. Der Ort der Handlung ist ein realer: Japans größtes Forum 2chaneru (http://2ch.net). Der neue Nutzer Densha otoko, oder Bahnmann, holt sich dort bei anderen Mitgliedern Rat, wie er die Liebe seiner Angebeteten gewinnen kann. Am Ende verwandelt er sich vom Frosch zum Prinzen, Happy End inklusive.

Die »Geschichte des Bahnmanns« wurde in Form der Chateinträge von den Forumsnutzern im Internet verbreitet, wo das Skript zum Geheimtipp wurde. Das renommierte Verlagshaus Shinchôsa veröffentlichte das Skript schließlich 2004 als »Densha otoko«, belassen in seiner eigentümlichen Form. Bei der Umsetzung in die Printform wurde darauf geachtet, dass der Leser den Eindruck hat, er würde den Originalchat nachlesen. Er verfolgt die Geschichte des Train Man nicht über einen Fließtext, sondern allein über eine Aneinanderreihung von Beiträgen (»Postings«) der verschiedenen Forumsmitglieder. Für die chatsprachlichen Ausdrücke gibt es ein Glossar, ganze Seiten werden von sogenannter ASCII-Art – Piktogrammen und Grafiken basierend auf dem Schreibsatz der Computertastatur – ausgefüllt. Hat sich das lesende Auge daran gewöhnt, lässt sich der Text des Chats in beeindruckender Schnelligkeit verschlingen. Unklar bleibt am Ende, ob die Geschichte vom Bahnmann nun tatsächlich wahr ist, ob sie von 2chaneru erfunden wurde oder gar von Shinchôsha und 2chaneru zusammen. Auf jeden Fall wurde es ein Erfolgsprodukt: »Densha otoko« avancierte zum Bestseller. Es folgten eine Mangaadaption sowie Verfilmungen für Fernsehen und Kino. Eine deutsche Version des Buchs wurde 2007 unter dem Titel »Train Man« bei Carlsen veröffentlicht.

2.3 Handyromane, mobile Romane

Bereits kurz nach der Einführung des mobilen Internets wurden in Japan kostenpflichtige Seiten aufgeschaltet, die E-Books für die Lektüre anbieten, sogenannte »mobairu shôsetsu« (»mobile Romane« oder »Romane für das Handy«). Die Bezahlung erfolgt in der Regel im Abonnement für ein monatliches Entgelt von wenigen Euro, Einzeltitel können jedoch auch erworben werden. Diese Seiten gehören meist etablierten Verlagshäusern. Dort werden einerseits bereits in Buchform erschienene Werke als klassisches E-Book zweitverwertet. Andererseits wird auch Nachwuchsautoren die Chance geboten, ihre noch nicht publizierten Romane zu veröffentlichen. Beliebt ist die »Shinchô kêtai bunko« (»Die Shinchô-Handy-Kollektion«, http://www.jepa.or.jp/sm/siryositu/20021211.files/frame.html) des Verlags Shinchôsha. Größte Bekanntheit erreichte die Berufsschriftstellerin und Essayistin Naitoh Mica über dieses Portal. Ihre Geschichten kamen bei den täglich bis zu 15.000 Lesern so gut an, dass sie gedruckt wurden und ihrer Karriere nachhaltig zum Aufschwung verhalfen (Naitoh 2006: 187).

2007 erregte ein neues multimediales Genre aus Japan internationale Aufmerksamkeit, die sogenannten »Handyromane« (»kêtai shôsetsu«). Anlass dafür war Japans Bestsellerstatistik, die in diesem Jahr unter den Top 10 fünf Handyromane verzeichnete (vgl. Tohan 2007). Als Handyromane galten dabei Werke, die vor ihrer Veröffentlichung als gedrucktes Buch ausschließlich virtuell zur Lektüre am Handy verfügbar waren. Junge Menschen, mehrheitlich Frauen, waren hier zu Schriftstellerinnen des Virtuellen geworden: Sie hatten auf von Handyportalen betriebenen Seiten kostenlose Fortsetzungsgeschichten veröffentlicht. Deren Kunde verbreitete sich wiederum per Verlinkung und virtuellem Nachrichtenaustausch von Handybesitzerin zu Handybesitzerin in erstaunlichem Maße: Bald wandten sich die Betreiber der Handyseiten an Verlage, um dem Wunsch der Leser nach Buchveröffentlichungen nachzukommen. Handyromane sind demnach in Japan eine neue Variante eines User-generated Content.

Abb. 1: Ein japanischer Handyroman auf dem Smartphone-Display (Quelle: privat).

Abb. 1: Ein japanischer Handyroman auf dem Smartphone-Display (Quelle: privat).

Wie in der Einleitung angesprochen, erblickten Handyromane bereits Jahre vor ihrer internationalen Rezeption das Licht der Welt. Der Begriff selbst stammt aus dem Jahr 2001 und wird einem ehemaligen Geschäftsmann, bekannt unter dem Pseudonym »Yoshi«, zugeschrieben. Dieser hatte früh die Möglichkeiten des mobilen Internets erkannt und auf seiner Homepage die Fortsetzungsgeschichte »Deep Love« veröffentlicht. Darin erzählt er in dramatisch-anzüglicher Weise vom Mädchen Ayu, das sich prostituiert, aber eigentlich nur Liebe und Verständnis sucht. Seine Idee kam bei jungen Mädchen gut an, weil sie sich mit Ayu identifizieren konnten. Yoshi erhielt immer häufiger E-Mails mit persönlichen Schilderungen, deren Inhalte er wiederum in die Geschichte einwob. Yoshi produzierte »Deep Love« im Eigenverlag, der erste gedruckte Handyroman ging gut 10.000 Mal über die Ladentheke. 2002 kam es zu einer Veröffentlichung im Verlag Starts Publishing. Die vierbändige Serie stand bald darauf mit 2,7 Millionen verkauften Exemplaren drittplaziert auf der Bestsellerliste 2003 (vgl. Nanase 2006: 19-24).

Der erneute Boom von 2006 wurde jedoch von jungen Frauen ausgelöst und machte Handyromane zum Massenphänomen; die bekanntesten Titel sind »Koizora« (»Liebeshimmel«, 2006) und »Akai ito« (»Der rote Faden«, 2007). Die Mädchen nutzten das Medium Handy und tippten darüber Stück für Stück ihre Geschichten ein. Diese boten sie virtuell auf kostenlosen Handyportalen an, z.B. auf »Mahô no i-rando« (http://ip.tosp.co.jp). Dort kann man eine Homepage fürs Handy erstellen, ein Blog führen, aber auch ein Buch schreiben. Die Texte wurden begleitet von den Kommentaren und dem Feedback ihrer Leser. Charakteristische Merkmale dieser Hits waren: eine tragische, angeblich »auf wahren Begebenheiten basierende« Liebesgeschichte; verfasst von einer jungen Laienautorin; präsentiert in einer einfachen, der Handykommunikation entlehnten Ausdrucksweise mit hoher Dialogdichte und Emoticons (Smileys et cetera); einhergehend mit einem weitgehenden Fehlen eines klassischen, von Beschreibungen getragenen Erzählstils (Mauermann 2011: 240f.).

Die Erfolge dieser neuen Handyroman-Generation haben zu einer Diversifizierung des Genres in verschiedene Typen geführt: So reicht die Auswahl von der Liebes- über die Horror- und Detektivgeschichte bis hin zum Gedicht (auf Handylyrik wird im deutschsprachigen Kontext eingegangen). Längst sind neben jungen Laienautorinnen und -autoren auch Schriftstelleraspiranten und Berufsschriftsteller tätig. Klassiker der japanischen Literatur von Sôseki und Akutagawa werden im peppigen Handyroman-Format neu aufgelegt, um die junge Generation zu erreichen (Goma Books 2008). Und 2008 hat eine »Grande Dame« der Literatur, die buddhistische Nonne und Frauenliteratin Setouchi Jakuchô, mit 86 Jahren ihren ersten Handyroman verfasst: »Ashita no niji« (»Tomorrow’s rainbow«, 2008). Der Boom ist inzwischen abgeflaut. Heute erfreuen sich Handyromane in Japan dennoch großer Beliebtheit und haben sich im Literaturmarkt und in den Buchgeschäften als ein Genre der unterhaltenden Jugendliteratur etabliert.

Im Zuge der Kommerzialisierung zeichnet sich ein Trend zur Kostenpflichtigkeit ab. Es entstehen eigene Bezahlportale für Handyromane, und immer mehr Handyromane werden statt als gedrucktes Buch, gleich als E-Books gegen Entgelt angeboten. Diese können dann nicht mehr kostenlos online gelesen werden. Ein Beispiel für diese Strategie ist die Seite »Mahô no toshokan plus«, ein Ableger des bekannten Handyportals »Mahô no i-rando«, auf dem E-Books und sogar »kêtai dorama« (»Handy-Fernsehserien«) gegen Gebühr zum Download angeboten werden. Hier begibt sich der Literaturmarkt in Gefahr, den Ast abzusägen, auf dem er sitzt.

2.4 Elektronische Tagebuchliteratur, digitale Manga

Das öffentliche Tagebuchschreiben hat eine lange Tradition in Japan, die Kopfkissenbücher der Hofdamen Sei Shonagon und Murasaki Shikibu sind weltweit bekannt. Nun, da in Japan viel gebloggt wird, wird von Literaturkritikern wieder die Frage gestellt, ob dies nicht eine Form der Tagebuchliteratur sei. Genauso bei Handyromanen. Es gehe ja um den Ausdruck der eigenen Befindlichkeit, um den Wunsch, gehört zu werden, Feedback zu erhalten. 2005 wurden Tagebücher, die in Japans größtem sozialem Netzwerk Mixi zu lesen waren, erstmals in gedruckte Bücher umgesetzt. Die autobiographische Liebesgeschichte »59-banme no puropôzu« (»Der 59. Heiratsantrag«) wurde zum Bestseller. Die Diskussion scheint damit beendet zu sein – elektronische Tagebuchliteratur gibt es nun ganz offiziell.

Digitale Manga (»denshi kommiku«), auch E-Manga genannt, erfreuen sich freilich wie der gedruckte Manga größter Beliebtheit. Nicht einmal Handyromane werden so viel am Handy gelesen wie Manga. Der Datenträger kann jedoch genauso gut eine portable Playstation, ein Nintendo DS oder ein anderes Endgerät sein. Das Besondere an E-Manga ist, dass sie teilweise aufwendig koloriert und so anders als gedruckte Manga in Farbe präsentiert werden. Es zeigen sich Parallelen zum Handyroman-Markt: Es gibt zahlreiche kostenlose Angebote noch unveröffentlichter Werke von Newcomern und auch Adaptionen bekannter Serien von Amateurzeichnern, sogenannte »dôjinshi«. Wieder andere sind offizielle E-Manga-Varianten populärer Serien wie Naruto oder One Piece, die von den Verlagen gesteuert werden. Auch hier offenbart sich die Verknüpfung zwischen Internetszene und Verlagen.

2.5 Die Rolle von Japans Literaten

Schreiben von unten heißt vor allem, eigene Wege zu gehen, vorbei am klassischen Literaturbetrieb. Aktiv zeigen sich hierbei auch bekannte japanische Autoren. Da sind die einen, die sich zuerst online einen Namen machten und dann mit den bedeutenden japanischen Literaturpreisen ausgezeichnet wurden. Im Januar 2008 wurde Kawakami Mieko für ihr drittes Buch »Chichi to ran« (»Brust und Ei«) mit dem höchsten japanischen Literaturpreis, dem Akutagawa-Preis, geehrt. Kawakami, vormals Sängerin, hatte ihre schriftstellerische Karriere 2003 mit einem Blog begonnen, aus dessen Inhalt ihr erstes Buch entstanden war. Durch die Preisverleihung stieg sie in den Rang der Autoren »hoher Literatur« auf und ist heute eine allgemein anerkannte Schriftstellerin. Die Bestsellerautorin Taguchi Randy fand ihren Zugang zur Literatur ebenfalls über das Internet. Dort schrieb sie in Essays offen über ihre eigene funktionsgestörte Familie – der Vater Alkoholiker, die Mutter überfordert, der Bruder ein zurückgezogener Einsiedler. Ihre Texte, die die japanische Gesellschaft durchleuchten, fanden viel Resonanz. Sicherlich auch, weil sie großes Identifikationspotenzial bieten. 70.000 Leser pro Woche brachten Randy den Titel »queen of the e-mail magazine« ein, ihr Erfolg auf dem Buchmarkt hält bis heute an (Gebhardt 2011: 65-68).

Eine andere Vorgehensweise wählte Murakami Ryû. Der weltweit bekannte Autor (»Topaz«, »In der Misosuppe«) gewann 1976 selbst den Akutagawa-Preis und ist seit Jahren Mitglied in dessen Auswahlkomitee. Sein Name steht für hochwertige japanische Literatur. Mit seinem neuesten Roman »Utau kujira« brüskierte er jedoch die Verlagswelt. 2010 wurde das Werk als exklusive iPad-Ausgabe angekündigt, zudem multimedial angelegt mit eingefügten Videos und einer Hintergrundmusik des berühmten Komponisten Sakamoto Ryûichi (Gebhardt 2011: 348f.). Eine Printausgabe erschien erst nach der iPad-Version. Die Sorge des klassischen Literaturbetriebs war jedoch unbegründet: Die Printversion wurde zum Bestseller. Bald sprach man von einer gelungenen Strategie, an einem Titel doppelt zu verdienen. Wie bei den Handyromanen zeigte sich: Eine digitale Version eines Buchs bedeutet keineswegs das Aus für das traditionelle Produkt. Es eröffnet vielmehr neue Perspektiven.

2.6 Die Media-Mix-Strategie der japanischen Verlage

Unter dem Überbegriff »denshi shoseki« werden in Japan alle Formen elektronischer Literatur zusammengefasst, von Handyromanen über E-Books und Internetromane bis hin zu E-Manga. Die folgende Grafik zeigt die Entwicklung des Marktvolumens von 2002 bis 2009. Sie trennt elektronische Literatur in drei Bereiche: elektronische Literatur, die für den PC bestimmt ist (der oberste Block); elektronische Literatur, die auf den Konsum am Handy ausgerichtet ist (der zweite Block, seit 2006 der größte); und elektronische Literatur, die über neue Plattformen angeboten wird (neu seit 2009, an unterster Stelle).

Abb. 2: Entwicklung des Marktes für elektronische Literatur in Japan (Quelle: Untersuchungsbericht zu elektronischer Literatur 2010, Impress R&D 2010: 43f.).

Abb. 2: Entwicklung des Marktes für elektronische Literatur in Japan (Quelle: Untersuchungsbericht zu elektronischer Literatur 2010, Impress R&D 2010: 43f.).

Es zeigt sich deutlich, dass E-Literatur für den PC bis 2006 moderat gestiegen ist, seitdem jedoch einen Abwärtstrend durchläuft. Hingegen ist der Markt für E-Literatur für das Handy, allen voran E-Manga und Handyromane, von 2005 auf 2006 sprunghaft angestiegen. Dieser Trend setzt sich fort, 2009 lag der Wert bei 57,4 Milliarden Yen, also circa 442 Millionen Euro beziehungsweise 509 Millionen Schweizer Franken (Impress R&D 2010: 43f.).

Die japanische Außenhandelsorganisation JETRO berichtet in unregelmäßigen Abständen zum Verlagswesen in Japan. Bereits 2005 heißt es:

In 2004, Japan’s publishing industry reversed course to show an increase in book sales (…) the emergence of the Internet has spawned new forms and channels of publishing. (JETRO 2005: 1)

Der JETRO-Report von 2006 kommt in Bezug auf die steigende Anzahl elektronischer Werke zum Ergebnis, dass das Internet einen größer werdenden Einfluss auf den Literaturmarkt ausübt. Ein Kennzeichen elektronischer Literatur sei, dass die Autoren anonym blieben, wie im Falle von »Densha otoko«. Zur gleichen Zeit setzen sich das »Research Institute for Publications« (»Shuppan Kagaku Kenkyûjo«), die »Japan Book Publishers Association« (»JBPA, Nihon Shoseki Shuppan Kyôkai«) und – speziell in Bezug auf den elektronischen Markt – »Impress R&D« mit den neuen Entwicklungen auseinander. Der japanische Literaturbetrieb zeigt sich sehr aktiv darin, neue Formate und Inhalte festzuhalten, zu bewerten, zu kommunizieren – und zu benutzen.

Branchenübergreifend vertraut man immer stärker einer Vermarktungsstrategie, die in Japan »Media-Mix« (»media mikkusu«) genannt wird. Hier geht es um eine gezielte Verwertungskette, eine Vermarktung eines Inhalts über verschiedene Medien. Ein populärer Inhalt, zum Beispiel ein Manga, geht folglich in der Regel mit einer Adaption als Anime- oder realer Kinofilm und als Computer- beziehungsweise Handyspiel einher. Dies trifft auf alle hier genannten Titel zu, auf »Densha otoko«, »Deep Love«, »Koizora«, »59-banme no puropôzu« sowie die Romane von Murakami Ryû und anderen. Oft ist den Konsumenten nicht mehr bewusst, ob ein Produkt ursprünglich ein Manga war – oder doch ein Roman beziehungsweise eine Fernsehserie.

Für den »Media-Mix« eröffnen sich im Mobile Business wiederum ungeahnte Möglichkeiten. Ein bekannter Stoff kann für das Handy neu aufbereitet werden als E-Manga oder Handy-Fernsehserie. Umgekehrt kann ein originärer Handyinhalt, man denke an die Handyromane, zum Kinofilm, zur Fernsehserie oder zur Mangareihe werden. Das Beispiel Handyromane zeigt eine weitere Marketingmöglichkeit auf: Hier geschieht die Werbung kostenlos und quasi von selbst über die virtuell frei verfügbaren Texte und über die Mundpropaganda der Fans. So kann man über die Rankings auf Handyroman-Portalen die beliebtesten Titel bestimmen und diese mit vergleichsweise geringem Risiko zur Weiterverwertung herausgreifen.

3. Die Entwicklung im deutschsprachigen Raum

3.1 Netzliteratur

Netzliteratur hat, wie im Kapitel über Japan deutlich wurde, viele Facetten und Richtungen. Die Beschäftigung mit Hypertexten gehört dazu, das Experimentieren mit multimedialen Möglichkeiten – und auch Chats und Spielewelten können als Ausgangspunkt dienen. Vielleicht ist Second Life eine gigantische kollaborative Erzählung, und man sollte sich die Plattform unter diesem Gesichtspunkt ansehen? Literatur vermischt sich mit Kommunikation, Kunst, Kommerz. Einen Einstiegspunkt stellt die Website http://www.netzliteratur.net dar. Dort sind auch sieben Thesen zur Netzliteratur zu lesen, denen Johannes Auer jeweils zustimmt oder widerspricht. [Fn 4]

Ein wenig beachtetes Projekt der Netzliteratur stammt ausgerechnet von Elfriede Jelinek. Ausgerechnet, denn schließlich ist sie eine Berühmtheit und hat 2004 den Nobelpreis für Literatur erhalten. Ihre Netzliteratur wird aber eher belächelt, so wie man Netzliteratur bei uns meistens nicht ernst nimmt. Das ist ein Fehler, nicht nur bei der österreichischen Autorin, sondern auch allgemein. Die Website, deren Design sich seit den 90er-Jahren wenig verändert hat, zählt immerhin circa eine Million Besucher insgesamt. Das verrät ein altertümlich wirkender Counter am linken Rand. Wenn das Projekt von Jelinek etwas demonstriert, dann das, dass sie frei ist von kommerziellen und »literaturbetrieblichen« Zwängen. Sie muss sich nach niemandem richten außer nach sich selbst. Sie hat sich spätestens mit ihrer Prosa auf ihrer Website freigeschwommen (gehört aber freilich bereits von Anfang an zur Avantgarde, etwa mit ihrem Roman »wir sind lockvögel baby!« von 1970).

3.2 Computerlyrik, Twitter-Lyrik, Handyhaikus

Ähnliches lässt sich in der Lyrik beobachten. Hier haben sich viele freigeschwommen. Sie haben eine Plattform gefunden. Endlich wird Lyrik – in Japan schon vor dem Boom im Elektronischen eine die Massen begeisternde Gattung – im deutschsprachigen Raum massenhaft veröffentlicht und auch massenhaft gelesen, was nicht zuletzt die Benutzerzahlen und die Posts und Kommentare auf den einschlägigen Plattformen zeigen. Das Internet ist zur Heimat des Gedichts geworden. Da man mit Lyrik eh nichts verdient, muss man nicht einmal über diesen Vertriebskanal jammern; Hans Magnus Enzensberger hält es gar für eine Befreiung, dass Lyrik kommerziell kaum verwertbar ist. [Fn 5] Wir können die Lyrik hier nur am Rande erwähnen, aber sie gehört zum Kontext der Literatur von unten. Die Computerlyrik, die bereits vor Jahrzehnten von einigen wenigen Experten und ihren Maschinen generiert wurde, möchten wir ausklammern.

Eine spezielle Form hat sich erst vor wenigen Jahren entwickelt. Twitter-Lyrik ist Lyrik, die über Twitter oder andere Microblogs beziehungsweise Kurznachrichtendienste verbreitet und gelesen wird. Sie ist damit Kurzlyrik und darf nur bis zu 140 Zeichen umfassen, es sei denn, man kombiniert mehrere Tweets. Es gibt einen Preis für Twitter-Lyrik (Informationen über http://www.twitter-lyrik.de) und im deutschsprachigen Raum – wo Twitter überhaupt (wie in Japan) eine wichtige Rolle spielt – eine aktive Szene. Man kann auf ein getwittertes Gedicht reagieren, indem man es retweetet oder auf es antwortet, eher prosaisch oder eher lyrisch. SalonSimone ist eine der vielen bemerkenswerten Dichterinnen und Dichter bei Twitter; in ihrem bürgerlichen Leben heißt sie Dr. Simone Kremsberger und arbeitet beim Büchereiverband Österreichs.

Seit zwei Jahren gibt es sogenannte Handyhaikus (s. http://www.handyhaiku.net). Haikus sind Kurzgedichte, die aus Japan stammen. In der deutschen Sprache umfassen sie bis zu 17 Silben, die meist in drei Abschnitten angeordnet sind. Japanische Tradition trifft auf europäische Interpretation – und neue Medien und Kanäle. Die Handyhaikus werden seit 2009 in Projekten von Oliver Bendel entwickelt. Es sind Haikus für das Handy, manchmal auch über das Handy; sie stehen als Handyanwendungen zur Verfügung, oder in gedruckten, mit QR-Codes angereicherten Büchern (das Buch »handyhaiku« von Anfang 2010 ist Ende 2011 im Hamburger Haiku Verlag in der zweiten Auflage erschienen). Die Idee, Haikus in zweidimensionale Codes zu stecken, hat inzwischen einige Anhänger gefunden, und auf http://www.haiku.de wurde eine Werkstatt zu dieser Disziplin eröffnet. Über einen Anbieter in der Schweiz namens Artmafia konnte man Haikus auch jahrelang als Klingeltöne und als Logos downloaden – bis die Initiative mehrerer Künstler im Sommer 2011 aufgab.

Erwähnenswert ist noch das Projekt lyrikline.org (http://lyrikline.org), das nach eigener Aussage zeitgenössische Poesie präsentiert, multimedial als Originaltext, in Übersetzungen und von der Autorin oder vom Autor in Originalsprache gesprochen. Keine Literatur der neuen Medien, aber Literatur, die über neue Medien verbreitet wird – und dank der Originalstimmen zu einem Hörerlebnis wird.

3.3 E-Books und Handyromane

E-Books sind nach hiesigem Verständnis elektronische Bücher, die sowohl im klassischen Internet und Web als auch in mobilen Shops zu finden sind. Sie können auf Computern, auf Tablets, auf E-Book-Readern und auf Handys und Smartphones gelesen werden. Schon früh wurden im deutschsprachigen Raum Klassiker für mobile Geräte zur Verfügung gestellt, etwa die Texte aus dem Gutenberg-Projekt durch die cosmoblonde GmbH. E-Book-Plattformen wie die der ciando GmbH sind seit Jahren in Betrieb. BoD und Lulu erlauben inzwischen auch elektronische Bücher. Und Amazon ist mit dem Kindle-Shop seit Frühjahr 2011 im deutschsprachigen Raum präsent. Autorinnen und Autoren werden ermuntert, eigene Bücher direkt über die Plattform zu produzieren und zu vertreiben; die Preise können sie selbst festlegen, wobei es einige Restriktionen gibt. Amazon baut sich zugleich als klassischer Verlag auf und wird vielen Autoren eine auf sie und ihre Wünsche und Interessen zugeschnittene Heimat sein; zudem könnte dadurch die im Kapitel zur Situation in Japan angesprochene doppelte Vermarktung Realität werden.

Unternehmen und Interessengruppen in der Schweiz haben lange gemauert, bis Thalia und andere sich vorgewagt haben und seitdem in ihren Shops nicht nur E-Books, sondern auch genuine Handyliteratur wie Handyromane anbieten. Das wiederum hat auch zu tun mit dem angedeuteten Wechsel bei den Formaten, etwa der Ausbreitung von ePub. Ein Java-Buch kann nicht ohne weiteres auf einem normalen Computer und gar nicht auf einem iPhone gelesen werden (Apple erlaubt aus marktstrategischen und anderen Gründen weder Java noch Flash). Dank ePub ist aber das Lesen auf mehreren Gerätetypen möglich. Auch in Deutschland gab es anfänglich Widerstände gegen E-Books, und sogar Forschungsprojekte wurden von der Lobby boykottiert, wie der Co-Autor am eigenen Leib erfahren musste.

Im deutschsprachigen Raum entwickelte sich seit 2007 eine Handyroman-Szene (siehe http://www.handyroman.net). Es waren dort wie in Japan eher gestandene Männer, die die Initiative ergriffen. Diese waren allerdings, im Gegensatz zu den Anfängen in Japan, auch gestandene Schriftsteller. Und wie in Japan wird die zweite Welle von jungen Autorinnen und Autoren geprägt. Oliver Bendel schrieb von 2007 bis 2011 Handyromane und lancierte zwei Serien und einen Einzelroman; die Bücher waren (nach einem Testlauf mit einem PDF für eine Social-Network-Gruppe) von Anfang an kostenpflichtig, wobei manche illegal zum kostenlosen Download bereitstanden. Der Schriftsteller verglich seine Romane mit Eisenskulpturen und verwies darauf, dass die Werke mit ihren zahlreichen aktuellen Verweisen schnell »rosten« würden – und dass neben den Produkten auch Herstellung, Vertrieb und Verarbeitung zu berücksichtigen seien: Handyliteratur als Aktionskunst. Seine Projekte wurden von den Medien viel beachtet und in mehreren universitären Abschlussarbeiten sowie in Fachartikeln und -büchern thematisiert. Das ZDF hat einen Film über seine Lucy-Luder-Serie gebracht, das Schweizer Fernsehen einen Film über seine Initiierung der Mundart-Handyromane (Schweizer Fernsehen 2010 und ZDF Online 2009). Der erste Handyroman dieser Ausprägung wurde von einer jungen Luzernerin in ihrer regionalen Mundart geschrieben. Bendel ging von einem experimentellen Ansatz aus und arbeitete punktuell mit dem Cabaret Voltaire in Zürich, dem Geburtshaus des Dadaismus, zusammen, etwa um Product-Placement-Ansätze zu verwirklichen (Wyss 2010). Wolfgang Hohlbein, ein bekannter deutscher Fantasyautor, schreibt seit 2009 Handyromane. Mit »WYRM« verfolgt er einen interaktiven Ansatz; der Leser soll Einfluss auf den Fortgang der Geschichte nehmen.

Erwähnt werden müssen noch die drei Anthologien, die 2001 aus dem Literaturwettbewerb »160 Zeichen« hervorgingen und im Uzzi Verlag erschienen sind. Der innovative Herausgeber wollte der »Kultur der Kurznachricht« Rechnung tragen. Über 8.200 Beiträge waren in den drei Kategorien »Liebe«, »Literatur« und »Spaß« abgegeben worden, darunter etliche hochkarätige. Das Werk (»160 Zeichen Liebe« et cetera) wurde kaum beachtet, der Verlag (oder zumindest die Website) aufgelöst; es hatte damals eben Konsequenzen, wenn die Literaturkritik nicht reagierte und die Literaturwissenschaft schlief.

3.4 Die Verbindung von Multimedia und Literatur

Interaktivität und Multimedialität werden die neue Literatur auch im deutschsprachigen Raum mehr und mehr bestimmen, und zwar von Handyliteratur wie von E-Books (Stichwort »Enhanced E-Books« oder »Enriched E-Books«) überhaupt, wie die noch zu behandelnden Plattformen und die Vorstellungen auf den letzten großen Buchmessen in Deutschland zeigen. Der Leser votet für oder gegen Bücher, aber auch für oder gegen den Fortgang einer Geschichte. Er setzt über seine Anwendung Feedback an den Verlag oder an den Autor ab. Er kommentiert und »rezensiert«, und in manchen Büchern kann man diese Ergänzungen am Rand oder in einer besonderen Rubrik lesen. Texte werden verbunden mit Bildern (was natürlich keine neue Erscheinungsform ist) und mit Animationen und Videos. Manche Agenturen und Verlage denken auch die Verbindung mit Tönen und Musik an. Man kann sich als Leser Wörter vorsprechen lassen, etwa fremdsprachliche, oder dem Gesang der Vögel respektive dem Gebrumm der Bären lauschen. Musik wird zur Verstärkung der emotionalen Wirkung eingesetzt, sozusagen nach japanischem Vorbild (und nach amerikanischem, wenn man an das Unternehmen Booktrack und seine Projekte denkt, siehe http://www.booktrack.com); wenn ein Paar sich küsst, schluchzen die Geigen. Das muss man nicht mögen, und man kann einwenden, dass die Autonomie der Literatur darunter leidet. Auf jeden Fall werden Literatur-Mashups generiert, die des einen Freud (oder auch Gewinn) und des anderen Leid sind. [Fn 6] Und was manche bei der Netzliteratur noch als konstituierendes Merkmal des Genres verstanden haben, ist ganz selbstverständlich in Romanen und Fachbüchern vorhanden, die etwa in der »Kindle Edition« von Amazon veröffentlicht werden.

Elektronische Bücher können auch viel schneller produziert und auf den Markt geworfen werden. Wenn heute Außerordentliches geschieht, wie die Katastrophe in Fukushima, kann in zehn Tagen ein Buch dazu erhältlich sein. Die Qualität wird nicht in allen Fällen überzeugen; aber wenn bereits vorgesorgt wurde und man im Team oder Kollektiv arbeitet, ist ein gewisses Niveau nicht auszuschließen. Auch die Schwelle für Dokumentationen und Sammelbände sinkt. Oliver Bendel ließ seine Heldin Lucy Luder aka Lulu ein halbes Jahr lang twittern. Das virtuelle Gezwitscher erweiterte den fiktionalen Raum, schrieb Lulus Geschichten fort und um, nahm Bekanntes auf, führte Unbekanntes ein. Immer wieder drängte der Autor seine Heldin beiseite, gefährdete sie in ihrer Identität und Existenz. Lucy schrieb, dichtete, phantasierte, jubelte, wütete. Und schließlich erschien im August 2011 (unmittelbar nach dem letzten Tweet und als Abschluss des ganzen literarischen Experiments) in der »Kindle Edition« das Buch »Blondinengezwitscher« mit den 2.000 Tweets, die innerhalb eines halben Jahres abgesetzt worden waren, mit hunderten aktiven Links, die der Leser als Sprungbrett benutzen kann. Damit nehmen E-Books auch Aspekte der Netzliteratur auf, werden zum Hypertext, der auf andere Hypertexte verweist.

Abb. 3: Die twitternde Handyroman-Heldin (Quelle: »Blondinengezwitscher« von Oliver Bendel).

Abb. 3: Die twitternde Handyroman-Heldin (Quelle: »Blondinengezwitscher« von Oliver Bendel).

3.5 Beispiele für Plattformen

Derzeit schießen Plattformen aus dem Boden, die die Produktion und den Vertrieb von Literatur ermöglichen, von Handyliteratur und von E-Books; viele der Bücher sind kostenlos erhältlich. Es sind junge Menschen, die das Angebot annehmen, aber auch ältere, die es bisher nicht in einen Verlag geschafft oder es erst gar nicht versucht haben. Neben etablierten Anbietern wie BoD, Lulu und Amazon finden sich Angebote, die rege von unten bedient werden, etwa BookRix (http://www.bookrix.de), wo man sich als Buch-Community bezeichnet – das Buch soll also keinesfalls abgeschafft, sondern eher in der Gemeinschaft neu definiert werden. Ein anderes Beispiel ist XinXii (http://www.xinxii.com); in fehlerhaftem Deutsch ist die Selbstbeschreibung verfasst: Man sei »Europa’s führender Online-Shop für eBooks von Indie Autoren und Selbstverlegern«. Beide Plattformen führen zahlreiche Titel, und es ist nicht möglich, jeden einzelnen unter die Lupe zu nehmen. Stichproben führten zum einen zu spannender, innovativer Literatur, zum anderen zu Literatur, die diesen Namen nicht verdient. Allein schon formal sind manche (Mach-)Werke desaströs. Zwischen Selbst- und Fremdeinschätzung tut sich ein Graben auf, in den ganze Bibliotheken passen dürften.

3.6 Bibliotheken

Die Bibliotheken reagieren zögerlich auf die nichtwissenschaftliche elektronische Literatur. Dabei waren manche von ihnen Vorreiter im Digitalen, schon wegen der Online-Kataloge und der erkannten Notwendigkeit, das Internet einbeziehen zu müssen. Die Universitätsbibliothek Konstanz ist ein leuchtendes Beispiel in dieser Hinsicht (und wird auch als Leuchtturmbibliothek bezeichnet). Von der mobilen Literatur im engeren Sinne sind die Bibliotheken offensichtlich eiskalt erwischt worden. Es wurde spät festgestellt, dass es sie überhaupt gibt. Man stand ratlos vor den Formaten und Formen. Im besten Falle wurden Referenten zu Tagungen eingeladen und angehört, dann wurde ein wenig diskutiert, anschließend wurde die Sache vergessen oder verdrängt. Dass die Literatur zu einem guten Teil von unten kommt, macht die Sache nicht einfacher, erschwert die Entscheidung bei der Beschaffung, die Einschätzung der Relevanz. Dass der Autor manchmal nicht mehr erkennbar ist und es nicht allein um das Endergebnis geht, verwirrt nicht nur die Buchexperten. Und dass oft auf eine ISBN verzichtet und häufig eine Neuauflage nicht als solche gekennzeichnet wird, bringt die Bibliothekarinnen und Bibliothekare an den Rand der Verzweiflung. Zudem müssen sie sich mit alternativen Systemen auseinandersetzen. Wie schon bei Websites und bei Social Media taggen die Produzenten ihre Werke selbst; vorbei sind die Zeiten der festen Verschlagwortung. Und Amazon brachte mit der ASIN (Amazon Standard Identification Number) ein eigenes Identifikationssystem auf den Markt.

3.7 E-Books und E-Learning

Aber nochmals zurück zu den Plattformen und ihren Möglichkeiten. Es ist ja nicht so, dass dort nur mäßig begabte Romanciers und Lyriker zu finden wären, die die Chance ihrer Entdeckung wittern. E-Books bieten, auch im deutschsprachigen Raum, noch ganz andere Optionen. Eine davon ist die Verbindung mit E-Learning. Man liest einen Roman oder ein Fachbuch, klickt auf ein Wort und erhält dieses übersetzt oder vorgesprochen. Beispiele für solche Bücher und Anwendungen gibt es bereits. In der Regel wird ein Anbieter mit entsprechendem Know-how den Mehrwert schaffen. Es ist aber auch denkbar – immerhin hat das Online-Wörterbuch Leo teilweise diesen Ursprung –, dass man sich User-generated Content zunutze macht. Ein ganz anderes Szenario: Heutzutage sind Lerntagebücher und E-Portfolios verbreitet. In der Regel werden diese über Webplattformen erfasst und in entsprechenden Strukturen angelegt. Was, wenn die Lernenden einfach ihre eigenen Bücher schreiben? Die alles enthalten, was sie wissen müssen, mitsamt den Texten, Bildern, Videos? Was, wenn die Lernenden solche Bücher zusammen schreiben, sich korrigieren, miteinander diskutieren; und dieses Buch dann an andere Lernende weitergegeben wird, die es kritisch durcharbeiten, ergänzen und fortführen? Was, wenn dieses Buch einmal so gut wird, dass es auf den Markt kommt, bei regelmäßiger Aktualisierung? Ähnlich wie bei Wikipedia, aber mit dem Vorteil kleiner, konzentrierter Gruppen, in denen man sich auf die Bedeutung von Begriffen einigen kann? Wenn die E-Books multimedial und hypertextuell wie das WWW werden, treten vergleichbare Gefahren und Probleme auf, die und anderem mit der Ablenkung und mit der fehlenden Linearität zusammenhängen.

4. Fazit

Die Beispiele Japan und Deutschland zeigen, wie facettenreich elektronische Literatur ist. Das klassische Verständnis von Autor, Leser und Verlag ist aufgeweicht worden. Der Literaturbegriff hat wieder einmal neue Bedeutungsebenen dazugewonnen. Das Schreiben von unten ermöglicht erfolgsversprechenden Autoren den Aufstieg in den literarischen Zirkel, wie der Fall der Japanerin Kawakami Mieko gezeigt hat, und führt zu neuen Literaturgattungen und -genres wie den Handyromanen oder der Handylyrik. Gleichzeitig ist Vorsicht geboten: Das Schreiben im Internet und das Publizieren im Eigenverlag entzieht sich einer Qualitätssicherung und Katalogisierung, wie sie im Literaturbetrieb bislang durchgeführt wurde – durch Lektoren oder Bibliothekare. [Fn 7]

»Densha otoko«, »Koizora« und Co machen deutlich: Durch das Schreiben 2.0 (und das Schreiben 1.0 in seinen innovativen Formen) können sich positive Effekte für alle Beteiligten ergeben – vom Autor über den Leser bis hin zum Verleger beziehungsweise Betreiber. Deshalb sollten neue Formen, Inhalte und Plattformen trotz ihrer Fülle und der qualitativen Unterschiede nicht ignoriert werden. Am wenigsten vom klassischen Literaturbetrieb, denn die Erfolge von Handyromanen in Japan oder von multimedial angereicherten Texten für das iPad lassen Zweifel am Vertrauen der Leserinnen und Leser an den althergebrachten Institutionen aufkommen.

Eine zentrale Aufgabe ist es nun, aktuelle Entwicklungen nicht nur zu beobachten und zu kommentieren, sondern auch die verschiedenen Formen von elektronischer Literatur zu kategorisieren. Dringend notwendig ist ein verbindlicher Begriffskanon. An dieser Stelle ist auf Mario Andreotti zu verweisen, der bereits in vier Auflagen die »Struktur der modernen Literatur« erörtert, sich auch jüngsten Strömungen nicht verschlossen und sein Glossar stets um neue Begriffe erweitert hat, vom E-Book bis zum Handyroman (Andreotti 2009). Eine fünfte Auflage steht bevor, und wieder wird der Handyliteratur ein wenig Platz eingeräumt. Von Johanna Mauermann ist mit »Handyromane: Ein Lesephänomen aus Japan« ein wissenschaftlicher Band erschienen, der auch auf die weltweite Verbreitung des Genres eingeht (Mauermann 2011). Oliver Bendel erörtert Aspekte der elektronischen Avantgarde in Artikeln und Posts und engagierte sich auch als Schriftsteller in diesem Bereich. Es ist ein erklärtes Ziel der beiden Verfasser, sich auch in Zukunft mit Netz-, Blog- und Handyliteratur befassen. Und mit dem, was erst noch entsteht.


Fußnoten

[1] »Zettels Traum« ist in vielen verschiedenen Ausgaben erschienen, auch unter dem Titel »Zettel’s Traum«. Arno Schmidts (orthografisch falsche) Originalschreibweise war »ZETTEL’S TRAUM«). [zurück]

[2] Dies zeigt die Entwicklung in Japan, aber auch in den deutschsprachigen Ländern. So hat Rahel Röthlins Mundart-Handyroman »S’Wundär vo Luzärn« bereits bei der Produktion die Aufmerksamkeit der Medien erregt (Schweizer Fernsehen 2010). [zurück]

[3] Trivialliteratur nimmt inzwischen auch in gehobenen Buchhandlungen eine prominente Stellung ein; zudem sind esoterische Bücher auf dem Vormarsch und befriedigen einen fragwürdigen Publikumsgeschmack. [zurück]

[4] Die Thesen können direkt über http://www.netzliteratur.net/thesen.htm aufgerufen werden. [zurück]

[5] Dies merkte er etwa in einer Diskussion mit dem Zürcher Philosophieprofessor Georg Kohler am 26. Juni 2011 im Schauspielhaus Zürich an, bei der der Co-Autor anwesend war. [zurück]

[6] Mashup (englisch »to mash« für »mischen«) ist das Erstellen neuer Inhalte durch die Kombination bereits bestehender, vor allem im Kontext des Web 2.0. Texte, Bilder, Töne und Videos werden mit Hilfe von offenen Programmierschnittstellen zusammengefügt. Häufig kombiniert man geografische Daten mit Bildern und Texten. Beispielsweise legt man auf einen Stadtplan oder eine Landkarte verlinkte Icons, die zu Reisetagebucheinträgen führen, oder man kommentiert Einrichtungen und Personen einer Region. [zurück]

[7] Freilich gibt es neue Formen, die zum Teil funktionieren, zum Teil »kollabieren« – etwa durch die Masse der sie missbrauchenden Nutzer. [zurück]


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Oliver Bendel, Prof. Dr., Fachhochschule Nordwestschweiz FHNW, Hochschule für Wirtschaft, Brugg, Institut für Wirtschaftsinformatik, Leiter Kompetenzschwerpunkt Digital Innovation & Learning (DIL), http://www.fhnw.ch/iwi