Aus heutiger Sicht erscheint Studieren ohne omnipräsente Rechenmaschine als mühsam – Exzerpte per Hand, Haus- und Abschlussarbeiten auf der Schreibmaschine schreiben, Notizen aus Seminar und Vorlesung in Ordnern sortieren, das Gedächtnis nicht auf Festplatten auslagern, Fachzeitschriften in der Bibliothek der Wahl lesen. Betrachtet man die (urheber-) rechtlichen Dimensionen, schienen die noch in den 1990er Jahren dominierenden papierbasierten Vervielfältigungsvorgänge für die einzelne StudentIn vergleichsweise unproblematisch. Ganz im Gegensatz zum derzeitigen Stand.
Die häufig beschworenen „digitalen Eingeborenen” können es mitunter nicht mehr hören; wer sich näher mit dem Urheberrecht beschäftigt, kommt jedoch um die folgende Feststellung nicht herum: Computer als nahezu perfekte Kopiermaschinen und das Internet als Kommunikationskanal, der die Zeit nicht nur PhysikerInnen relativ erscheinen lässt, haben die technischen Bedingungen für die Vervielfältigung und Weitergabe von urheberrechtlich geschützten Werken tiefgreifend und sicher auch irreversibel verändert. Die rechtlichen Bedingungen jedoch bisher kaum. Immerhin rückte das Thema Urheberrecht in den letzten Jahren und Tagen immer mehr ins Zentrum der Aufmerksamkeit und zwar sowohl für Privatpersonen als auch für öffentliche Einrichtungen und deren Angestellte.
Wissenschaft und Bildung fanden traditionell nur als Randthemen – oft unter dem Label so genannter Schranken – gesonderte Berücksichtigung sowohl in LUG (Gesetz betreffend das Urheberrecht an Werken der Literatur und der Tonkunst) und KUG (das auch als Kunsturheberrechtsgesetz bekannte Gesetz betreffend das Urheberrecht an Werken der bildenden Künste und der Photographie) als Vorgänger des heute geltenden Urheberrechtsgesetzes (UrhG), welches 1965 formuliert wurde und am 1.1.1966 in Kraft trat.[1] Es blieb viele Jahre eine Orchidee unter den Gesetzessammlungen. Es gab zwar einige Änderungen über die Jahre; die Blütezeit der Novellierung brach jedoch erst im 21. Jahrhundert unter den ersten Erschütterungen von Verwertungskonzepten durch das digitale Kopieren und vor allem den Austausch der Kopien über digitale Kommunikationsnetze an. Es gibt Stimmen, die behaupten, das Urheberrecht spiele in Sachen Lobbying inzwischen in der Ersten Liga, national wie auch auf europäischer Ebene.
Europäische Leitlinien für nationale Gesetze
Maßgeblich für den frischen Wind im deutschen Urheberrecht war eine EU-Richtlinie aus dem Jahr 2001. Diese trägt den sperrigen Titel „Richtlinie 2001/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2001 zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte in der Informationsgesellschaft” [2]. Eingeweihten ist sie als InfoSoc-Richtlinie oder auch als Copyright-Direktive bekannt. Mit dieser Richtlinie wurde der Urheberrechtsvertrag der WIPO (World Intellectual Property Organization) umgesetzt. Ziel war es, die nationalen Urheberheberrechtsgesetze so einander anzugleichen, also die jeweiligen nationalen Normen zu vereinheitlichen und vergleichbarer zu machen.
EU-Richtlinien sind nicht als solche gesetzlich bindend in den Mitgliedsstaaten, sondern müssen zunächst in nationales Recht umgesetzt werden. In Deutschland wurde dies 2003 zum ersten und 2008 zum zweiten Mal in Angriff genommen. Die Ergebnisse waren der „Erste” und der „Zweite Korb”. Nach den Anhörungen im Spätsommer und Herbst 2010 wird derzeit der Referentenentwurf für den „Dritten Korb” erwartet. Wie man hört, ist zu erwarten, dass in diesem Fall aller guten Dinge nicht drei sein werden.
Wie es nun aber so ist mit derartigen juristischen Rahmenwerken, zeigt sich der Transfer nicht immer frei von Komplikationen. Rechtsvergleichende Studien der letzten Jahre machen deutlich, dass die Auslegung der Richtlinie zu unterschiedlichen Ergebnissen führt. Was nach der Novellierung beispielsweise in den Niederlanden erlaubt ist, kann in Deutschland dennoch untersagt sein.
Für Bildung und Wissenschaft und damit für Archive und Bibliotheken sind vor diesem Hintergrund besonders die „Schranken” des Urheberrechts interessant, das heißt Ausnahmen von der übergeordneten Maxime, dass die UrheberIn bzw. RechteinhaberIn immer um Zustimmung für sämtliche Verwertungen und Nutzungen gebeten werden muss und ggf. vergütet werden soll.
Exklusive Liste von optionalen Ausnahmen
Die niederländische Rechtswissenschaftlerin Lucie Guibault [3] nennt als Beispiel für die unterschiedliche Rechtslage trotz InfoSoc-Richtlinie die Zusammenstellung von digitalen „Kurspaketen”, worunter Seminarunterlagen und Anthologien fallen. In den Niederlanden ist die öffentliche Zugänglichmachung solcher für Unterrichtszwecke individuell geschnürter Pakete mit weniger Komplikationen verbunden als in Deutschland, wo E-Learning-Materialien zum Teil noch immer ein heißes Eisen darstellen.
Die Richtlinie listet mögliche Schrankenbestimmungen zwar auf. Deren Umsetzung ist jedoch nicht obligatorisch. Vielmehr obliegt es den nationalen Gesetzgebern, welche der genannten möglichen Schranken implementiert werden. Als Resultat ist eine Diskrepanz der europäischen Urheberrechtsgesetze festzustellen [vgl. 3], welche gerade nicht dem Ziel der Richtlinie entspricht – dieses lautete ja nicht umsonst „Harmonisierung der europäischen Urheberrechtsgesetze”.
Ein anderes Problem – zumindest für den Bereich Wissenschaft und Bildung – liegt in der Abgeschlossenheit des Schrankenkataloges: Nationale Gesetzgeber können lediglich jene Schrankenregelungen festschreiben, die so auch in der Richtlinie angelegt wurden. Darüber hinaus können keine Ergänzungen, d. h. nicht in der Direktive angelegte Schranken, vorgenommen werden. Diese fehlende Flexibilität erweist sich vor dem Hintergrund der sich kontinuierlich entwickelnden technischen Neuerungen als wenig zeitgemäß.
In der Wissenschaft ist dies häufig kaum bekannt. Entsprechend unkoordiniert zeigt sich die Interessenvertretung von Seiten der Wissenschaft. Ein Bewusstsein stellt sich meist erst dann ein, wenn die eigene wissenschaftliche Arbeit mit den rechtlichen Regelungen kollidiert.
Für WissenschaftlerInnen und andere in Bildung und Wissenschaft Tätige ist demnach der Austausch mit europäischen KollegInnen über einerseits nationale Umsetzungen der Richtlinien und andererseits über – aus ihrer Perspektive – Unzulänglichkeiten und Mängel der Richtlinie, die als limitierend für die tägliche Arbeit wahrgenommen werden, mehr als notwendig.
Das Netzwerk
Im November 2008 kamen Mitglieder der Wissenschaftsakademien aller EU-Staaten zu einem Workshop in der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin zusammen. Unter dem Titel „Copyright Regulation in Europe – An Enabling or Disabling Factor for Science Communication” diskutierten die TeilnehmerInnen über Schrankenregelungen, Open Access, Wissenschaftskommunikation sowie das im Juni 2008 von der EU vorgestellte Grünbuch „Copyright in theKnowledge Economy” [4]. Am Ende des Workshops herrschte Einigkeit darüber, dass es einer intensivierten Zusammenarbeit bedarf:
„To this purpose we believe that there is a need for coordinating existing European interest groups and initiatives working towards a copyright in the public interest. The voice of science and education will only be heard if and when it is legitimized by as many science organizations and individual scientists as possible.” [5]
Und so wurde das Netzwerk ENCES (European Network on Copyright in Support of Education and Science) mit dem Ziel gegründet, eine kommunikative Plattform aufzubauen, die den Austausch auf europäischer Ebene mit KollegInnen – RechtswissenschaftlerInnen sowie anderen in Bildung und Wissenschaft Tätigen, die sich in ihrer Arbeit mit Urheberrecht auseinandersetzen müssen – ermöglicht.
Seit 2008 wurden ENCES-Workshops in Budapest und Amsterdam ausgerichtet. Hierbei kamen die europäischen Partner zusammen, um über Themen wie Open Access und Lizenzmodelle und die rechtlichen Bedingungen für Einrichtungen der Bildung und Wissenschaft zu diskutieren.[6] Zudem nahm ENCES bei einem Workshop zu Open Access der Universitätsbibliothek Tartu in Estland teil und wurde bei einem Treffen von UNICA (Network of Universities from the Capitals of Europe) in Lissabon präsentiert. Auf diese Weise wird die Bekanntheit von ENCES in der Wissenschaftsgemeinde und der Welt der Bibliotheken, Archive und Museen gesteigert sowie die Expertise des Netzwerkes an interessierte Institutionen vermittelt. [7]
Um die Arbeit des Netzwerkes zu verstetigen wurde im Sommer 2010 der Verein ENCES e.V. gegründet. Übergeordnetes Ziel ist es, WissenschaftlerInnen und Organisationen, die an urheberrechtlichen Fragen arbeiten, an einen Tisch zu bringen. Doch es geht nicht um die wissenschaftliche Erkenntnis allein. In einem größeren Kreis sollen europäische ExpertInnen und AnwenderInnen nach Möglichkeit spezifische Vorschläge erarbeiten, wie die EU-Richtlinie modifiziert werden soll, um den Anforderungen von Bildung und Wissenschaft gerecht zu werden bzw. sie so auszugestalten, dass Institutionen befähigt werden, ihre Aufgaben zu erfüllen. Dabei arbeitet ENCES vor dem Hintergrund der folgenden Annahmen:
„ENCES (European Network for Copyright in support of Education and Science) is an EU-wide network of organizations and individuals in science and education who share the view that copyright is a socially valuable construct and that the primary objective of copyright is to promote the progress of science, education, and culture as public goods.
ENCES' basic assumption is that knowledge and information in its digital form should be made available to everyone from everywhere and at any time under fair conditions. This is particularly true in science and education, where access to knowledge and information is indispensable.” [8]
Information und Wissen, so der Konsens des Netzwerks, sollen allen Mitgliedern der Gesellschaft mit möglichst wenigen Einschränkungen zugänglich sein. Um dies voranzutreiben steht nicht zuletzt Lobbyarbeit bei der EU auf der Tagesordnung. Immerhin sind die kommerziellen Verwerter wissenschaftlicher Erkenntnisse dort längst präsent. Die Perspektive von Wissenschaft und Bildung ist allerdings bisher wenig vertreten.
Der nächste ENCES-Workshop findet am 27. Mai 2011 in London statt und wird zusammen mit der British Library ausgerichtet. Schwerpunkt sind die derzeitigen Verhandlungen zu Änderungen der Urheberrechtsgesetze in Deutschland, den Niederlanden, Belgien, Irland und im Vereinigten Königreich.
ENCES steht allen offen – sei es als Netzwerkpartner oder als Vereinsmitglied. Bei Interesse kontaktieren Sie uns über info@ences.eu, wir freuen uns über engagierte PartnerInnen!
Literatur
[1] Die Paragraphen des UrhG können unter http://www.iuwis.de/gesetz/urhg/ eingesehen werden.
[2] Directive 2001/29/EC of the European Parliament and of the Council of 22 May 2001 on theharmonisation of certainaspects of copyright and relatedrights in theinformationsociety, in Kraft seit 22.06.2001, einsehbar unter http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CELEX:32001L0029:DE:NOT.
[3] Guibault, Lucie: WhyCherry-PickingNeverLeads to Harmonisation: TheCase of theLimitations on Copyright underDirective 2001/29/EC. Jipitec Nr. 2, 1(2010), S. 55-66. Einsehbar unter http://www.jipitec.eu/issues/jipitec-1-2-2010/2603.
[4] Kommission der Europäischen Gemeinschaften (2008): KOM(2008) 446/3: Grünbuch; Urheberrechte in der wissensbestimmten Wirtschaft. http://ec.europa.eu/internal_market/copyright/docs/copyright-infso/greenpaper_de.pdf.
[5] Towards a European Networkfor Copyright in support of Education and Science (ENCES), Berlin, Nov 15th 2008, http://www.ences.eu/fileadmin/important_files/towards_a_foundation.pdf.
[6] Workshopdokumentation vgl. http://www.ences.eu/workshop-10-amsterdam/ bzw. http://www.ences.eu/workshop-10-budapest/.
[7] Vgl. Vortragsfolien und -transkriptionen unter http://www.ences.eu/documents/.
[8] http://www.ences.eu.
Michaela Voigt ist Masterstudentin der Bibliotheks-und Informationswissenschaft am gleichnamigen Berliner Institut der Humboldt-Universität und studentische Hilfskraft beim DFG geförderten Projekt "IUWIS. Infrastruktur Urheberrecht für Wissenschaft und Bildung". Seit Juni 2010 ist sie Vorstandsmitglied von ENCES e.V.