> > > LIBREAS. Library Ideas # 16

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Auswirkungen der Wende auf die Bibliotheksarbeit mit Kindern in der DDR. Ein Essay


Zitiervorschlag
Katharina Lachmann, "Auswirkungen der Wende auf die Bibliotheksarbeit mit Kindern in der DDR. Ein Essay. ". LIBREAS. Library Ideas, 16 ().


Das Land, in dem ich geboren wurde, existiert nun seit 20 Jahren nicht mehr. Etwa zwei Drittel der Kinder und Jugendlichen dort waren Nutzer in einer Öffentlichen Bibliothek. Ich selbst war zum Leidwesen meiner Mutter kein aktiver Leser und das, obwohl die Bibliothek quasi um die Ecke lag. Denn wenn man sich die Statistiken anschaut, hatte praktisch jeder Bürger in der DDR eine Bibliothek direkt um die Ecke. [Fn 1]

Doch macht die Bibliothek um die Ecke die Bürger auch zu Nutzern? Macht ein flächendeckendes Netz von Bibliotheken in einem Land dieses auch zur Bibliotheksnation oder gar zum Leseland?

Fakt ist, dass es einige Titel der Verlagsproduktion der DDR nur in den Bibliotheken gab. [Fn 2] Dies lag unter anderem an der geringen Höhe und den langen Abständen zwischen den einzelnen Auflagen. Ein Grund hierfür war der permanente Papiermangel, der eine ausreichende Produktion nicht zuließ. [Fn 3] Wollte man also eines dieser Bücher lesen, musste man zwangsläufig in die Bibliothek um die Ecke gehen. Da diese meist im Klassensatz anschafften, musste man nicht befürchten, kein Exemplar des begehrten Schmökers zu bekommen. Sollte man doch einmal Pech haben, gab es ja noch die Bibliothek der Nachbargemeinde. Womit wir beim Einheitsbestand wären.

Offiziell gab es keine vom Staat vorgegebene Erwerbungsstrategie, nach der Medien erworben wurden. Inoffiziell jedoch war das Verlagsprogramm der DDR und der sozialistischen Nachbarstaaten verpflichtend. [Fn 4] Bücher aus dem 'kapitalistischen' Ausland konnten – abgesehen von ideologischen Gründen – schon wegen der Devisenknappheit selten angeschafft werden, was besonders für die Wissenschaftlichen Bibliotheken in den 1980er Jahren zum Problem wurde. Die Öffentlichen Bibliotheken hatten, zumindest was die finanzielle und personelle Ausstattung betraf, selten Probleme. Sie bedienten aber auch ein anderes Klientel, das vor allem an Belletristik und weniger an wissenschaftlicher Literatur interessiert war.

In der DDR wurde der Erziehung der Kinder – natürlich im Sinne des Staates – große Beachtung geschenkt. Die Bibliothek wurde, neben ihrer Funktion als Kultureinrichtung, auch als Bildungseinrichtung verstanden und hatte sich somit auch der Zielgruppe Kind im besonderen Maße zuzuwenden. Damit dies geschehen konnte, gab es nicht nur speziell ausgebildetes Personal, sondern bestanden gesonderte Einrichtungen, die von den Bibliotheken für Erwachsene strikt getrennt waren. In diesem Sinn gab es, vor allem in den Städten und größeren Gemeiden, eigene Räumlichkeiten, in denen versucht wurde, sich – nicht nur – gestalterisch der Zielgruppe Kinder anzupassen.

Nach der Wende wurden viele dieser Kinderbibliotheken geschlossen oder in kompakter Form in die Erwachsenenbibliotheken integriert. Da eine Vielzahl der Bestände plötzlich nicht mehr relevant war und makuliert wurde, hätte sich die Schließung an sich nicht negativ auswirken müssen. Vielmehr bedurfte es eines entsprechenden Konzept, das sowohl die Quintessenz der bibliothekarischen Ansätze der DDR und der BRD vereint hätte, um optimale, kindgerechte Abteilungen in den Öffentlichen Bibliotheken schaffen zu können. Jedoch, war die Zeit für ein umfassendes Konzept im äußerst schnellen und dynamischen Prozess der Wiedervereinigung nicht vorhanden. Denn kaum ein Jahr nach dem Fall der Berliner Mauer erfolgte die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten. In diesem Prozess erschien das Einfachste zu sein, das System der BRD über das des Ostens zu stülpen. In der Konsequenz spürten die Öffentlichen Bibliotheken der neuen Bundesländer den Druck des Wettbewerbs und finanzielle Engpässe. Eine Vielzahl von Einrichtungen wurden geschlossen, da die Öffentliche Bibliothek plötzlich von einem Muss zu einem Kann in den Kommunen geworden war. Und eines der ersten Opfer war die konsequente Teilung zwischen Kinder- und Erwachsenenbereichen, die in einer Einrichtung vereinigt wurden.

Die Kinderbibliotheken der DDR hatten ähnliche Probleme nach dem Mauerfall wie alle Öffentlichen Bibliotheken. Es fehlte an Geld, um den Bestand zu erneuern und die Räumlichkeiten zu modernisieren. Gleichzeitig mussten die Mitarbeiter miterleben, wie sich die Wertigkeiten verschoben. Plötzlich lag das Hauptaugenmerk nicht mehr auf der Öffentlichen Bibliothek, sondern auf die Wissenschaftliche Bibliothek, was die Abschlussberichte der Bund-Länder-Arbeitsgruppe zeigen. [Fn 5] Schnelle Hilfe bezog sich hier vor allem auf die Wissenschaftlichen Bibliotheken; die Öffentlichen Bibliotheken waren sich meist selbst überlassen – wenn sie denn die Wende überstanden.

Die allgemeine Bibliotheksarbeit in der DDR zeichnete sich durch zahlreiche Veranstaltungen, die es natürlich nicht nur für Kinder gab, aus. Ein Beispiel hierfür war die Woche des Buches, die jedes Jahr im Mai mit zahlreichen Lesungen von Autoren stattfand. Lesungen fanden jedoch nicht nur in der Woche des Buches statt, sondern waren fester Bestandteil der Bibliotheksarbeit. Für Kinder gab es Vorlesetage und Wettbewerbe, bei denen ein speziell auf die Zielgruppe zugeschnittenes Programm, mit einem Motto, nach dem die Literatur ausgewählt wurde, stattfand. Viele dieser Aktionen wurden – gerade bei der äußeren Gestaltung – durch das Engagement der Bibliothekare getragen. Neben der formalen Ausgestaltung engagierten sich die Bibliothekare oft darüber hinaus, was sich bspw. in selbst gebackenen Kuchen zeigte; investierten also viel Mühe und Zeit in die Umsetzung der Veranstaltungen. Der Kuchen mag zwar banal klingen, bot jedoch für viele Kinder einen Anreiz und den Bibliothekaren die Möglichkeit, in einen nicht fachlichen Dialog mit den kleinen Nutzern zu treten, um so ganz nebenbei deren Interessen heraus zu finden.

Diese und ähnlichen Veranstaltungen für Kinder waren nicht der einzige Garant für die guten Nutzerzahlen bei dieser Zielgruppe. Alle Schüler der Klassen 2, 5 und 8 der DDR mussten nach Vorgabe der Lehrpläne die Bibliothek besuchen. So wurden in 40 Jahren DDR ganze Schülerströme durch die Bibliothek gelotst, mit dem Zweck, ihnen im Anschluss einen Bibliotheksausweis auszustellen.

Die Führungen selber waren auf die jeweiligen Altersgruppen zugeschnitten, das heißt die größte Aufmerksamkeit lag dabei auf dem Bestand für die jeweilige Zielgruppe. Jedem Schüler der 8. Klasse wurde ein guter Überblick über den Bestand gegeben und für die selbstständige Nutzung vorbereitet. Zur Organisation dieser Führungen erfolgte eine enge Zusammenarbeit zwischen den Schulen und dem zuständigen Bibliothekspersonal. Eine erzwungene Partnerschaft, die aber über die Jahre funktionierte. Nach der Wende entfiel der Zwang für die Schüler.

Grob betrachtet war die Bibliotheksarbeit mit Kindern in der DDR durch Zwang und Veranstaltungen geprägt. Ein Konzept, was durchaus aufging. Mit den Führungen im Rahmen des Schulunterrichts bringt man, wenn auch vielleicht nur einmal, zumindest auch diejenigen jungen Menschen in die Einrichtungen, die diese sonst nie besuchen würden. Nebenbei bemerkt war die Nutzung der Öffentlichen Bibliothek für alle Personen kostenlos, was in der BRD in den 1980er Jahren keine gängige Praxis mehr war, und für die Nutzung den entsprechenden Anreiz gab. [Fn 6]

Welche Schlüsse kann man aus der bibliothekarischen Praxis der DDR für die gegenwärtige Bibliotheksarbeit mit Kindern ziehen?

Eine Kombination zwischen attraktiven Veranstaltungen und den von den Schulen mitgetragenen Führungen sind durchaus sinnvoll, was heutzutage von vielen Bibliotheken, aber nicht flächendeckend, angeboten wird. Sind die Kassen knapp, leidet jedoch meist gerade diese Form der Öffentlichkeitsarbeit, obwohl die Mitarbeiter oft engagiert und hoch motiviert sind. Diese Kombination sollte aber wieder fester, flächendeckender Bestandteil der Bibliotheksarbeit werden, da es allen Schichten der Bevölkerung einmal einen Einblick in die Einrichtung Bibliothek bietet kann.

Positiv erwies sich, was nicht erhalten wurde, die Trennung zwischen Kinder- und Erwachsenenbibliothek. Das Personal war nicht nur auf die jeweiligen Zielgruppen eingestellt, sondern auch für diese speziell ausgebildet und musste nicht ständig zwischen den Bedürfnissen zweier unterschiedlichen Benutzergruppen hin und her schalten. Der Bestand war nicht nur zugeschnitten, sondern jede Altersgruppe fand die gleiche Beachtung. Betritt man heute eine Öffentliche Bibliothek, gibt es zwar diesen Bestand noch, doch variiert die Größe stark. Hier ist vor allem die Größe der Einrichtung entscheidend und welcher finanzielle Rahmen dieser zur Verfügung steht.

Von dem einstigen Bibliotheksnetz der DDR ist heute eher ein Flickenteppich geblieben, der Ost und West mittlerweile vereint. Die gemeinsamen gleichen finanziellen und personellen Probleme prägen die Öffentliche Bibliothekslandschaft. Was bleibt, ist – für noch einige Jahre – die Chance auf Personal zurückzugreifen, welches sich nicht nur auf Kinderbibliotheken spezialisiert hat, sondern in diesem Bereich eine spezielle fachliche Ausbildung genossen hat.

Wenden wir uns zum Abschluss noch einmal der Ausgangsfragestellung zu: Macht ein flächendeckendes Netz von Bibliotheken ein Land zur Bibliotheksnation oder zum Leseland?

Prinzipiell hat jeder die Möglichkeit eine Bibliothek aufzusuchen. Sind die Angebote nicht transparent, werden sie nicht genutzt. Die Einrichtungen in der DDR konnten durch ihre gute Öffentlichkeitsarbeit Kinder als Nutzer binden und begeistern.

Eine nach der Wiedervereinigung entstandene Studie zum Leseverhalten, [Fn 7] zeigt, dass 12% mehr Bürger der DDR die Bibliothek nutzten als es in den alten Bundesländern der Fall war. Dies begründet sich vor allem damit, dass die Bibliotheken, besonders in kleinen Gemeinden, die einzige kulturelle Einrichtung waren. Gleichzeitig war der Anspruch, den die Nutzer an die Einrichtung gestellt haben, wesentlich höher. Es war zwar eine geringe Titelbreite, die in den Verlagen der DDR im Vergleich zur BRD erschien, jedoch wurden hier eine Vielzahl von Lizenzdrucken internationaler Standardwerke veröffentlicht [Fn 8], die die Nutzer lockten. Diese kamen vielfach nicht in den Buchhandel und waren daher nur in der Bibliothek zu bekommen. Die höhere Nutzung der Einrichtung erklärt sich also durch die Mischung von nicht im Handel verfügbarer Literatur und der Ausgestaltung der Bibliothek zum kulturellen Zentrum der Gemeinde.

Um auf die aufgeworfene Fragestellung mit ja oder nein antworten zu können, müssen mehrere Faktoren berücksichtigt werden: die allgemeine Bildungspolitik eines Landes, der allgemeine Bildungsstand, die Art des Bibliotheksangebotes sowie die Höhe der finanziellen Zuwendungen. Das Erfolgsrezept der Bibliotheken der DDR war also nicht die gute Öffentlichkeitsarbeit, sondern die Tatsache, dass sie in den meisten kleinen Gemeinden das kulturelle Zentrum bildeten.

Es kann heute natürlich nicht pauschal gesagt werden, dass die Bibliothek nicht mehr das kulturelle Zentrum einer Gemeinde bildet oder bilden kann. Genauso wenig kann eine allgemeine Aussage getroffen werden, welche Aspekte der Bibliotheksarbeit der DDR in die heutige Arbeit unbedingt übernommen werden sollten. Hier muss bedacht werden, dass die DDR ein zentralistisch aufgebauter Staat war, so dass sich viele Dinge, wie zum Beispiel die in den Lehrplänen verankerten Klassenführungen, nicht genau so übernehmen lassen. Übernehmen heißt in diesem Fall auch immer Aufarbeitung und Analyse der Vergangenheit. Meiner Meinung nach steht man aber bei dieser Aufarbeitung von 40 Jahren DDR noch am Anfang, so dass eine pauschale Aussage darüber, was in die heutige Arbeit integriert werden muss oder kann, nicht getroffen werden kann.


Fußnoten

[1] 1988 gab es etwa 18.000 Öffentliche Bibliotheken, vgl. Alfred Pfoser: Zur Geschichte der öffentlichen Bibliotheken in Österreich. Wien, 1995. S. 30. [zurück]

[2] Vgl. Kasch, Petra: Der Aufbau öffentlicher Bibliotheken nach 1989 in den neuen Bundesländern: kultureller Verlust und Suche nach einer neuen Identität?. Berlin, 2008. S. 11. oder Falkenhagen, Andreas: Bibliotheken im Wandel: Das Öffentliche Bibliothekswesen der ehemaligen DDR zwischen November 1989 und Dezember 1990. Darstellung und Bewertung anhand der Fachpresse. Hausarbeit zur Prüfung für den Dienst als Diplom-Bibliothekar, 1992. S. 15. [zurück]

[3] Göhler, Helmut: Alltag in öffentlichen Bibliotheken der DDR: Erinnerungen und Analysen.... – Bad Honnef, 1998. S. 166. [zurück]

[4] Die letzten Bestaqndsrichtlinien sind 1986 erschienen. Vgl. Schurzig, Edith: Die Bestandsrichtlinie für die Jahre von 1986 bis 1990 und ihre Anwendung in den Staatlichen Allgemeinbibliotheken. Berlin: Zentralinst. für Bibliothekswesen, 1986. [zurück]

[5] Hirsch, Michael: Abschlußbericht 1990 - 1992 : Empfehlungen und Materialien / Hirsch, Michael; Jammers, Antonius. Berlin : Dt. Bibliotheksinst., 1993. (Dbi-Materialien ; Bd. 126). [zurück]

[6] Vgl. Detlef Gacek: Zum deutschen Charakter des Bibliotheksbenutzungsrecht : Eine juristische Betrachtung. In: Zentralblatt für Bibliothekswesen. 156 (1990) 3, S. 113–117. S. 116. [zurück]

[7] Leseverhalten in Deutschland 1992/93: Repräsentativstudie zum Lese- u. Medienverhalten d. erwachsenen Bevölkerung im vereinigten Deutschland / Stiftung Lesen. Mainz, 1993. [zurück]

[8] Vgl. ebd., S. 9. [zurück]