An einem frostigen Montagvormittag im März 2006 stapften zwei gut verschnürte junge Menschen durch den nördlichen Teil des Schlossparks Frederiksberg Have in Kopenhagen und suchten die Copenhagen Business School. In ihren kalten Fingern hielten sie einen gelb-blauen Handzettel mit einem schönen Schema, das fünf in einander gedrehte Rechtecke zeigte, deren Ecken mit so illustren Begriffen wie „utopia“, „3rd culture“, „metaphysics“, „spirituality“, „religion“, „politics“, „art“, „science“, „hidden“, „nothing“, etc. eine abstrakte Fassung der Gesamtheit der Welt darzustellen schien. Darüber prangte die Überschrift „Cybersemiotics: Why information is not enough“ und innenseitig Datum, Adresse und Anlass. Es handelte sich um die Verteidigung einer Dissertation, die der dänische Biologe, Soziokybernetiker und Cybersemiotiker Søren Brier vor mittelgroßem Auditorium bei Dirk Baecker (Soziologe, damals Witten/Herdecke, heute Zeppelin University Friedrichshafen) und John Deely (Philosoph und Semiotiker, Center for Thomistic Studies of the University of St. Thomas (Houston)) abzulegen hatte.
Die beiden warm eingepackten jungen Menschen waren nicht ganz zufällig in Besitz des Ankündigungszettels und nach Kopenhagen geraten: Die kurz zuvor erschienene Themenausgabe von LIBREAS, die sich „Philosophische Fragen in Bibliothek und Bibliothekswissenschaft“ zum Gegenstand nahm, enthielt einen durchaus fordernden und hochspannenden Artikel mit dem Titel „The foundation of LIS in information science and semiotics“.(http://libreas.eu/ausgabe4/001bri.htm) Bei den beiden Besuchern des intellektuellen Spektakels aus semiotischen und systemtheoretischen Angriff und einer cybersemiotischen Verteidigung in der Tuborg Lecture Hall handelte es sich um LIBREAS-Redaktionsmitglieder, die angestachelt durch den Beitrag weiter in die Tiefe des Gesamtzusammenhangs vordringen wollten.
Ehrlicherweise muss man zugeben, dass das Unterfangen an diesem 06. März 2006 nicht in Gänze gelang. Es fehlte im Zeitpunkt die Detailkenntnis zu George Spencer-Browns Gesetzen der Form genauso wie eine ausreichend breite Bekanntschaft mit dem Konzept der Firstness bei Charles Sanders Peirce. Die informationswissenschaftliche Dimension wäre eine gewesen, in der der thematische Anschluss möglich schien, nur hatten die beiden Gutachter – John Deely als Semiotiker und Dirk Baecker als Soziologie – andere Schwerpunkte für ihr Kreuzverhör im Auge. Wenn man aber die Bibliotheks- und Informationswissenschaft als interdisziplinär orientiert verstehen möchte, bot dieser Nachmittag in Kopenhagen den Einblick in eine Fachdiskussion, von der man in hiesigen Breiten leider nach wie vor nur träumen kann. Allein schon die Begegnung mit diesem erweiterten Horizont, in dem Vieles ausstrahlte und Manches für die in diesem Fall unbedarft zu nennenden Besucher im Verborgenen blieb, leuchtet als Schlaglicht auch dreieinhalb Jahre später manchmal in die LIBREAS-Redaktion und ihr wissenschaftliches Verständnis, zumal mittlerweile ein oder zwei Facetten klarer wurden.
Entsprechend groß waren Spannung und Erwartung, als die Buchausgabe von Cybersemiotics – Why Information Is Not Enough! (Toronto: University of Toronto Press, 2008) auf dem Schreibtisch landete – vielleicht vergleichbar mit der Aufregung des deutschen Feuilletons angesichts der erscheinenden deutschen Ausgabe von David Foster Wallace’ „Infinite Jest“ im August 2009. Und obschon Cybersemiotics nur ein Drittel des Umfangs von Wallace’ Tennis-Welt-Roman ins Regal bringt, fordert es vom Leser ebenfalls einiges an Hingabe und belohnt ihn andererseits durchaus für seine Ausdauer.
<Die Information auf der Kippe. Søren Brier weiß, warum sie allein nicht ausreicht und was hilft: die Semiotik.
Denn selbst wenn man Søren Briers “unified conceptual framework”, dessen Metaebene sich breitflüglig über Informations-, Geistes- und Sozialwissenschaften und eigentlich über das Zelt der diese maßgeblich grundierenden Bewusstseinsforschung („conciousness studies“) spannt, nur als überaus komplexes Diskussions- und Reflexionsangebot und nicht als allumfassende Erkenntnistheorie begreift, wird man zugeben müssen, dass der Wurf ausgesprochen originell und dazu auch noch ziemlich groß ausfällt. Der Titel deutet auf den Kern der Argumentation: Information ist nicht zureichend – und zwar um zu verstehen, was Verstehen eigentlich bedeutet. Um einen solch elementaren Bestandteil menschlichen Daseins auszuleuchten, geht es nicht anders, als das Problem vieldimensional einzukreisen und mit dem jeweils fruchtbarsten und stimmigsten aus allen Theoriewelten zu einer Essenz zu destillieren. Das Buch ist Ergebnis von zwanzig Jahren dieser Theoriebildung und entsprechend konzentriert.
„Information“ bleibt dabei ein zentraler Bestandteil. Aber nur einer unter vielen und in einer Form, die der Autor „protosemiotisch“ nennt und bezieht sich auf die erste der drei Ebenen menschlicher Kommunikation: Die zweite ist die semiotische, die dritte die soziale bzw. sozio-linguistische. (Vgl. S. 435)
Das Problem mit der Information ist die Reduktion der Kommunikation auf Information bzw. das Informationsverarbeitungsparadigma, das nicht zuletzt im Anschluss an die Shannon’sche-Weaver’scher Informationstheorie nicht selten recht restriktiv mechanistisch ausgedeutet wurde. Der Mensch und seine Weltwahrnehmung sind mehr als eine geradlinige ge- oder misslungene Übermittlung von Nachrichten. Wenn er schon eine Informationsverarbeitungsmaschine ist, dann eine biologische, sozial bzw. rückkopplungsabhängige und vor allem veränderliche. In den Körper als Sensorium schreiben sich sowohl in der konkreten wie auch in der übertragenen Form Informationen als Spuren hinein: „The ’flesh’ of any living system is permeated by signs. In humans ’the flesh’ is also permeated with language and culture.“ (S. 101) Die differenzierende Weltbetrachtung steht immer in Abgängigkeit von den Wahrnehmungs- und Erkenntnismöglichkeiten des jeweiligen Beobachters. Das Objektiv wird – so strich es auch Dirk Baecker in Kopenhagen heraus – ersetzt durch ein Konstruktiv.
Sprache und Kultur weisen den Weg, der dorthin führt, wo Warren Weaver in der Einleitung zur “Mathematical Theory of Communication” einst den Graben zog: zur Bedeutung. „In particular information must not be confused with meaning.“ (Shannon, Claude E.; Warren, Weaver, Urbana, Chicago: 1949, S. 9) Shannon und Weaver ging es allerdings von vornherein vorrangig um die technischen Aspekte. Sie harmonierten also vielleicht sogar mit einer protosemiotischen Deutung von „Information“, ließen dann aber unglücklicherweise doch wieder die hintere Pforte zur Semantik explizit offen, so dass sich die nächsten Generationen der Informationswissenschaft in Begriffsdiskussionen weiter damit auseinander setzen konnten, bis die emergenten Hypertextstrukturen des Internets als digitale Bibliothek und mehr noch virtuellem Sozialraum die Verständnisfelder tiefgründend umgruben. Während auf der einen Seite das quantitativ orientierte Verständnis von Information mit 10hoch13 Bit Informationsgehalt in der Library of Congress rechnete und auf der anderen Seite ein qualitativ gerichtetes Alltagsverständnis von Information bliebt, zieht die digitale Kommunikationskultur ganz unbeabsichtigt den Vorhang zur Seite, hinter dem die Betrachter auf einmal sowohl das eine wie das andere vorfinden. Die Verknüpfung mittels viereckiger Klammern in der Wikipedia ist vier Bytes groß, der Bedeutungsgehalt des erzeugten Zusammenhangs mitunter unmessbar.
In den 60 Jahren nach diesem informationswissenschaftlichen Ursatz von Claude Shannon und Warren Weaver hat sich die Wissenschaftswelt allerdings durch den Strukturalismus und den Poststrukturalismus, durch verschiedene systemtheoretische Ansätze und die Kybernetik zweiter Ordnung durchgearbeitet. Das Verständnis von Information als etwas, was in einem simplen Schema durch den Kanal zum Empfänger gelangt, ist danach tatsächlich vorrangig auf ein Thema für Nachrichten- und Übertragungstechnik zusammengeschnurrt. Wo man multidimensional in Rhizomen und zwischen Kanten und Knoten denkt, verschiebt sich die Perspektive zwangsläufig zu einem komplexeren Verständnis. Vom recht abstrakten, situativen (und nicht inhaltlich gemeinten) „information is a measure for one’s freedom of choice when one selects a message“ der mathematischen Kommunikationstheorie schritt man nicht unbedingt fort, sondern eher hin zu Gregory Batesons nicht minder abstraktem Ansatz, Information als „difference that makes a difference“ zu betrachten. Auch die systemischen Perspektiven nahmen den individuellen Akteur aus dem Geschehen – und die Information gleich mit. Als Ersatz fanden sich die Autopoiesis, Muster und „structural couplings“. Andererseits formulierte man die verhaltenswissenschaftlichen Erkenntnisse der Ethologie und entwickelte die Biosemiotik.
Selbstorganisation, Ethologie, Batesons Verständnis von „Information“, Heinz von Foersters 2nd-order Cybernetics – damit sind einige der Pfeiler genannt, mit denen Søren Brier sein Gesamtkonzept absteckt. Als weitere tragende Säulen rückt er die Peirce’sche Semiotik und Wittgensteins Sprachspiel-Konzept in das Gefüge der großen Theorieansätze, die ausführlich gewürdigt und wahrlich transdisziplinär zu dem cybersemiotischen Ansatz gefügt werden. Im Ergebnis mündet dieser doch mehr in eine allgemeine Kognitions- und Kommunikationstheorie, denn in ein konkret anwendbares Schema für „information and knowledge management design“. Man könnte auch sagen, dass sich die Vielfalt und die Gründlichkeit der Ansätze vor die Praktikabilität legen. In der Tat scheint Dirk Baecker recht zu behalten, wenn er meint, dass mit cybersemiotischen Modell erst eine Hälfte des Weges zurückgelegt wurde. Für das Feld der Bibliotheks- und Informationswissenschaft, das sich in Richtung der so genannten semantischen Netze verschiebt, wird mit dem cybersemiotischen Ansatz, wie er in Søren Briers Buch erscheint, zunächst einmal die Grundierung aufgetragen. Das Problem ist klar:
„[...] our major challenge in LIS now is how to map semantic fields of concepts and their signifying contexts into our systems in ways that move beyond the logical and statistical approaches that until now seemed the only realistic strategies, given available technology.” (S. 424)
Das Auftragen und Auszeichnen des eigentlichen Bildes muss aber noch folgen.
Der klassische Ansatz, geprägt durch die Autorität der Indexierer und der Klassifikatoren und ihren um eindeutige logische Geschlossenheit bemühten Systemen, wird spürbar durch soziale und – bewusst oder nebenbei – kollaborative Vernetzungsformen von Daten und Clustern im Hypertextsystem des WWW unterlaufen. Von den zwei Sprachspielen – dem starren der tradierten Wissensordnungen und dem dynamischen der impliziten und individualisierten Kommunikationswelten – bleibt bei der momentan Entwicklung der kommunikativen Praxen im Internet die sozusagen Hochsprache auf der Strecke, wenn Personomien, Folksonomien und andere websprachliche Sozio- und Dialekte die symbolische Ordnung des WWW dominieren. Das semantische Web ist für diese nicht als konzeptioneller Überbau denkbar, sondern nur als eine flexible Infrastruktur, die Anker ermöglicht, vielleicht sogar anbietet, insgesamt aber vor allem den Rahmen für die weitgehende Selbstorganisation auf der Symbol- und Bedeutungsebene stellt. Die spannende Überlegung ist dabei, ob und wie die menschlichen, also auch körperlich gebundenen Nutzer als soziale Wesen in einem offenen und flexiblen, sich weitgehend selbst formierenden, also in gewisser Form organischen Netzwerk von Symbolhorizonten interagieren.
Als perspektivisch hochinteressante Idee des Buches steht also die Frage, wie sich die biologischen, psychischen und sozialen Wurzeln von „Bedeutung“ verschieben und verändern, wenn digitale Kommunikationsräume Bestandteil oder sogar Hauptprojektionsfläche der sozialen Wirklichkeit werden. Ob man sich auf der Suche nach einer Antwort durch die vielfältigen Lektüren des cybersemiotischen Hauptwerks von Søren Brier graben möchte, hängt davon ab, wie weit man als Bibliotheks- und Informationswissenschaftler seinen disziplinären Rahmen steckt. Für ein differenziertes Verständnis der aktuellen Situation erhält man mit Cybersemiotics eine einzigartige Materialsammlung mit einer ganzen Palette durchdenkenswerter Ansatzpunkte.
"It's snowing on the […] map, not the territory […]" lässt David Foster Wallace eine der Hauptfiguren in seinem Infinite Jest panisch rufen. (S. 333) Was unseren Umgang mit Information und Bedeutung, mit den semantischen und semiotischen Verschiebungen in unserer digitalen Kommunikationspraxis angeht, glaubt man oft, als schneite es tatsächlich nur im digitalen Abbild der Realwelt. Was aber ist, wenn dieses Abbild zunehmend selbst als wirklich definiert wird? Wenn Kriterien wie innen und außen, fremd- und selbstreguliert, digital und analog, simuliert und real bei der menschlichen Kommunikation und damit sozialen Bedeutungsfindung und -organisation nicht mehr gegeneinander, sondern nur noch miteinander, als Hybridformen denkbar sind? Liest man Cybersemiotics offensiv vor diesem Hintergrund, dann zeigt es sich das Buch als Leitschrift für ein post-schematisches und durchaus auch post-funktionales Denken in einer Bibliotheks- und Informationswissenschaft, die mehr sein will als eine Ordnungslehre. Die erkennen will und erkennen muss. Die zeitgemäß ist.
Im Jahr 2009 wird dies fast noch spürbarer als an diesem Märzmontag 2006, als zwei junge vom cybersemiotischen Schlagabtausch durchgerüttelte Bibliothekswissenschaftler in dicken Jacken aus dem Vorlesungsgebäude der Copenhagen Business School tatsächlich in den leichten Schneefall von Frederiksberg traten.