Mit der Monographie von Christian Stegbauer widmet sich im deutschsprachigen Raum erstmals und umfassend eine sozialwissenschaftliche Studie dem Phänomen der Wikipedia. So ist denn auch der Ausgangspunkt des Buches eine Defizitdiagnose: Bislang bringt sowohl die stete Zunahme als auch der wachsende Erfolg von Open-Content-Produktionsgemeinschaften im Web 2.0 Sozialwissenschaftler in Erklärungsnöte und stellt gleichermaßen die Fruchtbarkeit soziologischer Erklärungsansätze für die Entstehung kollektiver Güter oder ehrenamtlichen Engagements zur Disposition. Zugleich geht Stegbauer verschiedenen Mythen der Wikipedia nach und zeigt, dass das Freiwilligenprojekt, welches anfangs noch jeden willkommen geheißen hat, sich aber zunehmend des anarchischen Charakters entledigt, indem es eine Führungselite ausbildet, die mittlerweile die Geschicke der Wikipedia leitet und sich gegenüber Neulingen verschließt.
Im theoretischen Teil des Buches nutzt der Autor die Wikipedia als Prüfstein, an welchem die Aussagekraft soziologischer Erklärungen für Kooperation gemessen wird. Er versucht zunächst aufzuzeigen, dass sowohl individualistische Positionen wie der Rational-Choice-Ansatz und die darauf basierenden Theorien kollektiven Handelns, welche Handlungen subjektiven Motiven und Interessen zuschreiben, als auch strukturalistische Positionen, die Handeln durch das Wirken von Strukturen wie beispielsweise Werte erklären, die Beteiligung an der Wikipedia nicht ausreichend erklären können. Dies dient ihm als Begründung, um eine relationale Perspektive einzuschlagen, die zwischen beiden Positionen vermitteln sowie die Interdependenzen zwischen Mikro- und Makroebene berücksichtigen soll. Fündig wird er bei Harrison Whites relationaler Soziologie. Ihr zufolge wird Kooperation als dynamisches Zusammenspiel individueller Präferenzen und struktureller Rahmenbedingungen begriffen. Subjektive Einstellungen und Ziele sind nicht per se gegeben, sondern entwickeln sich aus dem jeweiligen spezifischen Beziehungsgefüge in einem Netzwerk, der sogenannten positionalen Struktur. Der Vorteil der relationalen Soziologie von White liegt Stegbauer zufolge darin, dass sie die Analyseperspektive um eine zwischen Struktur und individuellem Handeln vermittelnde Meso-Ebene erweitert und es ihr damit erlaubt, den Wandel von individuellen Einstellungen und der organisationalen Struktur der Wikipedia in den Blick zu nehmen. Im Unterschied zu individualistischen Handlungstheorien resultieren also die Handlungen der Akteure aus der Positionierung in einem Netzwerk.
Der empirische Teil des Buches dient der Erprobung der relationalen Perspektive als Erklärung der Bedingungen und des Zustandekommens von Kooperation in der Wikipedia. Die primär netzwerkanalytisch angelegte Studie stützt sich dabei auf ein breitgefächertes Datenmaterial: Stegbauer untersucht die Entwicklung von hoch frequentierten Diskussionsseiten und deren Artikel, Portale, Benutzerseiten und realweltliche Stammtisch-Treffen der Wikipedianer. Angereichert werden diese Daten durch qualitative Interviews mit Aktiven. Indem er den verschiedenen Foren der Kommunikation innerhalb der Wikipedia Rechnung trägt, gelingt es Stegbauer, ein differenziertes Bild der Strukturierungsprozesse zu zeichnen und somit Einblicke in die Selbstorganisation der Online-Enzyklopädie zu geben.
Die Studie gelangt zu zwei grundlegenden Erkenntnissen, die das öffentliche Bild der Wikipedia als egalitäres, gesellschaftsutopisches Projekt zu revidieren vermögen. Entgegen des anfänglichen Anspruchs des Projekts, jedermann an der Wissensproduktion zu beteiligen, beobachtet Stegbauer einen Wandel der egalitären Ursprungsideologie hin zu einer Produktideologie, welche mit veränderten Zielen einhergeht: Die Wikipedia wird nun als Marktteilnehmer wahrgenommen, der in Konkurrenz zu anderen Online-Enzyklopädien steht. Statt der prinzipiellen Beteiligung aller ist die Qualität der Inhalte nun oberstes Ziel der Organisation, an dem die Leistungen der Akteure und des Projektes gemessen werden.
Des Weiteren gibt Stegbauers Studie detailliert Einblick in die interne Organisation der Wikipedia und räumt mit dem Mythos eines anarchischen Handlungsraumes auf: Durchdrungen von Verfahren und Prozeduren, wächst der Bereich der Selbstorganisation weitaus stärker als der der Artikel. Auch die interne Differenzierung schreitet voran und führt zur Ausbildung von formalen und informellen Positionen. Diese verfestigen sich und lassen eine Zentrum-Peripherie-Struktur entstehen, bei der wenige zentrale Akteure aufgrund hoher Aktivität und eines starken sozialen Zusammenhalts über große Entscheidungsgewalt beispielsweise in der Aushandlung der Artikelinhalte verfügen. Die zentralen Positionen erscheinen dabei zeitlich relativ stabil und weisen Schließungstendenzen auf. Sind diese jedoch in einzelnen thematischen und organisatorischen Bereichen der Wikipedia zu lokalisieren, kann die formale Position des Administrators als eine zentrale Führungsinstanz gelten. Auch wenn laut Selbstbeschreibung Administratoren lediglich über erweiterte Rechte aber nicht über mehr Macht verfügen, demonstriert Stegbauer, dass diese qualitativ und quantitativ das Geschehen in der Wikipedia bestimmen und sich zu einem geschlossenen, durch Kooptation reproduzierenden Führungszirkel formieren. Funktional gesehen erscheint solch eine Entwicklung notwendig, da formale Organisationsstrukturen fehlen. Jedoch steht die oligarchisch anmutende Organisation augenscheinlich im Widerspruch zur nach außen vertretenen Ideologie. Diese Diskrepanz führt letztlich auch im Inneren der Wikipedia zu einer Spaltung: Periphere Akteure können aufgrund enttäuschter Erwartungen und fehlender Kompetenzzuschreibung das Projekt schnell verlassen.
Stegbauer gelingt es, anhand vieler Fallanalysen auf Strukturierungsprinzipien in der Selbstorganisation der Wikipedia aufmerksam zu machen. Die Vorstellung von der Wikipedia als einer Masse gleichberechtigter Nutzer muss mit dem wachsenden Erfolg und Zuspruch des Projekts schwinden: Nur die Herausbildung von Verantwortungs- und Entscheidungsträgern scheint die enorme Komplexität des Handlungsraumes bewältigen zu können. So ist die prüfende Gegenüberstellung von Ideal und Realität der Wikipedia die eigentliche Leistung dieses Bandes, der zeigt, dass hierarchische Strukturen trotz egalitärer Ansprüche, also unintendiert, entstehen.
Das netzwerkanalytische Vorgehen erweist sich dabei als nützlich, um diese Strukturen zu ermitteln. Auch die Prozesse der Entstehung, die Bedingungen und die Folgen dieser Schließungen können so von Stegbauer an einzelnen Fällen aufgezeigt werden. Die relationale Perspektive bleibt jedoch an der Stelle stehen, wo es um die Bedeutung sowie die konkrete Herstellung und Verfestigung von Strukturen auf der Handlungsebene geht. So kann die netzwerkanalytische Vorgehensweise Stegbauers zwar Ordnungsmerkmale aus Beziehungen ableiten sowie Verhalten erklären. Jedoch wird ein wichtiger Aspekt der Relation zwischen Handeln und Struktur ausgeklammert: Sowohl der Einfluss von Normen auf das Handeln als auch die kommunikative Herstellung der Verhaltenskonventionen werden in der Untersuchung nicht berücksichtigt. Entgegen der Auffassung Stegbauers bedarf daher dessen strukturalistische Perspektive einer handlungstheoretischen Ergänzung, die die kommunikative Produktion von Strukturen zu ergründen sucht.
Als Beitrag zu einem relativ neuen Forschungsgebiet liefert Stegbauers Studie somit erste tiefergehende Erkenntnisse über die Selbstorganisation einer Online-Produktionsgemeinschaft, ist aber auch Anlass für weitere Forschungsfragen. Sie kann daher sich mit dieser Materie beschäftigenden Geisteswissenschaftlern nahe gelegt werden, auch wenn den Darstellungen sowohl der theoretischen Überlegungen als auch der empirischen Ergebnisse aufgrund des sprachlich und argumentativ teilweise holprigen Aufbaus nicht immer leicht zu folgen ist.
Linda Groß ist Medienwissenschaftlerin und promoviert am Institut für Wissenschafts- und Technikforschung an der Universität Bielefeld über die Selbstorganisation der Wikipedia.